transArchitektur
Seite 2: Vom Fremden lernen
Exponentielles Wachstum bedeutet, daß die Vision des gegenwärtigen Moments die Tatsache des nächsten ist. Man ist daher genötigt zu erkennen, daß jetzt Architektur und Cyberspace nicht mehr nur in der Theorie verbunden sind, sondern bereits zu einem Bestandteil des jeweils anderen wurden. Wir müssen annehmen, daß die wagemutigsten Projektionen bereits verwirklicht wurden. Und zum ersten Mal in der Geschichte ist die Architektur übertragbar und schon zu einer Architektur-im-Cyberspace geworden. Unsere Institutionen haben sich schon ebenso wie unsere Identitäten dematerialisiert. Jeder von uns ist bereits zu einem Teilchenselbst geworden. Wir sind schon Cyborgs, wir leben schon in einer rhizomatischen Vielzahl von global vernetzten "Mindspaces".
Die Akzeptanz solcher Veränderung ist purer Pragmatismus. Es sind zwei Aufgaben zu lösen:
- man muß die Implikationen dieser Entwicklungen tiefergehend untersuchen, um den feinen Staub der auf uns einwirkenden Transformationen zu erkennen,
- und man muß versuchen, sich stärker auf die Zukunft zu konzentrieren, um den zusammenbrechenden Einfluß der Fiktion zu überwinden.
Die Architektur ist bereits in den Cyberspace abgewandert. Jetzt beginnt der Cyberspace, den realen Raum und die materielle Architektur zu erobern. Information und Interaktivität werden allgegenwärtig und der materielle Raum wird intelligent sein. Computerbildschirme, unsere gegenwärtigen Türen zum Cyberspace, werden wachsen, um alle Oberflächen und Volumen der Räume einzuschließen, in denen wir leben. Eine Geste in Tokyo wird eine Telegeste in Los Angeles sein. Eine einfache Anpassung der Architektur an diese Potentiale wird nicht ausreichen. Die Bereitstellung von Sensoren-/Effektoren-Paaren schafft ebensowenig schon eine Architektur wie das Aufeinanderstapeln von Ziegeln. Technik ist notwendig, aber sie genügt nicht.
Architektur entsteht aus einer Überschreitung des Notwendigen. Sie ist eine zusätzliche Leistung, die über die begrenzten Anforderungen hinausgeht und als Entschuldigung für die in jedem komplexen Bau steckende Leistung enthalten ist. Wenn die neuen Technologien durch Interaktivität und Vernetztheit charakterisiert sind, dann muß man lernen, wie man Interaktivität und Vernetztheit so einrichtet, das sie das Notwendige überschreiten. Nur die Türen offen zu lassen, damit wir hindurchgehen können, bringt noch keine Architektur hervor, wenn der Automatismus nicht den Akt des Durchschreitens erhöht und perfektioniert. Die Geschichte der Architektur ist voll von Portalen, die viel größer sind als ein Mensch. Derartige architektonische Ausdrucksformen haben viel mehr Funktionen als ihr Name verrät: eine "Tür" ist niemals nur eine Tür. Die architektonischen Ausdrucksformen verkörpern und symbolisieren Ideen und stellen zahlreiche andere menschliche Strukturen dar oder reflektieren diese.
Wenn wir eine traditionelle, nicht-mediale Architektur entwerfen wollen, dann zeichnen wir sie aufgrund einer millionenfachen Erfahrung. Wir sind mit den traditionellen Ausdrucksmitteln seit einer Jahrhunderte alten Praxis vertraut: Maßstab, Wahl des Materials und der Verfahren, Lage und Ausrichtung, Gewicht und Dauerhaftigkeit, Struktur und Nuance. Für die entstehenden Technologien besitzen wir keine entsprechenden Begriffe: Wie verbessert eine Robotertür nicht nur die Tatsache, eine Schwelle zu übertreten, sondern die Zeremonie? Wie setzen wir den Durchgang durch einen Hyperlink fort - nicht als Verzögerung bei der Übertragung von Daten, sondern als eine affektive Durchquerung?
Die Antworten auf solche Fragen müssen nicht aus der Architektur kommen, und die Antwort ist, wie die Mitglieder von Archigram wußten, vielleicht keine Architektur, wie wir sie normalerweise kennen. Jede Disziplin kann durch eine Reihe von Filtern betrachtet werden: Theorie, Praxis, Forschung, Produktion, Ausbildung. Technologische Innovation innerhalb und außerhalb einer bestimmten Disziplin setzt all dies voraus. Technologische Nachbarn durchdringen sich in den Produktions- und Konsumptionsweisen einer Disziplin. Gebäude stehen bereits unter dem Zwang, das Wissen zu enthalten, an das wir beim Design von Fahrzeugen und Medien gewohnt sind. Die technologische Möglichkeit, den Prototyp eines Flugzeugs vollständig im Computer zu entwerfen, übt einen Zwang auf die Architektur aus, denselben Leistungsgrad zu erreichen. Die Wirkung des Kinos als weltweite kulturelle Kraft fordert, auch wenn oder gerade weil sie auf der Aufhebung der Wirklichkeit durch Spezialeffekte beruht, die Architektur heraus, einen genauso mächtigen und beredten Ausdruck zu finden.
In den letzten fünfzig Jahren sind wir von der Programmierung der Computer durch die buchstäbliche Verknüpfung von Verbindungen zwischen Input und Output zum Gebrauch von Paradigmen einer höheren Sprache durch objektorientiertes Programmieren übergegangen. Simulatoren neuronaler Netzwerke ermöglichen es uns, auch das zu programmieren, wofür wir keine explizite Beschreibung besitzen, und Techniken des Künstlichen Lebens erlauben uns die Schaffung von Programmen, die sich zur erwünschten Lösung hin evolutionär entwickeln. Emotionale Programme und tragbare Computer befinden sich am Horizont und bringen die Technologie zum Körper und seinen Stimmungen. Wir stehen jetzt am Vorabend massiv verteilter Rechenkapazitäten von Supercomputern im Internet. Sie nutzen die astronomisch hohe Zahl von Prozessorzyklen, die jeden Moment verloren gehen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit von unseren Bildschirmen ablenken. Die von diesen Entwicklungen eröffneten begrifflichen und methodologischen Strukturen müssen über Kontexte, Disziplinen, Diskurse und Erkenntnistheorien hinweg transponiert und getestet werden.
Der technologische Zwang beschränkt sich nicht auf die Entwicklung innerhalb der industriellen Produktion. Die von uns geschaffene totale Informationsumgebung führt Ideen zusammen, die unter anderen Umständen einander fremd geblieben wären. "Lernen von Las Vegas" muß heute zu Lernen von der Software, der Hardware und dem Netzwerk werden. Jacques Attalis Behauptung über die prophetische Natur der musikalischen Produktion im Hinblick auf die Entwicklung einer daraus folgenden politischen Ökonomie muß auf das Verständnis der technologischen Entwicklung als einer Vorahnung der Organisation von Industrie und Gesellschaft erweitert werden.