DER STAR, DAS VIRTUELLE WESEN

Seite 2: Stufe eins: der montierte Star

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Am Anfang war die Werbung, und sie erweckte Tote zum Leben: Cary Grant, Humphrey Bogart, John Wayne und andere Stars aus Hollywoods klassischer Ära wurden per Computer auf die Fernsehschirme der Gegenwart gezerrt, um Reklame für Diät-Cola und ähnliches zu treiben.

Dank ihrer hohen Minuten-Budgets und ihrer im Vergleich zum Kino geringen Ansprüche an die technische Qualität sind TV-Werbespots zusammen mit Musikvideos die Schrittmachermedien für digitale Innovationen. In ihnen wird erprobt, was in 35 mm erst mit der nächsten oder übernächsten Computergeneration realisierbar wird.

Dieselben Verfahren der Einzelbildbearbeitung, Montage und Retuschierung, die es den Werbern erlaubte, Bogart & Co. mit gegenwärtigen Menschen und Produkten zu verkuppeln, erzeugte dann die frühen, derweil vielzitierten Beispiele digitaler Schauspielerführung im Kino: Wolfgang Petersen ließ für "In the Line of Fire" auf George Bushs Körper einen anderen Kopf pflanzen und Clint Eastwood an die Seite von John F. Kennedy zaubern - für rund vier Millionen Dollar, zehn Prozent der gesamten Produktionskosten von 40 Millionen Dollar. Und Robert Zemeckis bewegte kurz darauf in "Forrest Gump" die Ex-US-Präsidenten Richard Nixon, Lyndon B. Johnson und John F. Kennedy posthum zu Dingen, die sie im Leben nicht getan hatten.

Theo Cyberwave

So wundersam diese fiktiven Filmdokumente auf den ersten Blick anmuteten, hergestellt wurden sie in recht simpler und recht mühsamer Bastelei per Hand. Im Prinzip nämlich handelt es sich dabei um die digitale Kombination und Nachbearbeitung konventionell aufgenommener Szenen.

In der Fotografie ist dergleichen längst Routine. Ein Atelier in Los Angeles zum Beispiel hat sich die Rechte an rund 100 Filmfotos gesichert und zaubert die Kundschaft für ein paar Dollar auf die Kommandobrücke des Raumschiffs Enterprise oder in Scarlett O'Haras Schlafzimmer zum Tête-à-Tête mit Clark Gable. Dazu braucht es nicht mehr als einen PC und ein Programm wie "Photoshop".

Die Bearbeitung von Bildern, die das Laufen erlernt haben, erfordert natürlich nicht nur mehr Fleiß, sondern stellt auch größere technische Anforderungen. Das beginnt schon bei der Frage, wie Zelluloidszenen in den Computer kommen. Die direkte Aufzeichnung mit elektronischen Kameras fällt bis heute weitgehend als Möglichkeit aus. Die besten digitalen Exemplare kosten ein Vielfaches analoger Kameras, sind um einiges klobiger und liefern nur einen Bruchteil der Qualität.

Die Lösung dieses Problems, das Gerät, welches vor ein paar Jahren die Flut digitaler Bildbearbeitungen in Gang setzte, war der Solitaire Image Recorder, eine 70 000 Dollar teure Maschine, die eigentlich gebaut worden war, um Computertabellen für Geschäftspräsentationen auf Dias zu kopieren. Doch mit ihrer Hilfe lassen sich auch 35-mm-Szenen in Zahlenkolonnen und ohne Qualitätsverlust wieder zurück verwandeln.

Bleibt die Notwendigkeit, die so in den Computer transferierten Bilder - 24 pro Sekunde, 1440 pro Filmminute, was auf eine Datenmenge von rund 220 Gigabyte für eine durchschittliche Drei-Minuten-Szene hinausläuft -, mühsam per Hand bzw. Maus zu bearbeiten. Einzig bei einfachen Verbesserungen hält sich dieser Aufwand in bezahlbaren Grenzen.

Zum Hollywooder Alltagsgeschäft gehört es daher, am Monitor Seile zu löschen, an denen Stuntmänner hingen, ein aus Versehen ins Bild geratenes Mikrophon digital auszuradieren, einen trüben Himmel aufzuhellen und oder ihn mit einer Hubschrauberflotte zu füllen. Auch die Verschönerung und Verjüngung von Stars in kurzen Schlüsselszenen läßt sich auf diese Weise noch bewerkstelligen. Statt für eine Rückblende nach einem Lookalike passenden Alters zu suchen, beraubt man den Betreffenden halt am Computer seiner Falten und stattet ihn mit einer Haarpracht aus, die seinem Alter und der historischen Periode entspricht - geschehen etwa mit Clint Eastwood und Sean Connery.

Um jedoch fotorealistische Szenen komplett neu zu erzeugen, ist die Einzelbildmalerei "von Hand" recht unpraktisch, langwierig und vor allem zu teuer. So produziert, würde der digitale Doppelgänger von Schwarzenegger pro Sekunde mehr als der 15-Millionen-Dollar-pro-Film-Star selbst kosten.

Zu diesem Verfahren griff man deshalb in den vergangenen Jahren nur, wenn es gar nicht anders ging: wenn für kurze Sekunden abenteuerliche Stunts zu bestehen waren, die kein Mensch überleben würde, wenn ein Schauspieler während der Dreharbeiten starb - "The Crow" wurde nach Brandon Lees unzeitigen Tod am Computer gerettet - oder wenn historische Persönlichkeiten auftreten sollten.

An jeder der berühmten "gefälschten" Dokumentarszenen in "Forrest Gump" fummelten die Teams von George Lucas' Firma Industrial Light & Magic (ILM) denn auch acht, neun Monate herum, Pixel für Pixel winzige Details in der Körperhaltung und den Gesichtern der Präsidenten ändernd, damit die zu den neuen Worten paßten, die ihnen die Stimmenimitatoren in den Mund legten.

Das allerdings war 1993/94, nach digitaler Zeitrechnung vor einer mittleren Ewigkeit.

Stufe zwei: der animierte Star

Die Charaktere in so vielen Action-Spielfilmen sind heutzutage wenig mehr als Zeichentrickfiguren. Wo soll man also originelle Charaktere mit ihren allzu menschlichen Schwächen finden? In Zeichentrickfilmen natürlich.

Richard Corliss in "Time"

Inzwischen ist man, wenn es um die Produktion neuen Bildmaterials am Computer geht, ein ganzes Stück weiter. Zum einen, weil neue Programme wie "Elastic Reality", für das Perry Kivolowitz und Dr. Garth Dickie dieses Jahr mit dem Oscar für "Technical Achievement" ausgezeichnet wurden, die malerische Bildbearbeitung vereinfachen und beschleunigen; zum zweiten und vor allem aber dank dramatisch verbesserter Techniken zur Erfassung und Verarbeitung von Körper- und Bewegungsdaten.

Üblich ist es, Bilder von Schauspielern einzuscannen und über ein 3-D-Raster mit Referenzpunkten für Nase, Augen, Mund usw. zu legen. Danach mußte der Synthespian, wollte man im Computer Szenen schaffen, denen keine Realität entspricht, per Maus animiert werden; was ebenso mühsam wie teuer war. Nun jedoch verfügt man über diverse Verfahren zur motion capture. Ein Animator agiert dabei stellvertretend für den Cyberstar. Sensoren am Körper und - vor drei Jahren noch ein ungewöhnliches Forschungsprojekt, heute Realität - im Gesicht (face tracker) registrieren das Muskelspiel und übertragen die Daten zum Computer, der den digitalen Synthespian dann in Aktion setzt.

Stück für Stück bauen sich die special-effects-Firmen so Bewegungsbibliotheken auf, Datensammlungen, die Arm- oder Augenbrauenbewegungen steuern und sich beliebig oft wiederverwerten lassen. Damit sind erste Ansätze für einen qualitativen Sprung von der Einzelfertigung der fiktiven Filmbilder zu einer serielleren Produktion gemacht.

Um menschliche Aktionen ohne zusätzliche Retuschen von Hand vorzutäuschen, sind diese Daten und die Programme, die sie umsetzen, zwar vorerst zu krude - selbst wenn es um stoische Keine-Miene-Verzieher wie Schwarzenegger oder Stallone geht. Was die Illusion am meisten stört, sind die Teile unserer Erscheinung, die sich den Sensoren entziehen: das Haar, die Haut, der Fall der Kleidung. Insbesondere Frisuren, im Wirbelwind der Wirklichkeit chaotisch und alles andere als perfekt, neigen dazu, in der Simulation künstlich-glatt wie der Kunstschopf einer Barbie-Puppe zu erscheinen.

Species

Doch nicht nur Tiere wie die Dinosaurier in "Jurassic Park" und die Löwen in "Jumanji" sind per motion capture bereits fotorealistisch bewegt worden, sondern auch phantastische, sehr menschenähnliche Cyberstars - vom Geist in "Caspar", dem ersten Spielfilm, bei dem die Reaktionen der Gesichtsmuskeln digital erfaßt wurden, über den feuerspeienden Drachen Draco in "Dragonheart", der qualitativ gleichberechtigt mit seinem Partner Dennis Quaid agierte und deshalb als erster digitaler "Hauptdarsteller" gilt, bishin zum aufwendigen Außerirdischen Sil in "Species", zu dessen Erschaffung pro Bild 500 000 Polygone nötig waren - zehnmal soviel Daten wie für jeden Dinosaurier in "Jurassic Park".

Die nächste Grenze, die man nun überwinden will, der heilige Gral der digitalen Filmindustrie, ist der virtuelle Star, ein fotorealistischer und möglichst autonom agierender Humanoide - der Hollywoodtraum von einer Arbeitskraft, einer, der nicht krank wird, nicht altert, nicht stirbt, ein williges Wesen ohne Launen und Agenten, ohne Gewerkschaftsrechte und ohne prozentuale Gewinnbeteiligungen.

Wie die verrückten Wissenschaftler aus so vielen B-Filmen Hollywoods, stehen die heutigen special-effects-Zauberer kurz davor, menschliches Leben zu erschaffen, wenn auch nur in Silikonspeichern.

Variety

Doch die Vorteile gegenüber menschlichen Mimen reichen weiter: Synthespians ließen sich komplett synchronisieren - inklusive der passenden Mundbewegungen und eines Mienenspiels, das den kulturellen Gewohnheiten des jeweiligen Sprachraums korreliert -, und sie könnten ebenso mühelos auch in ihrer Physis den Anforderungen nationaler Märkte adaptiert werden: mal ein wenig schmaler und mandeläugiger, mal ein wenig blonder und bulliger.

Hinzukommen die unendlichen Möglichkeiten für Promotion und Merchandising, von Gastspielen in Videogames und Themeparks über den ständigen Kontakt mit den Fans im Internet bis zu Rund-um-die-Uhr-Auftritten in den unzähligen TV-Magazinen und Talk-Shows aller Länder, in denen ein Film gerade startet.

Das Vorbild für solche Vielfachverwertung liefern Disneys Zeichenfilmhelden. Vom "Lion King" an abwärts sorgen sie seit Jahren dafür, daß die Einnahmen aus Merchandising und Lizenzen um ein Vielfaches über den Einspielergebnissen der Filme selbst liegen. Synthespians böten der Industrie endlich auch für fotorealistische Featurefilme vergleichbare Verwertungsmöglichkeiten. Kein Wunder also, daß gegenwärtig Millionen von Dollar in ihre Entwicklung fließen.

Wir können ein Tier machen, und wenn man das kann, kann man auch einen Menschen machen.

George Lucas

Gelungen ist das bislang erst in der wenig individuierten Massenproduktion. Die Menschenmenge am Ende von Kathryn Bigelows "Strange Days" zum Beispiel besteht komplett aus digitalen Statisten. Und in James Camerons jüngsten Mammutprojekt, der "Titanic", werden 2000 Synthespians die Decks des gleichfalls virtuellen Untergangs-Dampfers bevölkern.

The Mask

Vom Computer generierte Individuen, fotorealistische Einzelmenschen, die in Nahaufnahme agieren oder gar Hauptrollen spielen können, stehen noch aus, sollen jedoch in naher Zukunft ins Kino kommen. "Es wird ganz einfach geschehen", sagt ILMs Ober-Animateur Steve Williams, u.a. für Jim Carreys bahnbrechendes Mensch-Cartoon-Mix in "The Mask" verantwortlich: "Man muß nur dran denken, daß vor fünf Jahren kein Mensch die Dinge für möglich hielt, die heute geschehen: digitale Stunt-Doubles, digitale Nebendarsteller."

Und sein Ex-Chef-Scott Ross, der nun Digital Domain leitet - James Camerons special-effects-Firma und George Lucas' größte Konkurrenz -, prophezeite vergangenen August: "Stellt euch für 1998 auf den ersten Cyberstar ein!"

Eva Wohlgemut bei 3D Scan

Die hochbezahlten Superstars aus alterndem Fleisch und Blut tun es eifrigst. Ihr Weg zum Karriereerhalt: Bodyscanning. Die Technik, ein Abfallprodukt militärischer Forschung, setzte ILM zum ersten Mal 1986 für eine Zeitreisesequenz von "Star Trek IV: The Voyage Home" ein: Die Köpfe der Hauptdarsteller wurden gescannt und die Bilder so bearbeitet, daß sie sich auf der Leinwand in Zeit und Raum auflösten. Auf den ganzen Körper ausgedehnt und zur Routine wurde die Prozedur erst durch den Ganzkörperscanner, den Cyberware 1995 auf den Markt brachte (siehe auch Uploaded Body und Eva Wohlgemuth bei thing.at/upload. Dutzende von Schauspielern, darunter Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone, Marlon Brando und Denzel Washington, haben ihr wertvollstes Kapital bereits so vermessen lassen - nicht ohne sich an den digital erfaßten Körperdaten das Copyright zu sichern. Denn der Scan kann ihnen, entsprechend animiert, ein ewiges Berufsleben garantieren.

Ich glaube, man wird so etwas in der Zukunft genauso tun wie man heute Diffusionsfilter nimmt, wenn man große Schauspielerinnen filmt, die schon ein wenig über ihren Höhepunkt hinaus sind. Ich glaube, ist wird möglich werden, nahtlos und völlig unsichtbar die Karriere eines Schauspielers um Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte zu verlängern.

James Cameron

Und das auch über den Tod hinaus. Schon gibt es Bestrebungen der Gesellschaften, die Filmproduktionen versichern, einen Bodyscan der Hauptdarsteller zur Bedingung zu machen, damit im Schadensfall die Dreharbeiten besser und billiger als bisher mit digital geklonten Helden beendet werden können.

Beide Verfahren, die Reproduktion des Körperbildes mittels Scanner und die Animierung der graphischen Repräsentationen mittels motion capture, brachten zwar in den vergangenen zwei, drei Jahren dramatische Fortschritte. Sie senkten die Produktionsdauer und damit die Kosten, und sie steigerten auch die fotorealistische Bewegungsqualität der Synthespians.

Um derlei digitale Zauberei aber zur Konkurrenz für die etablierten analogen Verfahren der Filmproduktion werden zu lassen, muß den Computerdarstellern ein körperlicher Instinkt eingehaucht werden. Die Animation hat vom High-Tech-Marionettenspiel, das sie heute ist, zu einer zumindest partiell selbstlaufenden Technik zu werden, bei der Muskeln und Gewebe auf Bewegungsbefehle automatisch reagieren.