Das Besondere am Fall Sami A.

Antwort auf die Kritiker meine Beitrags "Die Abschiebung des Sami A. verhöhnt den Rechtsstaat"

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Am 25. 7. 2018 war in Telepolis mein Artikel "Die Abschiebung des Sami A. verhöhnt den Rechtsstaat" zu lesen. Ich kritisierte, dass die Behörden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Abschiebung durchgeführt haben. Die Richter des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen hatten nämlich ausdrücklich gebeten, vor ihrer Entscheidung keine "vollendeten Tatsachen" zu schaffen. Ich fügte hinzu, dass mir in 25 Berufsjahren als Verwaltungsrichter Vergleichbares nicht begegnet sei. Der Artikel löste im Forum von Telepolis (mit bisher 742 Beiträgen) ein großes Echo - genauer gesagt: einen regelrechten Shitstorm - aus. Abgesehen von massiven Beleidigungen (häufig in du-Form) wurde mir unterstellt, ich hätte Partei für Sami A. ergriffen und seine Einstufung als "Gefährder" kritisiert. Auch hätte ich verkannt, dass ihm in Tunesien keine Folter drohe. Das sei für einen Richter höchst bedenklich. Man könne froh sein, dass er im Ruhestand kein Unheil mehr anrichten könne.

Die meisten Forumsschreiber zeigten sich erleichtert bis hoch erfreut, dass der "Gefährder" ohne langes Federlesen abgeschoben worden ist. Gerichte hätten ohnehin keine Ahnung. Sami A. habe schon viel zu lange auf unsere Kosten in Deutschland gelebt. In vielen Forumsbeiträgen wurde ich aufgefordert, zu meinen schlimmen Fehleinschätzungen Stellung zu beziehen. Die Forderungen, der "Herr Richter a. D." möge sich endlich äußern, wurden heftiger, als bekannt wurde, dass Sami A. in Tunesien freigelassen und nicht gefoltert worden ist.

In der Hoffnung, dass zumindest dieser kurze Beitrag genau gelesen wird, fasse ich das Besondere am Fall Sami A. nochmals zusammen:

  • Es ist das gute Recht eines jeden Bürgers, Gerichtsentscheidungen zu kritisieren. Dies gilt erst recht für Meinungsbeiträge eines Ruhestandsrichters. Allerdings kann man von Kritikern, die ernst genommen werden wollen, erwarten, dass sie sich bemühen, den Text, den sie kritisieren, zu erfassen. Das ist bei vielen Forumsbeiträgen erkennbar nicht der Fall. Es werden Inhalte phantasiert, die im Text keine Stütze finden.
  • Zunächst bin ich bin froh, dass sich die Sorgen der Gelsenkirchener Richter (Foltergefahr) als unbegründet erwiesen haben. Das ist gut für Sami A.. Es ist auch gut für den tunesischen Staat. Und nicht zuletzt ist es gut für die mit der Abschiebung befassten Behörden. Man stelle sich vor, das Gegenteil wäre eingetreten.
  • Dem Gericht kann man nichts vorwerfen. Es hat seine verfassungsmäßige Aufgabe, Rechtsschutz zu gewähren, erfüllt. Nach § 60 Abs. 2 AufenthG und § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm Folter droht. Die Richter mussten eine Prognoseentscheidung auf der Grundlage einer unklaren Erkenntnislage treffen. Wenn vernünftige Zweifel bestanden, musste das Gericht einschreiten. So will es das Gesetz.
  • Ich wundere mich, dass in vielen Beiträgen der gerichtliche Rechtsschutz gering geschätzt wird. Tatsache ist, dass immer mehr Menschen im eigenen Bereich selbst bei Kleinigkeiten gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen. Umso mehr muss das möglich sein, wenn - wie im Fall Sami A. - existenzielle Gefährdungen im Raum stehen.
  • Meine hauptsächliche Kritik richtete sich gegen das trickreiche und rechtswidrige Verhalten der Abschiebungsbehörden und die augenzwinkernde Billigung durch maßgebliche Politiker. Solche Verhaltensweisen lassen den Respekt vor der dritten Staatsgewalt vermissen. Sie legen die Axt an eine Grundsäule des Rechtsstaats. Das haben u. a. die Bundesjustizministerin Barley, der Bundestagsvizepräsident Kubicki, der Staatsrechtler Prof. Battis und der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Gnisa unterstrichen.
  • Ob Sami A. ein "Gefährder" ist, kann ich nicht beurteilen. Ich kenne weder die Akten, noch habe ich Erkenntnisse jenseits der allgemein zugänglichen Pressemeldungen. Deshalb habe ich in meinem Artikel darüber auch keine Spekulationen angestellt. Es ist Sache der Verwaltung, dass sie sorgfältig und tatsachengestützt entscheidet und etwaige Gerichtsentscheidungen respektiert. Ich erwarte von Behörden, dass sie sich weder von hetzerischen Politikern noch von einer weit verbreiteten öffentlichen Hysterie beeinflussen lassen. Zu letzterer besteht kein Anlass: Wir müssen - zumindest derzeit - keine Angst haben, dass wir in einem Flüchtlingsstrom untergehen. Denn entgegen dem medial erzeugten Bild hat sich die Zahl der in Deutschland ankommenden Geflüchteten zwischen 2015 und 2018 fast dezimiert. Für die Zukunft ist es unumgänglich, unsere ganze Kraft und Intelligenz darauf zu konzentrieren, dass weniger unter Krieg, Elend und Umweltzerstörung leidende Menschen den lebensgefährlichen Weg ins gelobte Land - Europa - antreten. Dann nimmt auch die Zahl möglicher Gefährder ab.
  • Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin kein "Verteidiger" von Sami A., auch kein Sympathisant. Ich möchte nur, dass Menschen (ja, auch vermeintliche "Gefährder"!) nicht abgeschoben werden, bevor unabhängige Richter "grünes Licht" gegeben haben. Nicht mehr und nicht weniger!

Ich habe damit gerechnet, dass meine Meinung auf Kritik stößt. Verwundert hat mich, dass diese so heftig und unsachlich ausgefallen ist. Entsetzt hat mich, dass so viele Leser einen einfachen deutschsprachigen Text entweder nicht verstehen konnten oder ihn bewusst missverstanden haben. Beides ist kein gutes Zeichen für den Zustand unseres Landes.

Peter Vonnahme (ehemals Mitglied im Bundesvorstand einer Richtervereinigung)