Das Denken vom Bett aus bedacht
Wo nehmen wir eigentlich jeden Morgen den Entschluß her, aus dem Bett aufzustehen?
Aus der in unseren Eingeweiden vergrabenen Überzeugungen von der Begrenztheit unserer Lebensdauer.
Daß wir früh aufstehen, ist ein Beweis für unser Wissen vom Tod, denn ohne dieses Wissen wäre nichts dringend, und wir könnten ruhig liegenbleiben. Andererseits jedoch sollte uns dieses Wissen paralysieren, denn es verurteilt von vornherein alle unsere Unterfangen zum Scheitern. Dabei hilft es kaum, den Tod auf künftige Generationen oder in irgendein Jenseits abzuschieben: Er bleibt ein schwarzes Loch, in dessen Richtung wir gleiten.
Typische Bettgedanken. Sie sind widerspruchsvoll, wattig und nicht richtig faßbar. Sie lösen sich wie Nebel auf, sobald wir das Fenster öffnen, und sie bedenken trotzdem oder gerade deshalb das Wesentliche. Das kommt vom Bett her: Es steht in jenem Nebelbereich, worin Geburt und Tod, Liebe und Krankheit, Traum und Wachheit einander überdecken. Man kann versuchen, diese Nebelschwaden der Gedanken, so wie sie aus dem Bettbereich quellen, gegen das Bett selbst zu richten, das Bett selbst zu bedenken, um zu sehen, was dabei herauskommt.
Sobald wir irgend etwas zu bedenken beginnen, zerlegen wir es in Abschnitte, in Portionen. Wir können dabei nicht umhin, rational zu sein, in Rationen zu zerschneiden. Und dies, obwohl wir wissen, das Zu-bedenkende dadurch zerstört zu haben. Im Fall des Bettes: sobald wir es zu bedenken beginnen, zerfällt es in Kategorien vom Typ "Gebärbett", "Krankenbett", "Liebesbett", "Totenbett" oder "Schlafbett". Das ist widerlich, weil ja das Bett gerade nicht der Ort ist, worin rational gedacht wird. Es ist ein Ort der dunklen Leidenschaft der Nacht, nicht der klaren Vernunft des Tages. Aber selbst diese Aufteilung in dunkel und klar, in Leiden und Tun, in Nacht und Tag, ist eine Vergewaltigung des Bettes. Im Bett überdecken einander auch diese beiden Gegensätze. Und bei dieser Überdeckung, nämlich bei der Schlaflosigkeit, kann das Bettbedenken beginnen.
Man legt sich hin, um zu schlafen. Das so zu sagen, ist schon ein grammatikalischer Fehler. Man kann nicht schlafen wollen, sondern man fällt spontan in den Schlaf, wie in den Tod und die Liebe. Aber um hineinfallen zu können, muß man sich fallen lassen. Die indoeuropäischen Sprachen verfügen jedoch nicht über jene grammatikalische Form, die zwischen aktiv und passiv liegt, um der Gelassenheit Ausdruck zu verleihen. Also: Man legt sich gelassen hin, um spontan in den Schlaf zu fallen. Der Schlaf merkt die Absicht, ist verstimmt, und versperrt sich. Wir liegen da auf dem Bett, unter dem Bett liegt der Schlaf, und die Bettbarriere bleibt geschlossen. Aber wir müssen schlafen. Wir wissen zwar nicht, warum wir dies müssen, aber wir wissen, daß wir dies müssen, und daß wir dieses Müssen vergessen müssen, falls wir schlafen wollen. Wir haben Techniken entwickelt, um uns zum Fall in den Schlaf zu zwingen. Gelassenheitstechniken, zum Beispiel Schäfchenzählen. Wir hoffen dabei, daß der Schlaf nicht hinter unsere Technik kommt und sie für echte Gelassenheit hinnimmt.
Aber das mit dem Schäfchenzählen ist eine gefährliche Sache. Es kann nämlich faszinieren, und das Schlafenwollen vergessen lassen. Zuerst lasse ich meine Schäfchen in Reih' und Glied vorbeimarschieren und zähle sie eins nach dem anderen. Aber sie scheinen von selbst Gruppen bilden zu wollen und mich dabei mit ihren Schafsaugen idiotisch-unschuldig anzusehen. Um sie zu zählen, müßte ich mich an die Mengentheorie erinnern. Dabei fällt mir ein, daß es Russel und Whitehead nicht eigentlich gelungen ist, Logik und Mathematik auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Und wie war das eigentlich damals, als Russel den Wittgenstein zu Frege schickte, um mit ihm über die Möglichkeit eines Propositionskalküls zu reden? Also: Anstatt in den Schlaf zu fallen, bin ich schlaflos geworden. Es nützt nichts, mir zu sagen, daß es mir vollkommen gleichgültig ist, ob und wenn warum Russel damals den Wittgenstein zu Frege geschickt hat, sondern daß es mir nur darum geht, endlich einzuschlafen.
Ich liege im Bett und bin schlaflos. Nicht ich drehe die Gedanken, sondern sie drehen sich. Und ich schaue ihnen zu, als ob ich sie von unter her, also vom Bett aus, beobachten könnte. Manchmal greife ich in sie ein, um sie zu verscheuchen, denn ich werde immer müder - und ich muß schlafen. Und dann wieder erfassen sie mich, und versuchen, mich mitzureißen. Sie drehen sich, also sind sie leere Gedanken. Vielleicht sind sie, wie Kant meinte, analytisch a priori. Wie war das damals mit Newton, als er die himmlische mit der irdischen Mechanik auf einen Nenner brachte, und so das Gebäude der modernen Wissenschaft baute? Das mit dem Apfel ist doch nur eine fromme Legende. Wahrscheinlich lag Newton damals schlaflos im Bett und beobachtete von dort aus seine kreisenden Gedanken.
Schlaflosigkeit ist eine Krankheit. Man kann daran sterben. Es ist jedoch in gewissem Sinn eine umgekehrte Krankheit. Bei der Schlaflosigkeit werde ich körperlos, und was von mir übrigbleibt, sind meine über mir kreisenden Gedanken. Bei den übrigen Krankheiten neige ich dazu, immer mehr Körper zu werden. Was von meinen Gedanken noch übrigbleibt, kreist um meinen kranken Magen, meine kranke Lunge. Wenn ich krank bin, werde ich immer weniger eine denkende und immer mehr eine ausgedehnte Sache, immer geometrischer und immer weniger arithmetisch. Der Tod tritt ein, wenn ich nur noch ausgedehnt bin.
Wie war das eben? Bei der Schlaflosigkeit kreisen nur noch Gedanken, die mich überhaupt nicht interessieren, aber die ich nicht loswerden kann, weil sie mich mitgerissen haben? Und bei den übrigen Krankheiten werden die wenigen übriggebliebenen Gedanken immer interessanter, weil sie meine Schmerzen betreffen? Kann ich daraus Schlüsse betreffs des Interesses ziehen? Je interessanter ein Gedanke, desto mehr Schmerzen? Und umgekehrt: Je schmerzloser, desto uninteressanter? Ist es das, was Kant gemeint hat, als er das Schöne als das ohne Interesse Gefallende definierte? Und umgekehrt: Meint das politisches Engagement, wenn es nur Gedanken zu hungernden Kindern, zu sozialen Ungerechtigkeiten oder Leichenbergen in einem Kolonialkrieg für interessant hält? Lassen sich etwa die Newtonsche Mechanik als Produkt der Schlaflosigkeit an einem der beiden Interessenpole und politische Engagements als Produkte der unerträglichen Schmerzen am zweiten der beiden Interessenpole lokalisieren? Und kann dann das Bett als Brücke zwischen Schlaflosigkeit und Schmerz, zwischen reiner Interessenlosigkeit und engagiertem Interesse, zwischen der Leidenschaft des Denkens und dem Leiden des Körpers angesehen werden?
Aber gibt es nicht auch ein Leiden am Denken und eine Leidenschaft des Körpers, und ist nicht etwa auch die im Bett lokalisierbar? Das Leiden am Denken heißt bekanntlich "Sorge". Ich kann mich nämlich mit der Absicht ins Bett legen, um auf den Schlag meine Sorgen zu vergessen. Falls der Schlaf ein kleiner Tod ist, dann ist diese Lage ein kleiner Selbstmord. Die hier anzuwendende Technik kann sich nicht mit Schäfchenzählen begnügen, weil Sorgen alle Schafe vertreiben. Man muß zu Schlafmitteln greifen, und dann wieder wird der Unterschied zwischen dem kleinen und dem großen Selbstmord zu einer Frage nach der Menge der eingenommenen Drogen. Sorgen sind interessante Gedanken, und Schlafmittel sind Vorrichtungen zum Töten des Interesses. Sie sollen dem Leiden a Denken ein Ende bereiten. Es kommt in ihnen ein immer deutlicher werdender Glücksbegriff zum Ausdruck: das Denken ist ein über uns verhängtes Unglück. Und das ist die Grundlage der Drogenkultur.
Es gibt ein Argument gegen Drogen. Es kommt aus der Leidenschaft des Körpers. Es geht um die eigenartige (der Art Mensch vorbehaltenen) Fähigkeit, mittels Vermengung zweier Körper aus dem Ich und dem Du ins Wir auszubrechen und dadurch den Tod zu überwinden. Ich werde sterben, wir sind unsterblich. Diese orgiastische Selbstüberwindung durch Aufgehen im anderen ist, was die scholastische Philosophie mit "die Glorie, im Körper zu sein" gemeint hat, ohne dies buchstäblich gestehen zu dürfen.
Der Körper kann sich leidenschaftlich so winden, daß er sich selbst im Körper des anderen überwindet. Und wenn er dies erlernt hat (denn auch das ist eine Technik), dann kann er diese Windungen in die Gehirnwindungen übertragen. In der gegenwärtigen Terminologie heißt die "neurozerebraler Orgasmus". In der mittelalterlichen Poesie hieß dies "hohe Minne", bei Platon hieß es "Eros", und in der jüdisch-christlichen Tradition heißt es "Gottesliebe durch Nächstenliebe". Das ist ein starkes Argument gegen Drogen. Sie täten die eigenartige menschliche Fähigkeit, durch die Leidenschaft des Körpers hindurch zur Liebe vorzudringen.
Die Alten haben zwischen drei Kunstarten unterschieden: "ars vivendi" = die Technik zu leben, "ars amatoria" = die Technik zu lieben, und "ars moriendi" = die Technik zu sterben. Die hier vorgelegten, etwas fragmentarisch ausgefallene Überlegungen in Sachen Bett wollen einige Aspekte dieser drei Kunstkategorien beleuchten. Denn das Bett ist ja der Ort, worin wir leben, lieben und sterben. Das Bett ist der Ort, worin wir zwischen Geburt und Tod und zwischen der sogenannten Wirklichkeit schweben. Shakespeare meint, wir seien aus jenem Stoff, aus welchem Träume gemacht sind. Das ist auch der Stoff, worin wir uns betten, wenn wir uns niederlegen. Und aus welchem wir uns jeden Morgen erneut entscheiden müssen aufzustehen.
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