Nächstenliebe im elektronischen Zeitalter

Ein Gespräch mit Vilém Flusser.

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Sie haben in Ihren Büchern immer wieder behauptet, daß wir auf der Schwelle zu einer neuen Epoche stehen würden. Sie führen das auf die neuen Techniken zurück. Es ist sicher der Computer, der im Zentrum der gegenwärtigen Veränderungen steht. Würden Sie denn sagen, daß man Epochen durch ihre Techniken charakterisieren kann, weswegen man dann auch sagen könnte, es gäbe so etwas oder müßte so etwas geben wie eine Philosophie des Computerzeitalters?

Vilem Flusser: Ich möchte das ein wenig präzisieren. Ich bin einverstanden, wenn man von einer Schwelle spricht, sofern man die Schwelle breit genug ansetzt. Sie hat sich bereits in der Mitte des 19.Jahrhunderts gezeigt, und wir werden sie sicher nicht vor der Mitte des 21.Jahrhunderts überschreiten. Ich bin auch damit einverstanden, daß Sie den Übergang auf den technischen Einfluß zurückführen, allerdings mit der Einschränkung, daß die Technik allein zur Erklärung nicht ausreicht. Die Technik schlägt nämlich auf das Bewußtsein zurück, in dem die Veränderungen größer sind als in der Umwelt.

Jetzt aber zur Frage, ob eine Philosophie des Computerzeitalters gefordert ist. Eine Philosophie der neuen Zeit entsteht von selbst. Nicht nur, weil sich die Themen ändern, sondern vor allem, weil sich die Methode des Denkens verändert. Eine der Charakteristiken des Übergangs ist, daß wir uns nicht mehr mit kausalen Erklärungen begnügen können. Wir müssen die Phänomene als Produkte eines Spiels von Zufällen ansehen, wobei die Zufälle statistisch dazu neigen, notwendig zu werden.

Wenn Sie sagen, daß wir nicht mehr kausal erklären können, heißt das, wir können dies erkenntnistheoretisch nicht mehr, oder können wir uns auch als Menschen des Alltags nicht mehr so wie in der Tradition verstehen, sondern sind dazu genötigt, uns etwa aus der Perspektive der Wahrscheinlichkeitstheorie zu begreifen?

Vilem Flusser: Das, was Sie den Menschen im Alltag nennen, oder das, was man den gesunden Menschenverstand genannt hat, ist das wissenschaftliche Niveau vergangener Jahrhunderte. Wir denken im Alltag so, wie man seit der Renaissance bis zur Aufklärung im elitären Denken gedacht hat.

Der Umbruch, von dem ich gesprochen habe, ist ein elitärer Umbruch, der nicht so schnell ins Bewußtsein der großen Menge dringen wird. Er tröpfelt in es ein. Das war schon immer so. Wenn ich sage, daß wir dazu gezwungen sind, die Kategorien unseres Denken umzuformen, dann meine ich, daß wir durch die Wissenschaft und die mit ihr zusammenhängende Spekulation dazu gezwungen sind.

Ich bin der Überzeugung, daß die Wissenschaft und die wissenschaftliche Methode für alle absehbare Zukunft das Paradigma des zivilisierten Denkens bleiben werden. Die Methoden verändern sich natürlich, aber als wissenschaftliche Methode bleibt sie das Paradigma für alle Methoden.

Sie sagen gelegentlich, daß auch die Wissenschaft sich verändern werde und wieder mehr mit der Kunst verschmelze. Mit dem Computer werden mit bedeutungslosen Elementen, den Pixeln oder Bits, neue Welten entworfen. Das haben Sie in einem Text auch als die Grundverfassung des menschlichen Seins in der Gegenwart beschrieben. Dann aber wäre es weniger die Wissenschaft, sondern eher der Computer, der das Paradigma für das aktuelle Selbstverständnis des Menschen ist.

Vilem Flusser: Sie haben vorher etwas gefragt, worauf ich noch nicht geantwortet habe, nämlich ob die Technik maßgeblich für die Geschichte der Menschheit ist. Ich bin damit einverstanden.

Ich glaube, man sagt mit Recht ältere oder jüngere Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit und vielleicht jetzt Computerzeit, weil diese technischen Methoden auf das Bewußtsein zurückschlagen.

Es gibt ein Bewußtsein der älteren Steinzeit oder eines der Bronzezeit. Das sieht man natürlich nicht auf den ersten Blick. Wenn man an die Bronzezeit denkt, dann denkt man an die homerischen Helden oder an die Helden der verschiedenen Sagen. Aber wenn man darüber nachdenkt, dann kommt man darauf, daß diese schicksalhafte Einstellung des Helden auf die Technik der Herstellung von Bronzewerkzeugen zurückzuführen ist. Bronze ist im Unterschied zu Stein oder Eisen ein elitäres Material. Es war immer teuer. Also ist die Mentalität der Bronze die Mentalität einer kriegerischen und priesterlichen Elite, während die Eisenzeit mit einer Vulgarisierung und Demokratisierung des Denkens einher geht, weil es billiger ist, Eisen herzustellen als Bronze. Das sei nur nebenbei gesagt.

Sie fragten, ob nicht statt der Wissenschaft der Computer als ein Modell der heranbrechenden Zukunft anzusehen sei. Ich kann das nicht so trennen, weil die Technik angewandte Wissenschaft ist.

Sie fragten, ob Kunst und Wissenschaft nicht einander näherrückten. Von dem Wort Kunst war ich nie sehr begeistert. Vielleicht ist die Kunst der Neuzeit von den früheren Künsten nur dadurch verschieden, daß sie nicht wissenschaftlich unterbaut war, daß sie sozusagen eine empirische Technik gewesen ist. Das verändert sich vielleicht jetzt. Vielleicht können wir wieder die Kunst als angewandte Wissenschaft oder die Wissenschaft als eine Theorie der Kunst ansehen.

Philosophieren mit Bildern

In welchem Verhältnis steht denn die Philosophie zu den Wissenschaften? Der Philosoph ist kein Wissenschaftler, er ist auch kein Techniker. Der Philosoph spricht in der Sprache, die man seit 2000 Jahren verwendet. Er kann die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden vielleicht deuten, verallgemeinern oder kritisieren. In Ihren Büchern sprechen Sie auch immer von der Krise der Linearität, die mit dem Computer und dem digitalen Code einher geht. Die Philosophie ist mit ihrem geschichtlichen Hintergrund ja nun par excellence ein lineares Denken. Wie also verhält sich der Philosoph der Wissenschaft und Technik zur traditionellen argumentativen Philosophie?

Vilem Flusser: Darauf möchte ich Ihnen zunächst eine banale Antwort geben. Was wir Philosophie nennen, ist ein Erbe der präsokratischen Denker. Es ist eine spezifische Einstellung zu den Problemen der Welt und dann später des Lebens, die mit dem Wort Theorie faßbar ist. Philosophie ist die Einstellung, in der die Dinge nicht als Erscheinungen angesehen werden, sondern die hinter den Erscheinungen irgendwelche Formen vermutet und behauptet, daß wir die Fähigkeit besitzen, diese Formen durch eine spezifische Ansicht sichtbar werden zu lassen. Diese Ansicht heißt griechisch Theorie. Diese theoretische Disziplin, die diskursiv war, hat zuerst alle Gebiete der Erkenntnis umfaßt. Im Verlauf der Geschichte haben sich langsam die Wissenschaften eine nach der anderen von der Philosophie abgespalten.

Es gibt Leute, insbesondere in den angelsächsischen Kulturen, die behaupten, daß die Philosophie völlig von den verschiedenen Wissenschaften entleert wurde und daß ihr jetzt nichts anderes übrigbleibt, als über die Wissenschaft, die aus ihr entstanden ist, nachzudenken, daß also die Philosophie nichts anderes sein kann als Wissenschaftskritik. Ich würde nicht soweit gehen. Ich würde sagen, daß es Gebiete gibt, die die Wissenschaft nicht besetzt hat und die von der Wissenschaft per definitionem gar nicht besetzt werden können, nämlich die Gebiete der Werte. Auf dem Feld der Werte ist die Methode des theoretischen Denkens noch immer gültig. Es gibt also zwei Gebiete, für die die Philosophie noch immer kompetent ist: die Kritik der Wissenschaft und die der politischen oder ästhetischen Werte.

Jetzt zur Struktur der Philosophie. Sie haben mit Recht gesagt, daß die Philosophie der Struktur nach traditionell diskursiv sei. Das stimmt nicht ganz, denn es gibt auch eine mathematische Philosophie. Sie können beispielsweise von der logischen Analyse oder vom sogenannten Neopositivismus nicht sagen, daß sie diskursiv seien, denn sobald Sie sich in der symbolischen Logik ausdrücken, sieht ein philosophisches Buch eher wie eine Serie von Algorithmen aus als wie eine Serie von textualen Sätzen. Aber die Philosophie ist im Prinzip seit den Vorsokratikern bis hin zu den gegenwärtigen Philosophen diskursiv, an denen ich allerdings aus den genannten Gründen Zweifel habe, ob sie noch Philosophen sind.

Seit einigen Jahrzehnten können wir eine seltsame neue Entwicklung beobachten, an der ich außerordentlich interessiert bin. Es gibt Leute, die mit Bildern zu philosophieren beginnen. Das klingt natürlich wie ein Widerspruch. Ich hatte vorher gesagt, die Philosophie habe es mit den Formen zu tun, die hinter den Erscheinungen sind. Die Bilder aber sind doch Erscheinungen. Wir haben aber neuartige Bilder. Wir besitzen Bilder, die die Formen des Denkens ansichtig werden lassen. Es gibt numerisch generierte Bilder, die, sagen wir einmal, platonische Formen auf dem Monitor anschaulich machen. Hier öffnet sich das Gebiet einer nicht mehr diskursiven, sondern mit Bildern arbeitenden Philosophie. Um das herauszustellen, habe ich in meinen Büchern von Kant den Begriff der Einbildungskraft entlehnt.

Das sind allerdings nicht nur Computerbilder, weil wir in der letzten Zeit ein komisches Instrument entwickelt haben, das Video heißt. Das ist im Grunde genommen ein Spiegel, der den Weg für eine neue philosophische Methode öffnet. Der Monitor des Video hat zwei seltsame Eigenschaften. Er kehrt erstens links und rechts nicht um wie die Spiegel, an die wir gewöhnt sind. Zweitens hat er ein Gedächtnis. Es ist also ein nicht umkehrender, mit einem Gedächtnis versehener Spiegel. Wer Spiegel sagt, sagt auch Reflexion oder Spekulation. Und wer dies sagt, sagt auch Philosophie.Vielleicht haben wir - malgré nous und ohne daß die Videoleute sich dessen bewußt sind - ein Instrument erfunden, mit dem sich mindestens so gut philosophieren läßt wie mit den 26 Buchstaben.

Wie würde denn dies aussehen?

Vilem Flusser: Ich habe ein Buch geschrieben, das "Angenommen" heißt. Dort habe ich versucht, Szenarios für Videoclips zu schreiben. Es ist bislang noch niemand gekommen, der das gemacht hätte, aber ich habe die Hoffnung noch nicht verloren. Ich sehe vor mir, wie das sein könnte.

Das erste Szenario habe ich "Großmutter" genannt. In ihm habe ich den Versuch gemacht, drei Bedeutungen des Wortes Venus bildlich übereinander zu schieben, so daß man eine Querlektüre hat: Venus als Planet, in dessen Anziehungskraft eine Sonde gelangt, die von der NASA geschickt wurde; Venus als mythischer Begriff der Weiblichkeit, also als die Philia, vor der ein logos spermatikos von der Erde in Form einer Sonde erscheint; und schließlich Venus als ein Ei, in das die Sonde als ein Sperma eindringt. Ich habe also versucht, das Astronomische, das Mythische und das Biologische übereinander zu legen. Ich dachte mir, daß man dies in einem Clip von etwa 5 Minuten aufregend gut zeigen kann, daß man in Bilder Astronomie, Mythos und Biologie sich überdecken lassen kann, daß man dies auch von Worten und Tönen begleiten lassen kann.

Ein Philosophieren in Bildern würde doch heißen, daß man Szenen erstellt. Damit aber könnte man weder begründen noch erklären, was für die Philosophie doch bislang maßgeblich war.

Vilem Flusser: Ich habe Ihnen vorher gesagt, daß wir dazu gezwungen sind, diese Art von Argumentation aufzugeben. Wir können die Phänomene nicht mehr in einen Diskurs von Ursache und Wirkung einbauen, sondern wir müssen mit Zufall und Notwendigkeit spielen.

Wenn Sie die drei Ebenen beispielsweise ineinanderfügen, von denen ich vorhin gesprochen habe, so können sich zufällig Kombinationen ergeben, die den Hersteller der Bilder selber überraschen. Ist es nicht das Erlebnis des Philosophierens, daß Sie in einer Art des Denkens verfangen sind, in der sie von Überraschung zu Überraschung schreiten? Meint das nicht Aristoteles, wenn er sagt, daß die Menschen einst und jetzt aus Überraschung begonnen haben zu philosophieren? Wenn man dem Entstehen von Bildern in einem Computer zusieht oder wenn man sich vorstellt, wie so ein Video funktionieren würde, dann würde man ganz im aristotelischen Sinne dieses Satzes philosophieren.

Ich habe, wenn ich noch einmal über mich selbst sprechen kann, ein zweites Buch geschrieben. Das ist eine Fabel. Fabeln wurden noch nie richtig geschrieben, falls Sie unter Fabel den Versuch verstehen, Tiere zu Wort kommen zu lassen, damit sie von ihrem Standpunkt aus beginnen, den Menschen zu kritisieren. Alle Fabeln, die ich kenne, handeln nicht von Tieren, sondern von Menschen, die als Tiere verkleidet sind. Ich habe versucht, dies anders zu machen. Ich habe mir einen Enzephalopoden vorgestellt.

Eine Krakenart also ...

Vilem Flusser: Ja, einen Kopffüßer. Einiges habe ich doch im Leben gelernt. Eins davon ist, daß man exakt sein muß, wenn man phantasiert. Wenn man nicht phantasiert, kann man sich Freiheiten erlauben. Das ist das Tödliche am akademischen Denken, weil es immer geschützt denkt und daher in den Staub fällt. Wenn man phantasiert, dann kann man sich das nicht erlauben. Ich habe den Begriff phantasia essata, der, so glaube ich, von Leonardo stammt, intus.

Ich habe dieses Vieh nicht erfunden, sondern entdeckt. Mit meiner Frau bin ich von Aquarium zu Aquarium gefahren und habe mich für die Physiologie und, wenn Sie gestatten, für die Psychologe von Enzephalopoden interessiert. Ich habe den darwinschen Baum des Lebens aufgegriffen und ihn ein wenig fortgesetzt. Ich habe die jetzt existierenden Kraken als Anthropoiden angesehen und aus diesen eine Krake sapiens sapiens hinausprojiziert. Aber alles an ihm ist biologisch wahr. Alle anderen Angaben, die ich von ihm gegeben habe, sind wissenschaftlich richtig.

Ich habe mir aber nicht nur das Vieh vorgestellt, so wie es uns anglotzt, sondern ich habe mir auch seine Lebenswelt vorgestellt. Ich habe mir überlegt, wie die Welt aussehen müßte, wenn man sie aus der Tiefsee ansieht. Die Erde würde ganz anders aussehen. Das ist eine Art Philosophie. Man geht nicht von oben oder transzendent und nicht von unten oder strukturell vor, sondern man geht von der Seite aus. Es ist ein Seitensprung des Philosophierens.

Konkret und abstrakt als Orientierungskategorien

Ihre Vorstellung scheint derjenigen ähnlich zu sein, die man als philosophische Konzeption im sogenannten radikalen Konstruktivismus findet. Der Konstruktivismus geht davon aus, daß man Wirklichkeit nicht beschreibt oder passiv wahrnimmt, also daß man sie auch nicht entdeckt, sondern erfindet. Das Bild der Wirklichkeit hängt beispielsweise ab von der Art der Sinnesorgane und davon, wie sie von unserem Gehirn, also von unserem neuronalen Computer, errechnet wird, weswegen sie auch ganz anders sein bzw. auf dem "mentalen Bildschirm" dargestellt werden könnte. Daher ergibt sich auch für den radikalen Konstruktivismus die Konsequenz, die Begriffe real und fiktiv und überhaupt die Ontologie hinter sich zu lassen. Wenn Sie die Begriffe abstrakt und konkret anbieten, wie würde denn dann die alte Unterscheidung in die neue eingehen können? Wir sperren Menschen in Psychiatrien ein, weil sie Halluzinationen haben, während wir davon ausgehen, daß sich die "normalen" Menschen einigermaßen ordentlich auf eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit beziehen oder dies zumindest sollten.

Vilem Flusser: Ich werde Ihnen eine Anekdote erzählen, die ich in Graz gehört habe und die mich zutiefst beeindruckt hat. Bertrand Russel hat jemanden empfangen, der ihn während des Gespräches dann kritisierte. Er sagte, daß er alles, was Russel behauptete, für richtig halte, allerdings mit einer einzigen Ausnahme, nämlich wenn er sagt, daß Julius Cäsar im Jahre 44 vor Christus gestorben ist. Darauf fragte Russel, warum er gerade diese Aussage für falsch halte. Nun ja, sagte sein Gast, weil ich Julius Cäsar bin.

Die Geschichte hat mir deshalb gut gefallen, weil sie zeigt, daß eine Kommunikation besteht und daß im Sinne Russels die Aussage dieses Menschen, der sagt, ich bin Julius Cäsar, gar nicht falsifizierbar ist. Der Sachverhalt, daß er behauptet, Julius Cäsar zu sein, ist ja ein Beweis für die Tatsache dieser Behauptung.

Ich weiß nicht, ob ich Ihnen zufriedenstellend geantwortet habe. Mir erscheint es wichtig, die Kategorien umzubauen. Wir sollten auch wahr und falsch anders denken. Wenn wir beispielsweise mit wahrscheinlich und unwahrscheinlich operieren, kommen wir der Sache näher. Wir müssen immer relative Begriffe haben und es uns abgewöhnen, mit absoluten Begriffen zu arbeiten.

Woran sollen sich Menschen orientieren, die in unserer technowissenschaftlich geprägten Welt leben? Objektivität und Wahrheit können in Ihren Augen keine gültigen Kriterien mehr sein, wenn es darum geht, Möglichkeiten zu realisieren und Wirklichkeiten zu gestalten.

Vilem Flusser: Ich kann mich mit dem Wort Orientierung nicht anfreunden, denn es setzt voraus, daß es eine Lage gibt, die man überblicken und man sich daher für Wege entscheiden kann. Das ist nicht meine Sicht.

Aber Sie sprechen doch vom Entwerfen von Möglichkeiten, was heißt, daß es stets viele gibt. Es sollte also möglich sein, bestimmte Entscheidungen zu fällen.

Vilem Flusser: In den einzelnen Entwürfen kann man sich orientieren. Ich kann mich sehr gut beispielsweise im Entwurf der Biotechnik orientieren. Ich nehme irgendeine Landkarte, beispielsweise den Darwinismus, und sage, innerhalb dieser Landkarte gibt es Mutationen. Dann kann ich mich in der künstlichen Wirklichkeit Darwins orientieren, aber ich kann nicht aus ihr herausspringen und mich damit in einer fraktalen Wirklichkeit orientieren.

Wir müssen hinnehmen, daß wir in der Unordnung, im Chaos leben, denn wer Zufall sagt, sagt auch Unordnung, und wer Zufall sagt, verzichtet auch auf Orientierung. Statt der Orientierung hat man allerdings etwas viel Gewaltigeres, nämlich das Entwerfen. Ich kann mich ja aus dem Chaos entwerfen in eine mich herstellende und von mir hergestellte Ordnung. Ich kann dann sagen, daß ich etwas zwecks partieller Orientierung entwerfe, wobei ich aber immer wieder hinnehmen muß, daß wir verlorene Wesen sind.

Ethik und Politik im Zeitalter der Vernetzung

Mittlerweile ist es ja gängig geworden, daß wir von der Pluralität der Weltzugänge, von der Pluralität der Erkenntnismodelle oder von der Relativität jeder Erkenntnis auszugehen haben. Wir können - am deutlichsten auf der politischen Ebene - aber beobachten, daß Pluralität erhebliche Konflikte mit sich bringt, also beispielsweise die nationalistischen Konflikte, die wir jetzt vor allem Osten beobachten können. Gibt es denn von Ihrem Denken des Entwerfens von möglichen Welten und des Lebens in Kontingenz aus eine Art politischer Utopie, wie denn plurale Welten, die sich ja auch durchaus bekämpfen oder einander widersprechen können, zusammen existieren können?

Vilem Flusser: Ich bin der Meinung, daß das politische Bewußtsein im Begriffe ist, überholt zu werden. Das politische Bewußtseins ist eine Form des historischen Bewußtseins. Solange wir in der Magie und im Mythos gelebt haben, war von Politik keine Rede. Für das magische Bewußtsein ist alles belebt und die Menschen stehen zu allem in einem dialogischen Verhältnis. Jeder Baum hat einen Gott, jede Quelle eine Nymphe. So ein belebter Kosmos, in dem der Mensch nur eines unter vergleichbaren anderen Elementen ist, schließt ein politisches Denken aus.

Das politische Denken entsteht durch die Materialisierung der Welt und durch das Herausklammern der Menschen aus der Welt, wodurch die Frage entsteht, wie ich gut mit anderen Menschen leben kann. Das ist ein, wie Hegel gezeigt hat, dialektisches Thema, denn in dem Moment, in dem ich zu anderen hinausgehe, um mich mit ihnen über das gute Leben zu verständigen, verliere ich mich darin, während ich, sobald ich wieder zurückkehre, die Welt verliere. Hegel schildert mit Recht das unglückliche Bewußtsein als das politische Bewußtsein tout court.

Jetzt aber ist das zu Ende. Wir haben keinen politischen Raum mehr, worin wir einander auf diese Art und Weise begegnen könnten, um zu einem Konsens zu kommen. Stattdessen haben wir reversible Kabel. Das ist eine technische Frage, eine Frage der Schaltung. Die Kommunikationsrevolution besteht in einer Umkehrung des Informationsstromes. Die Informationen gehen nicht mehr vom Privaten ins Öffentliche, sondern sie gehen durch die Kabel zwischen den einzelnen Menschen. Statt eines politischen Bewußtseins und Gewissens gewinnen wir langsam und mühselig ein intersubjektives Bewußtsein, ein Bewußtsein des konkreten Anerkennens des Anderen.

Wir klassifizieren nicht mehr abstrakt die Menschen in Klassen, Rassen und Völker, sondern jetzt geht es um die Anerkennung des Anderen als Anderen und darum, von ihm anerkannt zu werden. Das überschreitet das politische Bewußtsein ebenso, wie einst das politische Bewußtseins das magische Bewußtsein überschritten hat. Das ist kein Fortschritt, sondern eher eine Aufhebung im Hegelschen Sinne. Darauf kann ich jetzt auch nicht eingehen. Das ist das Unangenehme bei Interviews, daß man auf Nichts wirklich eingehen kann.

Jetzt haben Sie mit Recht von den schrecklichen Dingen gesprochen, die sich im Osten wie im Westen zeigen und die Sie mit dem Wort Nationalismus bezeichnet haben. Ich würde das eher mit dem Wort Skinheads charakterisieren. Aber ich glaube nicht, daß das ein politisches Phänomen ist. Das ist ein Rückfall in vorpolitische Situationen. Es entstehen Nationalstaaten, es entstehen wieder religiöse Bewegungen, es entsteht Fremdenfeindlichkeit und darauf folgende Brutalitäten. Es sieht so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen, als gingen wir an den Anfang des 20.Jahrhunderts oder an das Ende des 19.Jahrhunderts zurück.

Das globale elektronische Dorf, von dem McLuhan als Zukunft gesprochen hat, existiert offensichtlich trotz aller Informationsmedien nicht. Es scheint eher einen Widerstand dagegen zu geben, sich vernetzen zu lassen, also die Entfernungen und Differenzen aufzuheben.

Vilem Flusser: So sieht das aus. Aber wenn Sie das näher ansehen, dann spricht schon die Tatsache, daß sich die Geschichte zu wiederholen scheint, dafür, daß es sich nicht mehr um Geschichte handelt.

Das Spezifische an der Geschichte ist doch die Unwiederholbarkeit. Für das Geschichtsbewußtsein ist doch jeder Augenblick einzigartig, und jede verlorene Gelegenheit ist für es definitiv verloren. Der Unterschied zwischen Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit ist der einzige Unterschied zwischen Geschichte und Vorgeschichte. Die Vorgeschichte glaubt an die ewige Wiederkehr des Gleichen. Jetzt haben wir das dumpfe Gefühl einer Wiederkehr des Gleichen. Ich glaube, das ist kein geschichtliches, sondern ein posthistorisches Ereignis. Es ist eine Brutalisierung und eine Perversion des formalen Denkens.

Warum?

Vilem Flusser: Ich habe z.B. ein bißchen über die Pamiat gelesen. Das ist eine slawophile, auf Dostojewski fußende Bewegung, die an die heilbringende Funktion des russischen Volkes glaubt und die Juden umbringen will. Das scheint die Wiederholung einer Idee des 19.Jahrhunderts zu sein. Wenn man näher hinsieht, so sieht es eher wie eine formale Analyse einer gegebenen Situation aus, die nicht durch Vernunft, sondern durch Emotionen geprägt ist. Es ist die Karikatur dessen, was wir von einer posthistorischen Denk- und Handlungsweise erwarten.

Ich glaube also nicht, daß McLuhan tatsächlich widerlegt ist. Ich glaube eher, daß zwischen dem Dorf, von dem er spricht, und den sich historisch entwickelnden Gebilden, die das Dorf überschreiten sollen, eine Periode des Umbruchs und des Chaos erscheint, in der die staatlichen und nationalen Strukturen erst einmal zerbröckeln und sich so verhalten, als würden sie sich multiplizieren, bevor sie in höhere Ebenen eingehen. Jugoslawien zerfällt nicht zugunsten irgendeines Makedonien, sondern zugunsten irgendeiner überregionalen Vernetzung.

Wenn man davon ausgeht, daß Wirklichkeiten entworfen werden, dann gibt es für das Handeln der Menschen überdies eigentlich keinen Sinn, denn auch dieser muß mit erzeugt werden, weil man sich auf nichts berufen kann. Sie nennen das manchmal die absurde Situation des Menschen, der weiß, daß er alles projizieren muß.

Vilem Flusser: Ja, das ist die Sinngebung als Thema des Dialogs. Wenn ich nicht nur durch die Vernunft, sondern existentiell annehme, daß das Ich, die sogenannte Identität, eine Verknotung von Relationen ist, dann ist es gegeben, an verschiedenen Verknotungen teilzunehmen und dabei irgendein eigenes Charakteristikum im Vergleich zu anderen zu bewahren. Ich will das noch deutlicher machen.

Wenn ich mir darüber klar werde, daß ich nichts anderes bin als derjenige, der jetzt mit Ihnen spricht, oder derjenige, der in diesem Hotel ist, oder derjenige, der in der gegenüberliegenden Bank morgen einen Vortrag hält, wenn ich mich als einen Knotenpunkt dieser Relationen ansehe, dann habe ich doch gesagt, daß ich verschiedene alternative Existenzen führe. Gleichzeitig bin ich jemand anderes als Sie oder als jemand von der Bank oder vom Hotel. Das erklärt näher, was ich unter alternativen Welten verstehe.

Ich lebe so oft, wie ich durch Vernetzung an Verknotungen teilnehme. Das ist auch eine Antwort auf diesen scheinbaren Zerfall der Einheiten, den wir in Osteuropa sehen. Vielleicht hatten die Anarchosyndikalisten am Anfang dieses Jahrhunderts Recht. Ich engagiere mich als Schachspieler in einem Schachclub, der eine geschlossene Gesellschaft ist. Aber dies ist er nur solange, wie ich in ihm drin bin. Im nächsten Moment engagiere ich mich als Vater eines Kindes in einer Volksschulverwaltung, die auch ein geschlossenes System ist. Geschlossen ist sie aber nur als System. Für mich sind der Schachclub und die Volksschulverwaltung geschlossene Systeme, zwischen denen ich wie von einer alternativen Situation zur anderen als ein Quantum hinüberspringe.

Wir haben aber doch immer das Bewußtsein, dabei dieselben zu bleiben, auch wenn wir uns in verschiedenen Wirklichkeiten oder Systemen realisieren?

Vilem Flusser: Ja, aber wir wissen doch jetzt, daß Identität und Anderssein einander implizieren. Ich habe ja gesagt, daß ich das Bewußtsein des Selbst im Verhältnis zu einem Anderen habe. Ich kann nur sagen, daß ich zugleich das Mitglied eines Schachclubs und eines Schulvereins bin, wenn ich dies einem anderen mitteilen kann. An und für sich gibt es dieses Bewußtsein nicht. Wenn ich in einen Schachclub eintrete und mich in ihm engagiere, dann vergesse ich mich. Selbstvergessenheit ist doch das Charakteristikum eines solchen Eintritts. Das Selbstbewußtsein entsteht erst, wenn ich mich davon entferne und jemand anderem darüber Rede und Antwort stehe.

Sie sprachen davon, daß man in bestimmten Vernetzungen lebt, daß man selbst jemand ist, der aus vielen Vernetzungen besteht und irgendwie doch einer ist. Wäre es denn für eine Ethik unserer Zeit eine Maxime zu sagen: Knüpft Vernetzungen! Macht möglichst viele Vernetzungen!?

Vilem Flusser: Ich glaube, die Ethik ist implizit in allem, was ich gesagt habe. Wenn ich nur für jemanden anderen da bin, und jeder andere nur für mich da ist, dann ist darin eine Ethik der Verantwortung, des Daseins für den Anderen, impliziert. Das ist der Tod des Humanismus.

Der Humanismus ist eine Ethik, die sich auf eine Klasse, beispielsweise auf die Klasse Mensch, bezieht. Das ist der berühmte Satz: "Ich liebe die Menschheit, aber was mir auf die Nerven geht, sind die Leute." Diese Idee der allgemeinen Verantwortung stirbt. An deren Stelle tritt eine persönliche, intersubjektive Verantwortung. Die Ethik erhält dann das Kriterium der Nähe. Je näher mir jemand örtlich, zeitlich, aber auch thematisch steht, desto mehr Verantwortung trage ich für ihn und desto mehr Verantwortung trägt er für mich.

Diese Verantwortung ist etwas Gegenseitiges. Das ist etwas sehr Altes. Man nennt das Nächstenliebe. Durch die Hintertür kommt ein neuer Begriff der Nächstenliebe, weil ein neuer Begriff der Nähe entstanden ist. Die Vorsilbe Tele-, die wir in der Telematik und in vielen anderen Techniken finden, bedeutet das Näherbringen des Entfernten. Ethisch heißt das, daß mich das Ferne nichts angeht. Ich muß es näherbringen, damit es mich angeht.

Andererseits kann man doch sagen, daß wir durch die Telepräsenz, also wenn wir im Fernsehen irgendwelche sterbenden Kinder oder Kriege sehen, einen coolen Blick einüben. Wir sind Beobachter wie bei einem Theaterstück, aber es erweckt in uns keine Gefühle, wir sind nicht engagiert, wir sind Zeugen eines Ereignisses, ohne davon betroffen zu werden. Durch die Teletechnologien verschwindet zwar die Ferne und rückt uns näher, aber durch dieses Näherrücken wird anscheinend diese Nächstenliebe eher verhindert, zumindest aber erschwert.

Vilem Flusser: Sie haben Recht, aber Sie haben ausgeklammert, daß ich gesagt habe, es sei ein verantwortliches Verhältnis.

Wenn ich die Kinder in Abbessinien sterben sehe, dann kann ich dafür nicht verantwortlich sein, weil ich keine Kompetenz besitze, diese Situation in einem bedeutendem Sinne zu verändern. Das Neue an der Ethik, die ich sehr schlecht versuche auszuarbeiten, ist zu zeigen, daß Verantwortung etwas mit Kompetenz zu tun hat.

Das ist für mich ein Modell der Ethik der Zukunft: Sich seiner Begrenztheit bewußt zu werden und durch die Begrenztheit meiner Fähigkeiten dazu genötigt zu werden, andere anerkennen zu können. Das ist eine sehr bescheidene Ethik, denn sie muß ja auch sagen: Das geht mich nichts an, dafür bin ich nicht kompetent! Ich bin nicht dafür verantwortlich, ob in der äußeren Mongolei Demokratie eingeführt wird oder nicht. Es ist ein verantwortungsloses Geschwätz, wenn ich mich jetzt für die Befreiung von Tibet engagiere. Hingegen bin ich dann verantwortlich, wenn in Südfrankreich, also da, wo ich jetzt lebe, Menschen Fremde prügeln. Ich muß irgendetwas innerhalb meiner Kompetenz tun, um das einzudämmen.

Was ich gesagt habe, ist nicht gut gesagt, weil ich mich emotional habe hinreißen lassen, was ich nicht hätte tun sollen. Aber die Proxemik, die Nähe, ersetzt, glaube ich, den verwässerten Humanismus.

Diese Ethik des Konkreten liegt doch aber auf derselben Ebene wie die Nationalismen, von denen wir vorher gesprochen haben, die sich auch auf ihre Nähegemeinschaft zurückzuziehen beginnen.

Vilem Flusser: Dagegen muß ich mich wehren. Das ist total unähnlich, denn diese Menschen schließen sich in eine Verkettung ein, während ich doch versucht habe zu sagen, daß die Verantwortung und die Freiheit darin besteht, daß ich zugleich an verschiedenen, einander überdeckenden Systemen teilnehmen kann. Dazu muß ich noch etwas sagen.

Wenn ich in die Lebenswelt hineingeworfen werde, werde ich in Bindungen hineingeworfen. Ich bin durch die Tatsache, daß ich in eine Familie, in eine Klasse oder in eine historische Situation hineingeboren wurde, gebunden. Ich glaube, die Freiheit besteht darin, sich von diesen Bindungen zu befreien und neue freiwillig einzugehen, was nicht ausschließt, daß ich die gefundenen Bindungen aufhebe und zu gemachten gestalte.

Aber der Nationalismus ist, wenn Sie gestatten, eine Schweinerei, weil er gegebene Bindungen heiligt, während die menschliche Würde darin besteht, die gegebenen Bindungen als gemachte aufzudecken.

Wir sind wieder am Ausgangspunkt. Wenn ich annehme, ich bin als Kroate geboren und werde jetzt Kroatien heiligen, dann bin ich ein Schwein. Wenn ich hingegen mir dessen bewußt werde, daß Kroatien eine Fiktion ist, daß das kroatische Volk eine Fiktion der Tradition ist, dann bin ich in der Freiheit, aus dieser Fiktion auszutreten und dann vielleicht einige Bindungen, die mir diese Fiktion bietet, wieder auf mich zu nehmen. Das stinkt natürlich auch dann, denn warum sollte ich dann ausgerechnet Kroate sein und nicht Haussa?

Florian Rötzer sprach im Oktober 1991 mit Vilém Flusser.