Das Ende des "Goldenen Zeitalters" des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus

Seite 2: Fordismus und Keynesianismus in der Krise

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Was führte nun zu der Anfang der 70er ausbrechenden Krise dieses scheinbar perfekten, marktwirtschaftlichen Wirtschaftswunderlandes? Für die nahezu alle westlichen Industrieländer spätestens seit 1973 erfassenden wirtschaftlichen Verwerfungen etablierte sich der Begriff der Stagflation - einer überhand nehmenden Inflation, die mit einer stagnierenden, wenn nicht gar rückläufigen Konjunktur verbunden war. Beide Phänomene standen in einer engen Wechselwirkung.

Die inflationäre Dynamik ist ursächlich auf die fallende Profitrate der Unternehmen zurückzuführen. Seit der zweiten Hälfte der 60er fielen insbesondere in den USA die Gewinne in Relation zu dem von den Unternehmen eingesetzten Kapital - sozusagen die "Verzinsung" des Industriekapitals - immer weiter ab.

An dieser Stelle scheinen ein paar grundsätzliche Erläuterungen angebracht. Der Gewinn ist das entscheidende Prinzip, der innerste Antrieb einer Marktwirtschaft - wenden Unternehmen doch ihr Kapital in der Produktion von Waren ausschließlich zu dessen Vermehrung durch deren Verkauf auf dem Markt auf. Die Produktion von Waren ist somit nur Mittel zum Zweck: zur Vermehrung von Kapital. Dies ist ein ökonomischer Kreislauf, der seit Beginn der kapitalistischen Produktionsweise besteht: Kapital, eingesetzt zur Produktion von Waren, muss nach deren Veräußerung einen Gewinn abwerfen. Der nun um den Gewinn vergrößerte Kapitalbestand wird wiederum in die Produktion von noch mehr Gütern eingesetzt. Die Auswirkungen des Reinvestierens von Gewinnen zwecks Erhöhung der Produktivität (und der Konkurrenzfähigkeit) eines Unternehmens erläuterten die Theoretiker Gerry Gold und Paul Feldman in ihrem Buch A House of Cards:

Durch Kapitalinvestitionen erhöhte Produktivität lässt die Profitrate fallen, da weniger Arbeiter als Quelle des Werts verfügbar sind, in Relation zum totalen Ausmaß der Investitionen. Zur selben Zeit bringt ein erhöhter Ausstoß der Produktion eine Reduktion der Kosten, und folglich auch des Werts, den jede Ware verkörpert, mit sich. Wenn die Preise fallen, müssen immer mehr Waren abgesetzt werden, um die Einkommen aufrecht zu erhalten. Wachstum ist deswegen absolut essentiell, um die Profite aufrecht zu erhalten oder gar zu erhöhen. Das ist der Kernpunkt der Probleme des Kapitalismus.

Gerry Gold und Paul Feldman

Entgegen all dem, was unsere Banker und Finanzberater uns in den letzten Dekaden einzureden versuchten, basiert der reelle Wert von Waren und Dienstleistungen immer noch auf der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Wichtig ist hierbei auch die gesamtgesellschaftliche Perspektive. Mit der erhöhten Produktivität geht auch die Beschäftigung in den etablierten Industriezweigen zurück. Neue, wiederum durch technischen Fortschritt erschlossene Industriezweige müssen diesen Arbeitskräfteüberschuss aufnehmen können, um die Stabilität des kapitalistischen Systems aufrecht erhalten zu können. Dem Kapitalismus wohnt also gleich in mehrfacher Hinsicht ein Zwang zur permanenten Expansion inne, der sich im öffentlich fetischisierten "Wirtschaftswachstum" äußert, und dessen Kern die gewinnbringende Investition von Kapital, die Kapitalverwertung, bildet.

US-amerikanische, deutsche und japanische Profitrate im produzierenden Gewerbe. Grafik: IMF

Wie aus der Grafik ersichtlich wird, ging seit Ende der 60er bis in die 80er der kapitalistische Super-GAU vor sich, die Profitrate fiel in den USA beständig. Hier wirkte tatsächlich der von Gerry Gold und Paul Feldman im obigen Zitat dargelegte, durch konkurrenzvermittelte Produktivitätssteigerungen ausgelöste, tendenzielle "Fall der Profitrate". Die - in Relation zum eingesetzten Gesamtkapital - sinkenden Gewinne resultieren andrerseits aber auch aus der Erschöpfung der "Inneren Expansion" des Kapitalismus, von der oben die Rede war. Die marktwirtschaftlich neu erschlossenen Lebensbereiche (Haushalt, Unterhaltungsindustrie, Tourismus) und Industriezweige (PKWs, Zivile Luftfahrt, Kunststoffe) erlebten nach einer Phase stürmischer Eroberung eine gewisse Marktsättigung, in der solch hohes Wirtschaftswachstum wie in den 50ern oder 60ern nicht mehr möglich war. Hieraus resultiert gerade die der Inflation beiwohnende, ökonomische Stagnation, die die frühen Siebziger charakterisierte. Die neuen Märkte waren erschlossen, die Infrastruktur aufgebaut und die Kriegsschäden des Zweiten Weltkriegs längst repariert. Es fehlten schlicht weitere Expansionsmöglichkeiten für das anlagefreudige Kapital.

Konfrontiert mit weiterhin erhobenen Gewerkschaftsforderungen nach substanziellen Lohnerhöhungen, gingen die Unternehmen dazu über, die Mehrausgaben für die Gehälter auf die Preise ihrer Waren draufzuschlagen. Eine Art lohnpolitisches, die Inflation antreibendes "Wettrüsten" setzte ein, in dem Gewerkschaften ihre Lohnforderungen an die immer schneller galoppierende Inflation anzupassen trachteten. Hinzu kam 1973 die "Ölkrise", als die OPEC den Preis für Erdöl massiv zu erhöhen versuchte und somit der Teuerung in den Industriestaaten weiteren Auftrieb verschaffte.

Zudem - und diese Entwicklung war und ist bis zum heutigen Tage entscheidend - erwies sich der immer enger mit der Industrie verzahnte, zu höherer Produktivität und somit zu kurzfristigen Wettbewerbsvorteilen führende, wissenschaftlich-technische Fortschritt als ein zweischneidiges Schwert. Konnten Produktivitätssteigerungen und neue Technologien bis in die 70er Jahre zur Erschließung neuartiger Märkte beitragen und immer mehr Arbeitsplätze schaffen, als durch Rationalisierungen in älteren Industrien wegfielen, so kippt diese Entwicklung ab 1973. Ab diesen Zeitpunkt - dem letzten Jahr mit Vollbeschäftigung innerhalb der OECD - kehrt die seit Dekaden nicht mehr in den Industrieländern gekannte Massenarbeitslosigkeit zurück. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden konnten.

Neue Industriezweige, wie die Mikroelektronik und die IT-Branche, beschleunigten diese Tendenz noch weiter, da die neuen Technologien weitaus weniger Arbeitsplätze schufen, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurde. Diese eigentlich positive Entwicklung - es können mehr Produkte in kürzerer Zeit von weniger Menschen hergestellt werden - trug somit zur Krise der kapitalistischen Volkswirtschaften in den 70ern bei. Mit der zunehmenden Massenarbeitslosigkeit, mit der abnehmenden Menge an Arbeitskraft, die in der Warenproduktion aufgewendet werden muss, untergräbt unsere kapitalistische "Arbeitsgesellschaft" ihr eigenes Fundament. Der Kapitalismus könne sich "an alles anpassen, nur nicht an sich selbst", konstatierte der Krisentheoretiker Robert Kurz.

Das durch keynesianistische Wirtschaftspolitik und fordistische Produktionsmethoden gekennzeichnete, kapitalistische Weltsystem befand sich also in den 70ern in einer fundamentalen Krise, die aus der Erschöpfung der "inneren Expansion" und einer fallenden Profitrate resultierte und in unübersehbare Stagnationstendenzen und die aufkommende Massenarbeitslosigkeit mündete. In Kern waren es die selben Kräfte, die zuvor das stürmische Wachstum des Kapitalismus in seinem "Goldenen Zeitalter" befeuerten, die nun auch dessen Krise einleiteten: Die durch die Konkurrenz angetriebene, produktivitätssteigernde Rationalisierung und Automatisierung der Produktion sollte - wie wir noch später genauer sehen werden - ab den späten 80er einen immer größeren Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung marginalisieren.