Das Fehlen von "Normalität" ist nicht das Problem

Steigende Mieten sind schlimmer als leere Konsumtempel. Bild: cocoparisienne auf Pixabay / Public Domain

Corona und kein Ende: Spaziergang mit Goethe und der Einsicht, dass haltlose Heilsversprechen die wahre Katastrophe sind

Mit der Impfung zurück in unser altes Leben, in die Öde des Konsumterrors, in die Gängelung der Konzerne, ins Big Business, in die Aldiisierung unsres Daseins. Ist es das, was wir wollen, irgendwie?

Der Biedermann 2.0 vielleicht. Umfragen zeigen indessen: Viele unserer Zeitgenossen haben keine Lust auf ein "Weiter so". Nach einem Jahr Corona, nach zwölf Monaten Innehalten: Zeit zum Nachdenken, Gelegenheit zur Reflexion, da sollte etwas mehr herauskommen als der Ruf: "Ich will mein altes Leben zurück!"

"Vor Corona" ist passé, diese Zeit gibt es nicht mehr. Wer sie zum Maßstab aller Dinge macht, liegt falsch. Wohin soll die Reise gehen? Derzeit wird unser Horizont in kranker Weise eingeschnürt, notorisch verengt auf Fragen um tägliche Inzidenzen, aktuelle Verordnungen, Fallzahlen Infizierter und Gestorbener, lähmende Rechnereien um gelieferte und fehlende Impfdosen… Es ist zum Verrücktwerden.

Ohne Ideen - keine Konzepte

Besonders leidig treten Virologen in Erscheinung, die sich in der Krise ins Licht der Öffentlichkeit gestellt sehen und so endlich mal aus dem Schattendasein der Institute und Labore heraustreten können. Für einige eine offenkundige Überforderung, wie es scheint.

Die Krise beschert uns die Einsicht: Überall mangelt es an Ideen. Ohne Ideen keine Konzepte! Alles dicht machen ist eine Maßnahme, aber kein Konzept. Vom Licht am Ende des Tunnels reden, ist Wording, verrät aber keinen Plan. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, gibt seit Monaten die graue Eminenz der Krise, aber das regierungsnahe RKI hat es nicht geschafft, die tatsächlichen Infektionsherde und -wege aufzuzeigen und in Handlungskonzepte umzusetzen.

Vertreter innovativer Disziplinen, etwa aus den Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften oder der Zukunftsforschung und Partizipation, sitzen nicht mit in den notfälligen "Expertenrunden", die inzwischen den Vertrauensschwund beschleunigen statt eindämmen. Und weil auch immer nur Dieselben zusammensitzen, kommt am Ende auch immer nur Dasselbe heraus.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) spricht gerne von einer "erwartbaren Knappheit", wenn es um den verpatzten Impfstart geht - die erwartbar im vergangenen Herbst herannahende "dritte Welle" der Pandemie hat er ebenso wie seine Länderkollegen in der national verordneten Weihnachtsamnesie erfolgreich verdrängt, um schlussendlich wieder den Beweis zu erbringen, wie fahrlässig die wertvolle Ressource Zeit von den Verantwortlichen vertan wurde.

Eine millionenschwere Anzeigenkampagne der Regierung bietet - da Impfstoff knapp ist - zwar verbale Beruhigungsspritzen und trommelt dem Wahlvolk Durchhalteparolen ein, das erinnert an Orwells 1984, aber die rosa Hoffnungspille ersetzt auch keinen Plan.

"Normalität" als Todesschlaf

Jetzt ist April, und alles Volk sehnt sich nach Licht und Perspektive. Goethe hat in seiner unnachahmlichen Weise (kleine Reminiszenz kurz nach Ostern!) den Drang nach frischer Luft im Osterspaziergang des Protagonisten mit seinem Famulus Wagner gleichsam als Auferstehung von den Toten gestaltet. Das liest sich angesichts eines Jahres unter Corona-Bedingungen höchst modern (Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Vor dem Tor, Faust zu Wagner):

"Sie feiern die Auferstehung des Herrn,

Denn sie sind selber auferstanden,

Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,

Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, (...)

Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

Sind sie alle ans Licht gebracht."

Der Sucher Faust wird sich beim Spaziergang einer Sache bewusst: Die "Normalität" ist ein todesähnlicher Zustand. Die "Normalen" sind in Goethes Gedicht nicht wirklich Lebende: Aus der Dumpfheit ihrer Gemächer, aus der Enge ihrer Stuben, aus dem Druck der beruflichen Fesseln steigen hier Gespenster empor, recken sich nach Offenheit und Licht.

Es sind Leblose, die ihrer Starre entfliehen. Das sogenannte "Leben" als Grabesruhe, der Alltag als Dahindämmern in einer Schattenwelt. Eine grausige Fiktion von Leben. Eine moderne Deutung.

Leben wir - oder sind wir schon tot?

Während wir der weltweiten Pandemie, noch dazu einer geist- und trostlos schwankenden Politik in der Krise mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind, füllen sich die großen Player die Taschen und klettern die Mieten im deutschen Wunderland unaufhaltsam nach oben. Der kaputtgesparte Gesundheitssektor kostet inzwischen Leben: Schätzungen zufolge, so berichtet die Zeitschrift Paralife, haben weltweit derweil rund 17.000 Angehörige des medizinischen Personals durch eine Corona-Infektion ihr Leben verloren - zumeist, weil sie sich selbst nicht ausreichend schützen konnten. "Ein echtes Armutszeugnis für die 'Gesundheitswesen dieser Welt", so das Blatt in seiner jüngsten Ausgabe (1/2021).

Namentlich in Deutschland ein hausgemachtes Desaster. Wo man auch hinschaut, Anzeichen globaler Entfesselung zusammen mit Wegschauen der gewählten Eliten im eigenen Land, die sich gerne selbst die Nächsten sind. Und dazu so schlaff und inkompetent re(a)gieren wie kaum jemals eine Politiker-Generation nach 1945.

Fazit: Nicht "Mutti", nicht Lothar Wieler, auch nicht NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), der gerade mit neuestem Wording vom "Brücken-Lockdown" zu punkten versucht haben es geschafft, in der Ein-Jahrespause ein auch nur halbwegs probates "Wohin?" vorzuweisen, das etwas Anderes wäre als ein "Wie-schön-es-früher-einmal-war", geschweige denn einen ausgearbeiteten Fahrplan mit einem vertrauenerweckenden Fahrtziel - und sei es auch nur ein vernünftige Zwischenstation. Wir rollen, begleitet von geisterhaften Lautsprecherdurchsagen, ins Nirgendwo.

Eins aber steht fest, und wenigstens da regiert unser freier Wille: Wir wollen kein Zurück in den Todesschlaf der "Normalität". Nein, um Himmels willen! Das dumpfe deutsche Gewese lassen wir hinter uns, abgemahnt und ernüchtert durch ein Jahr Corona!

Und wir lassen uns die amtliche Meierei auch nicht durch Neusprech schönreden, ebenso wenig, wie wir uns den kleinen Piekser jetzt als "Zukunft" andrehen lassen.

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