Das Geheimnis erzeugt Wirklichkeit als Fiktion

Eva Horns Studie "Der geheime Krieg - Verrat, Spionage und moderne Fiktion"

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Vielleicht sind es seine früheren Tätigkeiten als Diplomat und als Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft, die Peter Dale Scott zu einem so exzellenten Erforscher jener Bereiche des Politischen gemacht haben, die sich der öffentlichen Analyse gemeinhin entziehen und deshalb einer besonderen Interpretationskunst bedürfen: die Welt der Geheimdienste und der klandestinen Aktivitäten im Namen des Staats. Scott bezeichnet diese Bereiche als “deep politics” und hat das, was sich in diesen (Un-)Tiefen tut, in zahlreichen Studien untersucht (zuletzt auf deutsch: "Die Drogen, das Öl und der Krieg").

If history is what is recorded, then deep history is the sum of events which tend to be officially obscured or even suppressed in traditional books and media. Important recent deep events include the political assassinations of the 1960s, Watergate, Iran-Contra, and now 9/11. All these deep events have involved what I call the deep state, that part of the state which is not publicly accountable, and pursues its goals by means which will not be approved by a public examination.

So hat Peter Dale Scott sein Forschungsfeld unlängst umschrieben, in einer Studie über die Parallelen des John F. Kennedy-Attentats und der 9/11-Anschläge und deren nachhaltige Nicht-Aufklärung (JFK, 9/11 and War). Die strukturellen Ähnlichkeiten – von der umgehenden Präsentation der Täter, über die Vertuschungen der untersuchenden Regierungskommissionen bis zu unmittelbar folgenden Kriegen (Vietnam bzw. Afghanistan/Irak) und einem Boom in der Heroinproduktion – sind in der Tat kaum zu übersehen.

Auch wenn die Geheimdienste moderner Nationen zumindest in demokratisch verfassten Ländern einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen, lädt der konspirative Charakter ihrer Tätigkeiten dazu ein, jenseits der Grenzen der Rechtstaatlichkeit zu operieren. Wenn derlei Übergriffe nicht mehr völlig geheim bleiben und zum öffentlichen Skandal werden, kollidieren die Interessen der Machtpolitik mit den Rechtsstaats- und Öffentlichkeitsprinzipien der Verfassung. Während in der demokratischen Politiktradition die Sorge um das Gemeinwohl vollkommener Öffentlichkeit unterworfen wird, ist die Geheimpolitik für den Machterhalt (und seine Theoretiker von Machiavelli über Hobbes zu Carl Schmitt) ein unverzichtbares “Geschäfts- und Betriebsgeheimnis” - weshalb es den Machteliten auch erlaubt sein soll, die Massen mit noblen Lügen (so der Schmitt-Schüler und philosophische Ziehvater der “Neocons” Leo Strauss) darüber zu täuschen.

Dass solche verborgene “Tiefenpolitik” ein entscheidendes Funktionsprinzip des Herrschens ist und nicht zur Debatte gestellt werden kann, musste einst schon der römische Senator Gallus erfahren, als er die Rolle des Magistrats gegenüber den Machtbefugnissen des Kaisers stärken wollte. Sein Antrag wurde von Kaiser Tiberius vom Tisch gewischt, denn – so notierte Tacitus in den Annalen – “es bestand kein Zweifel, dass dieser Antrag tiefer zielte und die geheimen Grundlagen der Alleinherrschaft (arcana imperii) in Frage gestellt wurden”.

Dass die Moderne mit der Demokratisierung des Politischen und dem Übergang der Rolle des Souveräns von Kaisern und Monarchen an das Volk diese geheime Machtausübung formal abschaffte, brachte sie freilich nicht zum Verschwinden. Als defensive Schutzmaßnahme leben Geheimhaltung und Geheimdienste ebenso fort wie verdeckte Operationen und Überwachung als Mittel der Stabilisierung und Sicherung staatlicher Ordnung. Sie eröffnen so weiterhin einen unkontrollierten, rechtsfreien Raum – und sie stehen weiterhin, wie zu Zeiten des Imperators Tiberius, nicht zur Debatte.

Wären nicht Forscher wie Peter Dale Scott, die versuchten, die Spuren dieser “unsichtbaren” Politik zu lesen und Strukturen aufzudecken, sie bliebe, da Diskretion ebenso wie Tarnung und Täuschung zu den Grundlagen ihres Geschäfts gehören, tatsächlich unsichtbar. Da selbst akribische Zeithistoriker, die sich wie Scott ein halbes Forscherleben mit Ereignissen wie den Kennedy-Morden oder der Iran/Contra-Affäre befassen, gegen eine Zitadelle der Geheimhaltung und Vertuschung zu kämpfen haben, wird die konkrete Aufklärung dieser Fälle Historikern der Zukunft vorbehalten bleiben - wenn sie denn, irgendwann, Zugang zu allen klassifizierten Dokumenten erhalten. Bis dahin bleiben nur die Analyse von Indizien, das Lesen von Spuren, die Erkennung von Mustern – und Scouts wie Scott, die versuchen, den Nebel aus Geheimhaltung und Desinformation zu lichten.

Über Fiktionen Licht ins Dunkel der politischen Geheimnisse bringen

Einen ganz anderen Ansatz, geheimen Staatsaktivitäten auf die Spur zu kommen, hat Eva Horn, Kulturwissenschaftlerin an der Universität Basel, in ihrer umfangreichen Studie “Der geheime Krieg – Verrat, Spionage und moderne Fiktion” gewählt. Statt zu versuchen, die Realgeschichte anhand von Indizien und Fakten aufzudecken, hat sie sich ausschließlich den Fiktionen zugewandt: Erzählungen, Romanen und Filmen, die die Logik des Geheimen nicht aufbrechen, sondern analysieren. Sie zielt dabei nicht auf die Enthüllung, die Aufdeckung der “wirklichen Ereignisse” hinter den Verlautbarungen der Regierungen, sondern auf die Struktur und Logik des geheimen Staatswissens und der Geheimdienste.

Wie gewinnen sie ihr Wissen, wie unterscheiden sie Information von Spekulation, Theoriebildung von Paranoia, welcher Zielsetzung und innerer Logik folgen sie – diesen Fragen geht die Autorin nach, allerdings in erster Linie nicht anhand von Fakten und Dokumenten, sondern anhand der Prosa, die Agenten, Verräter, Ex-Geheimdienstler und Literaten darüber verfasst haben. Diese Fiktionen, so die Grundthese des Buchs, sind “die luzideste Möglichkeit, in der Moderne über das politische Geheimnis zu sprechen.” Weil Fiktion den Anspruch von Historikern und Journalisten aufgibt, die eine historische Wahrheit zu präsentieren, sei sie “besser als alle anderen Diskursformen geeignet…Einsicht in das Funktionieren des Geheimnisses zu liefern, ohne es zu lösen”.

Für diese Herangehensweise spricht, dass die letzte staatliche Untersuchungskommission zur Ermordung John F. Kennedys nicht etwa durch Dokumente oder Fakten provoziert wurden, sondern von Oliver Stones Spielfilm “JFK” :

Fiktionen wie diese sind Politik, denn diese und nur diese Form ist oft die einzige Möglichkeit, in aller Öffentlichkeit und Deutlichkeit von dem zu sprechen, was das geheimste und gefährlichste Wissen des Staats ist.

Schon Erskine Childers nutzt mit seinem Roman “The Riddle of the Sands” (1903), der das Genre des Spionagethrillers begründet, diese Möglichkeit – der Bericht zweier Segler, die an den ostfriesischen Inseln Vorbereitungen für eine deutsche Invasion beobachten, soll sowohl die eigene Regierung in Zugzwang bringen als auch dem Feind signalisieren, dass sein Vorhaben durchschaut ist. Verdeckte Aufklärung, wie sie die beiden segelnden Studenten treiben, gehört zu dieser Zeit noch nicht zu den Tätigkeiten der gerade im Aufbau befindlichen Geheimdienstorganisationen. Abenteurer, Hobby-Agenten und Privat-Spione betreiben dieses Geschäft – und ihre Bücher werden, wie “The Riddle of the Sands” zum Lehrmaterial der Geheimdienstausbildung.

Von der Raumaufklärung der Kolonialzeit wie in Rudyard Kiplings “Kim”, über die Theorie des Partisanenkriegs und der asymmetrischen Kriegsführung, die Thomas Lawrence (“Lawrence of Arabia”) in seinen “Sieben Säulen der Weisheit” darlegt, bis zu ehemaligen Geheimdienst-Agenten wie Graham Greene oder John Le Carré, die fiktional zum Ausdruck bringen, was faktisch nicht gesagt werden darf: die Verzahnung und Interdependenz der Geheimdienste im Kalten Krieg, die unlösbare Verstrickung von Freund und Feind.

Das zerbrochene Spiegelkabinett des Kalten Kriegs hat uns – gewöhnt an einen rationalen, staatsförmigen und hoch gerüsteten Feind - in einen Dschungel von unüberschaubaren Vernetzungen und unwahrscheinlichen Allianzen entlassen… Den Feind nicht nur zu kennen, sondern auch zu verstehen, ist eine Aufgabe von Geheimdiensten – aber auch eine Aufgabe informierter Bürger, die sich nicht mit reflexhafter Furcht und dem politischen Ruf nach mehr “Heimatschutz” zufrieden geben wollen.

Dazu scheint eine Auseinandersetzung mit den Fiktionen, die staatlicherseits bemüht werden, um ein möglichst eindeutiges Feindbild zu modellieren, unabdingbar. Und als “Lehrbücher”, die dieses Verständnis des Fiktionalen der Politik befördern, könnte die untersuchte Literatur der Agenten, Verräter und Desinformanten dienen, die deutlich macht, dass die “Wahrheit” stets komplexer und komplizierter ist, als das, was für sie ausgegeben wird.

Wer nach Enthüllungen der Realgeschichte sucht, wird in diesem Buch von Eva Horn wenig finden - und müsste sich eher mit der akribischen Puzzlearbeit eines Peter Dale Scott befassen. Was aber die Wissensstruktur und Systematik der Geheimpolitik, des Verrats und der Desinformation betrifft, eröffnet “Der geheime Krieg” einen Fundus. Und animiert nicht zuletzt dazu, die Spionage- und Geheimdienstliteratur nicht nur als bloße Unterhaltung zu betrachten, sondern auch als Dokumentation einer undokumentierbaren (weil geheimen) Realität. Als Version einer Wahrheit, die eben eindeutig und definitiv nicht zu haben ist, weil selbst das, was über sie bekannt wird, stets unter dem Vorbehalt der Tarnung, Desinformation und Counter-Intelligence steht.

Wie nah unterdessen die “fiktive” und die “faktische” Version der Realität zusammenrücken, zeigt ein aktuelles Beispiel zu dem wohl größten politischen “Betriebs-und Geschäftsgeheimnis” unserer Tage, der Hintergründe des 11. September 2001. In den letzten Monaten tauchten in vielen größeren US-Medien erstmals Berichte über das sogenannte Doomsday-Plane. eine in einer Boeing 474 untergebrachte militärische “Command & Control”-Station, die trotz Flugverbots über Washington gesichtet und gefilmt wurde (CNN-Video). Und im September erschien der 9/11-Roman “Das fünfte Flugzeug” von John S. Cooper (Verlag Kiepenheuer & Witsch), dessen Plot ebenfalls um eine in der Nähe der entführten Maschinen fliegende Boeing gestrickt ist. Nicht als Enthüllungsbuch, sondern als spannendes Road Movie, “Thriller, Satire und Polit-Groteske in einem”.

Ob nun die Suche nach dem faktischen mystery plane im Internet oder die Lektüre dieses Thrillers für die Wahrheitsfindung in Sachen 9/11 dienlicher ist, lässt sich denn auch schon fast nicht mehr sagen: “Ein bisschen”, vermerkt der Rezensent auf Spiegel Online, “ist 'Das fünfte Flugzeug' wie Internet zum Mit-an-den-Baggersee-Nehmen. Es ist weniger verwirrend und zugleich deutlich unterhaltsamer.”

Auch Eva Horns Buch zum geheimen Krieg ist mit Sicherheit weniger verwirrend und unterhaltsamer, als ein Studium der dokumentierten Geschichte der Geheimdienste – und es bringt in seiner Strukturanalyse des politischen Geheimnisses Erkenntnisgewinne, die anders als in einem Rekurs auf das Fiktive gar nicht zu gewinnen sind, denn:

Das Geheimnis erzeugt Wirklichkeit als Fiktion – und erfordert Fiktionen, um dem Wirklichen auf die Spur zu kommen.

Eva Horn : Der geheime Krieg - Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Fischer-Verlag, 2007, 540 Seiten , 14,95 EU