Noble Lügen
Vierzig Jahre danach wurde der Tonkin-Zwischenfall, der zum Anlass der US-Invasion in Vietnam genommen wurde, definitiv als Fälschung entlarvt
"Es wird nie soviel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd", hatte Reichskanzler Otto von Bismarck einst zu Protokoll gegeben. Dass freilich auch vor dem Krieg kräftig gelogen wird, zeigte nicht erst die jüngsten Irak-Invasion. Diese war freilich der Grund, dass eine von Historikern im Jahr 2001 im Detail aufgedeckte Kriegslüge – der erfundene Angriff auf US-Kriegsschiffe im Golf von Tonkin im August 1964, der als Vorwand für den US-Einmarsch in Vietnam benutzt wurde – nicht veröffentlicht werden konnte, um die in den Medien lancierte Erfindung der Massenvernichtungswaffen des Irak nicht durch historische Analogien zu gefährden.
Dass es bei dem angeblichen Zwischenfall im südchinesischen Meer um einen Propagandatrick der US-Regierung handelte, hatten schon 1971 die „Pentagon-Papers" deutlich gemacht, die der „Whistleblower“ Daniel Ellsberg an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Jetzt hat ein Historiker der „National Security Agency“ (NSA), Robert Hanyok, herausgefunden, dass abgehörte Funksprüche von der NSA absichtlich falsch wiedergegeben und übersetzt wurden, um als Vorwand für den Kriegseintritt dienen zu können.
Die New York Times berichtet, dass die Arbeit des NSA-Historikers vor vier Jahren in einer haus-internern Publikation erschien, aber dann geheim gehalten wurde, weil die NSA „unangenehme Vergleiche mit den mangelhaften Geheimdiensterkenntnissen zur Rechtfertigung des Irakkriegs“ befürchtete. Wohl nicht zu unrecht – auch wenn die damaligen Fakes der NSA weitaus schwerer zu durchschauen waren als die plumpen Fälschungen über die irakischen Urankäufe in Niger. So war zum Beispiel ein am 4. August 1964 abgehörter nord-vietnamesischer Funkspruch, in dem von dem „Verlust von zwei Seeleuten“ die Rede war, als „Verlust von zwei Schiffen“ wiedergegeben worden, um eine Seeschlacht zu suggerieren. Wenn es stimmt, was der damalige Verteidigungsminister McNamara, der vor einigen Jahren ein spätes „mea culpa“ über seine Fehler im Vietnamkrieg abgelegt hat, zu den neuen Enthüllungen sagt - dass ihm diese Fälschungen nicht bekannt gewesen seien –, dann wurde er, ähnlich wie 40 Jahre später Außenminister Powell, von einer bellizistischen Verschwörung im Weißen Haus hinter’s Licht geführt. Auch Präsident Johnson selbst soll von der Fälschung seinerzeit nichts gewusst haben - sie diente ihm aber dazu, um wie sein Nachfolger G.W.Bush vom Kongress den Freibrief zu erhalten: "to take all necessary steps, including the use of armed force" – und ohne weitere parlamentarische Kontrolle sowie ohne offizielle Kriegerklärung nach Gusto loszuschlagen.
Dass derlei „noble Lügen“ dem guten Machthaber und der herrschenden Elite erlaubt sind, und notwendig um die Macht zu erhalten und Gefahren für das „dumme“Volk abzuwenden – diese Philosophie in der Tradition Machiavellis wurde in neuerer Zeit vor allem von Carl Schmitt, dem Staatsrechtler und „Kronjuristen“ des 3. Reichs, vertreten; sowie von seinem 1943 nach England geflüchteten Schüler Leo Strauss. Dieser lehrte nach dem 2. Weltkrieg in den USA politische Philosophie und wurde zum Ziehvater und Guru der „Neocons“, Studenten aus dem radikalen linken oder liberalen Milieu, die nach dem Vietnamkrieg nach Rechtsaußen drifteten. Neben dem Ex-Vize- Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, einem der Hauptarchitekten des Irakkriegs und Schüler von Strauss, sind noch viele weitere Amtsinhaber und Berater der Bush-Regierung dieser Denkschule verpflichtet – und nicht zufällig an der „Kabale“ beteiligt, wie der ehemalige Stabschef von Außenminister Powell die Verschwörung benannt hat, mit der das Weiße Haus die Nation in den Krieg log (Selbstmörderische Regierungspolitik und Intrigen in Washington).
Im Sinne der Schmitt/Strausschen Philosophie und ihrer Apologeten sind derlei Manipulationen freilich ehrenwert, weil nur eine klare Freund/Feind-Unterscheidung den nationalen Zusammenhalt und Stärke gewährt. Dass ein Feind, der nicht vorhanden oder erkennbar ist, entsprechend zur monströsen Bedrohung aufgeblasen werden muss, liegt auf der Hand. „Wenn keiner schießt, wird halt zurück geschossen“, hat der Satiriker Robert Gernhardt diese Situation auf den Punkt gebracht. Und um dieses Zurückschießen zu legitimieren, ist dann jedes Mittel recht : vom Sender Gleiwitz über den Golf von Tonkin bis zu den irakischen Urankäufen.
Zu letzteren hat die Webseite TomPaine.com nach dem Rücktritt von Dick Cheneys Stabschef Lewis Libby ein Diagramm der Dick & Don-Verschwörung ins Netz gestellt, das die noblen Lügner und ihr sinistres Netzwerk aufzeigt.
Sie selbst sind sich, wie Libby und sein Boss Cheney nach der Anklage ("Fitzmas in October") bekundeten, keinerlei Schuld bewusst, weder was den Verrat der CIA-Agentin Valerie Plame, noch was ihren Hochverrat, die manipulierten Kriegsgründe, betrifft (Fabrikation der Beweise für den Irak-Krieg). Derlei Delikte mögen strafrechtlich relevant und den Rechtsgrundsätzen parlamentarischer Demokratien zuwiderlaufen, im Rahmen der „höheren“ politischen Philosophie, der die Neocons huldigen, sind sie indessen ethisch vertretbar und an der Tagesordnung.
Dass der „Fürst“ von diesen Manipulationen nichts nach außen dringen lassen sollte, wusste schon Machiavelli, und insofern muss es als ein grober Kunstfehler des Regimes gelten, wenn jetzt über einen Nebenschauplatz wie Plame-Gate das ganze Intrigen-Netzwerk der Irakinvasion ans Licht gezogen und zumindest aktenkundig wird. Dass es zu Verurteilungen kommt oder gar die ganze Bande ins Gefängnis wandert, ist allerdings kaum zu erwarten. Denn schon in dem Verfahren gegen Lewis Libby wegen Meineids und Behinderung der Justiz müsste Staatsanwalt Fitzgerald Dokumente und Zeugen – vom Präsidenten und Vize-Präsidenten abwärts – anfordern, über deren Herausgabe bzw. Aussagegenehmigung nicht das Gericht, sondern die Regierung selbst entscheidet. Die wird sich allerdings nicht selbst ans Messer liefern und versuchen, jede weitere Aufklärung nach Kräften blockieren – wie schon bei 9/11 mit dem immer gleichen Argument: aus Gründen der „nationalen Sicherheit“.