Das Gesetz bin ich

Bei der Unterzeichnung von über 750 Gesetzen hat US-Präsident Bush den Vorbehalt angemeldet, sich aus angeblich verfassungsmäßigen Gründen nicht daran halten zu müssen

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Zwar gibt es schon seit einiger Zeit eine Diskussion darüber, welche Rechte ein US-Präsident in Anspruch nehmen kann, wenn er vom Kongress zum Oberbefehlshaber im Krieg gegen den Terrorismus in einem Kriegsfall ernannt wurde (Die unbeschränkte Macht des US-Präsidenten). Das Weiße Haus hat die Befugnisse des Kriegspräsidenten enorm ausgeweitet und sie von der Ausführung von Präventivschlägen über die Jagd auf „feindliche Kämpfer“ und deren Inhaftierung bis hin zum Abhören amerikanischer Bürger ohne die eigentlich nach dem Gesetz notwendige Einschaltung einer gerichtlichen Genehmigung angewandt. Der Boston Globe hat nachrecherchiert und mehr als 750 Gesetze gefunden, die Bush mit dem Vorbehalt unterzeichnet hat, sie bei Bedarf nicht einzuhalten.

Besonders hervorgestochen in letzter Zeit ist das vom einflussreichen und angesehenen Senator John McCain, einem möglicherweise künftigen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, im Kongress durchgesetzte Folterverbot. Die Bush-Regierung hatte massiven Druck ausgeübt, um zu erreichen, dass zumindest Geheimdienstmitarbeiter davon ausgenommen werden, das aber, weil bereits angeschlagen und unter starker internationaler Kritik stehend, nicht mehr durchsetzen können (US-Regierung akzeptiert Folterverbot). Am 30.12.2005 unterzeichnete Bush das Gesetz H. R. 2643 und fügte hinzu, dass er als Oberbefehlshaber im Krieg gegen den Terrorismus das Verbot aufheben kann, wenn er der Überzeugung ist, dass harte Verhörmaßnahmen dabei helfen können, Terroranschläge zu verhindern. So wird das freilich nicht formuliert, sondern unauffälliger, weswegen dieses Verhalten bislang auch keine große Kritik hervorgerufen hat:

The executive branch shall construe Title X in Division A of the Act, relating to detainees, in a manner consistent with the constitutional authority of the President to supervise the unitary executive branch and as Commander in Chief and consistent with the constitutional limitations on the judicial power, which will assist in achieving the shared objective of the Congress and the President, evidenced in Title X, of protecting the American people from further terrorist attacks.

President's Statement on Signing of H.R. 2863

Ähnlich wie der Präsident also beansprucht, kraft Verfassung ein vom Kongress beschlossenes Gesetz willkürlich aufheben zu können, das Folter allgemein verbietet1, hat er auch deutlich gemacht, dass ein “feindlicher Kämpfer” keinerlei Rechte, die von der US-Verfassung garantiert werden, für sich in Anspruch nehmen kann.

Ein anderes Beispiel ist das Patriot-Gesetz, das Bush am 9. März 2006 unterschrieben hat. Darin verlangt der Kongress, dass den Geheimdienstausschüssen ein Bericht über die Ausstellung von „national security letters“ vom Justizministerium vorgelegt werden muss. Mit diesen „letters“ kann das FBI beispielsweise Zugang zu Verbindungsdaten oder Finanzdaten eines Verdächtigen erhalten, ohne eine richterliche Genehmigung einholen zu müssen. Mit dem Patriot-Gesetz wurde diese Ausnahmeregelung enorm erweitert. Letztes Jahr hat das FBI über 30.000 solcher Anordnungen ausgestellt (Ausspähen mit Maulkorberlass). Der Präsident hat sich allerdings das Recht vorbehalten, dass das Justizministerium dem Kongress keinen Bericht über solche Anordnungen vorlegen muss, wenn damit „die Außenpolitik, die nationale Sicherheit, Entscheidungsprozesse der Exekutive oder die Ausführung der verfassungsgemäßen Pflichten der Exekutive beeinträchtigt“ wird.

Auf diese Weise hat US-Präsident Bush nach dem Boston Globe über 750 vom Kongress verabschiedete Gesetze bei Unterzeichnung eingeschränkt und damit erklärt, dass sie vom US-Präsidenten jederzeit zu umgehen sind. Der Kongress, der oberste Gesetzgeber, kann also machen was er will, das Weiße Haus regiert über diesen hinweg. Bush wahrt damit nicht nur seine Souveränität als Präsident in einer Art dauerhafter Ausnahmezustand, sondern er führt die Aufhebung der Gesetze auch durch, wenn es ihm gemäß erscheint, beispielsweise in dem Fall, als er die NSA anwies, ohne richterliche Genehmigung die Internet- und Telefonkommunikation von US-Bürgern zu überwachen.

Erstaunlicherweise hat diese systematische Erweiterung der Machtausübung durch das Weiße Haus bislang kaum eine größere Diskussion ausgelöst, zumal sich Bush damit auch herausnimmt, die Verfassung selbst auszulegen. Eine der wiederkehrenden Formulierungen, die Bush für seine Außerkraftsetzungen gebraucht, ist: „auf eine Weise, die mit der verfassungsgemäßen Autorität des Präsidenten übereinstimmt“. Allerdings hat Bush bislang gegen kein Gesetz ein Veto eingelegt. Das würde mehr Aufsehen erregen und nur zu Anpassungen führen. Mit seinem Vorgehen kann der Gesetzgeber handeln, aber der Präsident muss sich nicht danach richten, ohne dass dies großes Aufsehen erregt. Damit können offenbar beide Seiten leben, zumindest solange die Republikaner im Kongress die Mehrheit haben.

He agrees to a compromise with members of Congress, and all of them are there for a public bill-signing ceremony, but then he takes back those compromises -- and more often than not, without the Congress or the press or the public knowing what has happened.

Christopher Kelley, a Miami University of Ohio political science professor

Was Bush mit seinem Vorgehen, das ungefähr jedes zehnte, vom ihm unterzeichnete Gesetz betrifft, anstrebt oder zumindest bewirkt, ist letztlich, den demokratischen Rechtsstaat auszuhebeln. David Golove, Rechtsprofessor an der New York University, kritisiert so, dass Bush damit die Vorstellung untergräbt, dass das Gesetz herrscht, weil niemand weiß, welche Gesetze er wann für ungültig hält:

Wenn ein Präsident willens ist, große Teile der Gesetzgebung, die während seiner Amtszeit verabschiedet wurde, als gegen die Verfassung verstoßend zu erklären, dann beinhaltet dies auch, dass er denkt, auch ein großer Teil der anderen Gesetze, die vor seiner Amtszeit in Kraft getreten sind, nicht der Verfassung entsprechen.

Bush ist zwar nicht der erste Präsident, der so agiert, auch sein Vater oder Clinton hatten dies bereits gemacht, aber er hat die Praxis bislang auf die Spitze getrieben, während er von seinem Veto-Recht keinen Gebrauch machte, das dem Kongress immerhin die Möglichkeit gibt, einen Kompromiss auszuhandeln. So kann wegen der Geheimhaltung, die oft mit den Ausnahmegenehmigungen verbunden ist, der Rechtsweg kaum beschritten werden. Und der Kongress ist bislang nicht willens gewesen, gegen seine Entmächtigung einzuschreiten. Für Bruce Fein, einen Staatsanwalt während der Reagan-Präsidentschaft, ist das demokratische System der USA auf eine gewisse Zurückhaltung der Machtausübung der drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) angewiesen, was aber Bush außer Kraft setzt, wenn er sich zum einzigen Richter über seine Befugnisse aufschwingt:

Das ist ein Versuch seitens des Präsidenten, das letzte Wort über seine verfassungsgemäße Macht zu haben, das die “checks and balances” (Gewaltenteilung durch gegenseitige Kontrolle, F.R.) ausschaltet, die unser Land als Demokratie erhalten. Es gibt keine Möglichkeit für eine unabhängige Judikative, seine Beanspruchung der Macht zu überprüfen, und der Kongress macht dies auch nicht. Das treibt uns daher in die Richtung einer unbegrenzten exekutiven Macht.