"Das Gewicht in der Nato wurde verschoben"
Seite 2: "Andere Interessen als die Vereinigten Staaten"
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- Zusammengehen von Deutschland und Frankreich notwendig
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Es stehen ja immer Interessen Deutschlands dahinter, auch geopolitische Interessen. Wo würden Sie denn die sehen?
Oskar Lafontaine: Die Bundesrepublik muss erkennen, dass sie andere Interessen als die Vereinigten Staaten und natürlich auch andere als China oder Russland hat. Und zu ihrer Durchsetzung muss sie sich Bündnispartner suchen.
Deshalb gilt für mich nach wie vor, dass Deutschland und Frankreich zusammengehen müssen, um in einer multipolaren Welt den europäischen Interessen Gewicht zu verleihen. Den USA ist es gelungen, eine neue Achse Washington-London-Warschau-Kiew aufzubauen, die das Gewicht in der Nato verschoben hat.
Hier stimme ich dem französischen Intellektuellen Emmanuel Todd zu. Diese Achse hat in den letzten Monaten wesentlich dazu beigetragen, dass immer wieder Forderungen nach neuen Waffen lanciert und im Ergebnis auch durchgesetzt worden sind.
Jetzt sollen wir Kampfflugzeuge liefern, dann wird es um Langstreckenraketen gehen, bis irgendwann die Forderung kommt, Bodentruppen einzusetzen. Diese verhängnisvolle Abhängigkeit der europäischen Entscheidungen von dieser neuen Achse muss durchbrochen werden.
Dazu gehört natürlich auch, dass Seymour Hersh nachgewiesen haben will, dass die Amerikaner Nord Stream zerstört haben. Die Bundesregierung muss ihr feiges Wegducken aufgeben und endlich Farbe bekennen, ob sie akzeptiert, dass die USA durch ihren Präsidenten erklären ließen, sie würden Nord Stream ein Ende bereiten und dies auch letztendlich getan haben.
"Geostrategische Interessen der Europäer werden nicht mehr wahrgenommen"
Es gibt in Deutschland durchaus eine gebrochene Stimmung, was die Waffenlieferungen und den Krieg in der Ukraine angeht. Aber es gibt gleichzeitig relativ wenig Widerstand, parlamentarisch nur von AfD und der Linken. Ansonsten ist die pazifistische Bewegung hier bislang kaum hörbar. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Oskar Lafontaine: Ich glaube, dass liegt an dem erfolgreichen Desinformationskrieg Washingtons. Daher ist es auch wichtig, auf die große Informationsarmee der USA zu verweisen, die im Ergebnis erreicht hat, dass die geostrategischen Interessen der Europäer nicht mehr wahrgenommen werden.
Und diese ständige Propaganda, die auch darin ihren Ausdruck findet, dass die deutschen Medien in ihrer großen Mehrheit die Kriegstrommel rühren, führt dazu, dass der Widerstand gering ist. Es gibt jetzt das Manifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, das von Hunderttausenden unterstützt wird. Am 25. Februar um 14:00 Uhr ist eine große Friedenskundgebung am Brandenburger Tor vorgesehen. Hoffentlich gehen viele hin!
Auf der anderen Seite sagen auch Generäle, an erster Stelle Mark Milley, der oberste Soldat der USA, aber auch der langjährige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, oder Ex-Brigadegeneral Erich Vad, der langjährige militärische Berater von Angela Merkel, dass alles dafür spricht, jetzt diesen Krieg zu beenden und endlich einen Waffenstillstand zu erreichen.
Das lässt einen hoffen, dass irgendwann die Militärs in der Lage sind, die Politiker davon zu überzeugen, dass das ständige Rühren der Kriegstrommeln und immer neue Waffenlieferungen nicht mehr verantwortbar sind.
Das Schwinden des Mitgefühls
Das ist interessant, dass Sie jetzt die Hoffnung auf die Militärs setzen. Sie sagen aber andererseits auch, dass Sie den Eindruck haben, dass das Mitgefühl in der Gesellschaft bei den Menschen ziemlich verschwunden sei. Das würde auch so eine Art kriegerische Stimmung oder einen Konkurrenzkampf gegeneinander begründen. Woran machen Sie das Schwinden des Mitgefühl fest?
Oskar Lafontaine: Es gibt ja den Hinweis, dass der sogenannte Neoliberalismus den Sozialcharakter der Gesellschaft verändert hat. Das ist ein Begriff, den Erich Fromm in die Sozialpsychologie eingeführt hat.
Vereinfacht kann man das so sagen: Wenn die Menschen in einer Gesellschaft leben, in der sich jeder selbst der Nächste ist und der Kampf aller gegen alle dominiert, dann führt das auch dazu, dass das Mitleid, das den Menschen angeboren ist, sich nicht entfalten kann oder dass es unterdrückt wird und dass es daher auch zu wenig Widerstand gibt.
Es sterben nicht nur in der Ukraine die Menschen. Es gibt viele Länder, in denen Kriege geführt werden, jetzt etwa im Jemen oder zuletzt in Syrien. Gerade jetzt hätten wir nach dem katastrophalen Erdbeben allen Grund, als erstes die verhängnisvollen Sanktionen gegen Syrien zu beenden, um den Menschen dort zu helfen.
Auch hier fehlt es an der Fähigkeit zum Mitleiden, sonst würden diese brutalen Sanktionen, die das Leiden von Millionen Menschen vergrößern, sofort aufgehoben.
Sie stellen eine Verbindung zwischen dem Neoliberalismus und dem schwindenden Gefühl des Mitgefühls her. Gab es denn Zeiten, wo das mal anders war?
Oskar Lafontaine: Ich glaube schon, dass die Institutionen, die früher Mitgefühl vermittelt und zum gemeinschaftlichen Handeln angehalten haben, auf dem Rückzug sind. Zum Beispiel die Gewerkschaften, die sich vor Jahren noch gegen den Krieg gewandt haben.
Im Moment spielen die deutschen Gewerkschaften eine klägliche Rolle. Sie haben wohl vergessen, dass es ein erstes Anliegen der Gewerkschaften seit ihrer Gründung war, zu verhindern, dass Arbeiter auf Arbeiter schießen.
Warum kämpfen die Gewerkschaften nicht für die Menschen, die ohne Schuld auf dem Schlachtfeld in der Ukraine oder in anderen Ländern der Welt sterben? Oder ich denke zum Beispiel an die Kirchen, die nach dem Krieg eine viel stärkere gesellschaftliche Funktion hatten als heute und zur Wahrnehmung des Leids der anderen Menschen angehalten haben. Bischöfe befürworten heute Waffenlieferungen.
Solche sinnstiftende Institutionen oder Organisationen haben an Einfluss verloren. Auf der anderen Seite ist die tägliche Praxis des Neoliberalismus in die Betriebe eingedrungen. Früher fühlten sich viele Betriebe, die auf dem Normalarbeitsverhältnis gründeten, noch als Gemeinschaften, die sich einander zugehörig sahen.
Aber in dem Maße, in dem Leiharbeiter eingesetzt werden und immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse entstehen, ist auch diese gemeinschaftsstiftende Organisation der Arbeitswelt zurückgegangen. Mit den Folgen, die zu sehen sind.
Sehen Sie denn im Augenblick Ansätze, dass sich solche Institutionen neue herausbilden könnten?
Oskar Lafontaine: Voraussetzung wäre zu erkennen, dass eine Veränderung in der Welt, also auch in der Gesellschaft, eingetreten ist, weil die Fähigkeit zum Mitleiden zurückgegangen ist.
Im Grunde genommen hätte man das schon in der Zeit diskutieren müssen, als Alexander und Margarete Mitscherlich das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" geschrieben haben, denn der Unfähigkeit zu trauern geht die Unfähigkeit mitzuleiden voraus.
Solche gesellschaftliche Entwicklungen müssen thematisiert werden, dann kann man auch darüber diskutieren, was die Gesellschaft insgesamt unternehmen kann, um diesen Gedanken lebendig zu halten. Deshalb auch der Hinweis auf die Organisation der Arbeitswelt. Aber zurzeit ist nicht zu erkennen, dass das Denken sich verändert.