"Das Gewicht in der Nato wurde verschoben"

Oskar Lafontaine auf einer Wahlkampfveranstaltung der Linken, August 2021: Foto: Martin Heinlein/CC BY 2.0

Warum Frankreich und Deutschland zusammengehen müssen, um europäische Interessen zu vertreten. Interview mit Oskar Lafontaine über den Ukraine-Krieg, geopolitische Interessen, Informationskrieg und das geschwundene Mitgefühl.

Die Sicherheitskonferenz in München: Der Konsens

Die Sicherheitskonferenz in München lieferte den Medien zwei spektakuläre Themen. Zum einen die Aussage des ukrainischen Vizeregierungschefs Olexander Kubrakow zu Streumunition und Phosphor-Brandwaffen. Kubrakow sprach davon, dass die "USA und etliche andere Verbündete Millionen von Schuss" solcher Munition hätten und dass Russland diese Art von Kampfmitteln jeden Tag einsetze, was ihn zur Frage führte: "Warum können wir sie nicht nutzen? Es ist unser Staatsgebiet

Zwar gebe es "Schwierigkeiten wegen Konventionen". Jedoch, so zitiert ihn etwa die Tagesschau: "Eines Tages würde die Ukraine vielleicht ohnehin solche Munition bekommen. Bis dahin würde die Ukraine jedoch Tausende Menschen verlieren."

Ukraines Außenminister Dmytro Kuleba sagte nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa, es gebe keine rechtlichen Hindernisse, die die Ukraine davon abhielten, Streumunition zu verwenden. Die Ukraine sei keine Vertragspartei des Oslo-Übereinkommens, das Streumunition verbietet.

Tagesschau

Nicht nur Skeptiker und Warner dessen, welche Dynamik Waffenlieferungen an die Ukraine entfalten können oder nicht, horchten hier auf und sahen sich bestätigt; selbst Grünen-Politiker Anton Hofreiter, der sich als Unterstützer von Waffenlieferungen einen neuen Namen gemacht hat, war nicht überzeugt: "Die Ukraine fordert alles. Diese Forderung halte ich für falsch."

Die zweite Überraschung im Protokoll war die Ankündigung des chinesischen Vertreters Wang Yi, die "chinesische Position zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise" vorzulegen: "Wir werden fest auf der Seite des Friedens und des Dialoges stehen."

Noch weiß niemand, wie der Vorschlag aussehen wird, offenkundig ist, dass Wang Yi eine Außenseiterposition im Teilnehmerfeld der wichtigen Repräsentanten bei der Sicherheitskonferenz einnimmt.

Gibt es grundlegende Unterschiede zwischen den Partnern im Nato-Bündnis in der Positionierung zum Ukraine-Krieg, so werden sie gerade, so gut es geht, überspielt.

Der Außenminister der Führungsmacht USA, Anthony Blinken, warnte vor dem, was er als falsche Verlockung der russischen Waffenstillstandsvorschläge bezeichnete. Und gab seinerseits keinen Vorschlag in Richtung Diplomatie ab.

Der französische Präsident Macron gab sich rhetorisch alle Mühe, Unterschiede, die als Spaltung in der Einigkeit gegenüber der russischen Aggression aufgefasst werden können, mit kräftigen Beteuerungen zu überdecken. Man stelle sich auf einen langen Krieg ein und werde die Unterstützung der Ukraine intensivieren. Luzide und glaubwürdige Verhandlungen seien erst später möglich.

In den Wochen zuvor war Macron wegen seiner Aussagen, dass man mit Russland verhandeln müsse und dem Land in der künftigen Sicherheitsarchitektur auch Garantien geben müsse, heftig kritisiert worden. Dass man mit Russland verhandeln müsse, daran hält Macron fest und betonte dies auch. Allerdings zeigte seine Rede, dass er diese Position nicht in den Vordergrund stellen wollte. (Die Red.)

Oskar Lafontaine ist hierzulande für seine kritischen Äußerungen zum Ukraine-Krieg bekannt. Nach seiner Auffassung verhält sich Deutschland als Vasall. Das ist eine Aussage, die für viel Wirbel gesorgt hat. Nicht die erste Aufregung, die der Politiker und Publizist entfacht hat.

Florian Rötzer hat mit Lafontaine gesprochen, um Genaueres über seine Positionen zu erfahren. (Das Interview fand vor der Sicherheitskonferenz statt.)

Immer mehr Menschen sterben auch durch politische Fehlentscheidungen

Sie haben ein neues Kapitel über den Ukraine-Krieg für Ihr Buch "Ami, it’s time to go" geschrieben und gewarnt, dass möglicherweise ein großer Konflikt droht. Sie fordern einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Sollte denn Deutschland sofort die Waffenlieferungen stoppen?
Oskar Lafontaine: Auf jeden Fall, denn diese Waffenlieferungen führen ja zu keinem endgültigen Ergebnis in dem Sinne, dass sie nach Meinung der Militärs die Lage dort entscheidend verändern. Im Grunde genommen ist jeder Tag ein Tag, der verloren geht, denn es sterben immer mehr Menschen, und jeder, der zur Verlängerung des Krieges beiträgt, muss sich dieser Verantwortung bewusst sein.
Immer mehr Menschen sterben auch durch politische Fehlentscheidungen. Es ist bedauerlich, dass der Westen nach Zeugnis des ehemaligen israelischen Premierministers Bennett die Waffenstillstandsverhandlungen, die fast vor einem Abschluss standen, im letzten Frühjahr verhindert hat.
Ja, das soll im April 2022 gewesen sein. Nach Butscha war endgültig Schluss mit der ukrainischen Bereitschaft für Verhandlungen. Ein Argument derjenigen, die sagen, man müsse die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen, ist, dass sonst Russland weiter vordringen und die Ukraine ganz einnehmen wird oder sogar EU-Länder angreifen könnte. Was würden Sie denn daraufhin sagen?
Oskar Lafontaine: Die Waffenlieferungen haben dazu geführt, dass der Krieg ein Jahr dauert, 200.000 Soldaten sind gefallen, 50.000 Zivilisten fielen dem Krieg zum Opfer. Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen verhindern, dass die ganze Ukraine besetzt wird. Wer sagt, Russland werde EU-Länder angreifen, behauptet gleichzeitig, dass die Schutzgarantie der Nato ein leeres Versprechen ist.
Wenn jetzt die Waffenlieferungen gestoppt würden, wie könnte man Gespräche einleiten? Zu Beginn des Krieges scheint der damalige israelische Regierungschef Bennett vermittelt zu haben. Wer könnte denn jetzt eine Möglichkeit haben, auf beide Seiten einzuwirken?
Oskar Lafontaine: Alle Staaten kommen infrage, die nicht im Verdacht stehen, Partei für eine Seite zu ergreifen. Israel gehört dazu. Es gab ja auch Vorstöße aus dem Vatikan beispielsweise und von Lula, dem neuen Präsidenten in Brasilien. Auch China ist an einem Ende des Krieges interessiert.
Also es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit den Kriegsparteien zu verhandeln, um zu einem Waffenstillstand zu kommen. Wenn ich von den Kriegsparteien spreche, meine ich vor allem die USA und Russland.
Es gibt auch einen neuen Hoffnungsschimmer, weil der Thinktank Rand Corporation, der dem Pentagon nahesteht, jetzt vorgeschlagen hat, den Krieg wegen der drohenden Eskalation durch Verhandlungen zu beenden.

Die Neutralität der Ukraine

Das könnte auch passieren, wenn der Wahlkampf in den USA beginnt. Aber wie könnte denn ein Waffenstillstand aussehen? Sollte sich Russland wieder aus den besetzten Gebieten zurückziehen? Müsste Russland den Donbass und die Krim aufgeben?
Oskar Lafontaine: Das Entscheidende ist zunächst einmal ein Waffenstillstand, der diese Fragen jedoch nicht beantwortet. Er würde nur die Waffen ruhen lassen, aber dann sterben die Menschen nicht mehr.
Man kann das nicht oft genug sagen, weil die ganzen Diskussionen sich um Waffen oder eine territoriale Gerechtigkeit dreht, ohne das Sterben und das Elend der Menschen zu sehen. Wenn das Sterben beendet ist, dann kann man Verhandlungen aufnehmen.
Nach wie vor gibt es die Überlegung, die den beiden Minsker-Abkommen zugrunde lag. Ich wiederhole sie noch einmal: die Neutralität der Ukraine. Die Krim wird auf jeden Fall von Russland nicht mehr preisgegeben werden. Aber auch da könnte man eine Abstimmung wiederholen. Die Abstimmung ging immer zugunsten Russlands aus.
Im Donbass könnte man auch die Bevölkerung abstimmen lassen, wohin sie will, natürlich unter internationaler Überwachung.
Ich wundere mich, dass diese Selbstverständlichkeit, dass man die Bevölkerung der umstrittenen Landesteile abstimmen lässt, nicht in den Vordergrund rückt und jeder meint, er könne entscheiden, wohin sie will. Das Argument, die Grenzen sollten unverrückbar sein, ist ja bereits in Jugoslawien aufgegeben worden, wie wir alle wissen.
Es ist doch beachtlich, dass ein renommierter Rechtsphilosoph wie Reinhard Merkel sagt, dass nach seiner Meinung, wenn man jetzt die Krim wieder erobern und mit Krieg überziehen will, dies auch gegen das Völkerrecht verstoßen würde.

Informationskrieg

Sie haben sich der These von Emmanuel Todd angeschlossen, dass der Dritte Weltkrieg bereits begonnen habe. Was meinen Sie damit genauer?
Oskar Lafontaine: Die These ist nicht auf eine kriegerische Auseinandersetzung der Supermächte mit Bomben und Raketen zu reduzieren, sondern der Krieg wird auf den verschiedensten Ebenen geführt. Nicht zu leugnen ist der Wirtschaftskrieg, der global geführt wird, insbesondere zwischen China und den Vereinigten Staaten.
Jetzt gibt es einen Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland. Dazu gibt es, und dieser Aspekt ist bislang vernachlässigt worden, einen ständigen Informationskrieg.
In meinem Essay, den ich dem Buch jetzt hinzugefügt habe, weise ich darauf hin, dass für das Pentagon 27.000 Mitarbeiter tätig sind, die die Medien mit Informationen versorgen und die Sichtweise und Propaganda der USA in aller Welt verbreiten.
Als ich die Zahl 27.000 zum ersten Mal gelesen habe, sie wurde von der amerikanischen Presseagentur AP veröffentlicht, wollte ich sie erst einmal nicht glauben, aber es gibt diese Desinformationsarmee.
Nur so ist zu erklären, dass es dem Pentagon und der westlichen Propaganda gelungen ist, den Kriegsbeginn auf den 24. Februar des letzten Jahres zu datieren, während doch viele Eingeweihte wissen, dass der Krieg spätestens 2014 begonnen hat, als in Kiew eine Regierung an die Macht kam, die die russische Minderheit zu unterdrücken begann.
Im Grunde genommen kann man die Ursache des Krieges auf den Beginn der Nato-Osterweiterung zurückführen. US-Politiker wie George Kennan haben darauf hingewiesen, dass die Nato-Osterweiterung zu Nationalismus und Militarismus führen werde. Und dieser Nationalismus und Militarismus hat sich jetzt in Form des Krieges entladen.

"Die geostrategische Lage Deutschlands übersehen"

Was würden Sie denn der Bundesregierung, also vor allem Bundeskanzler Scholz, vorwerfen, falsch zu machen oder gemacht zu haben?
Oskar Lafontaine: Entscheidend ist, dass die Bundesregierung geschichtsvergessen gehandelt und Deutschlands geostrategische Lage übersehen hat. Eigentlich müsste es für Deutschland selbstverständlich sein, keine Waffen zu liefern, mit denen Menschen in Ländern getötet werden, die von Hitlers Armeen überfallen worden sind und Millionen Tote zu beklagen hatten. Warum haben wir diese Konsequenz aus unserer Geschichte nicht gezogen?
Zum zweiten müsste selbstverständlich sein, dass wir Antisemitismus, wo immer er auftritt, bekämpfen, und mit antisemitischen Kräften nicht kooperieren. Es ist kein Geheimnis, dass in der Ukraine Stepan Bandera zum Nationalhelden erhoben wird, der für Massenmorde an Juden und Polen mitverantwortlich ist.
Und drittens dürfen wir uns im eigenen Interesse an der von den USA betriebenen Einkreisung Russlands nicht beteiligen. Wir brauchen Frieden auch mit Russland.

"Totale Entsorgung der Brandtschen Ost- und Entspannungspolitik"

Es heißt seit einiger Zeit, Deutschland solle eine Führungsrolle übernehmen. Man nennt es dann auch Verantwortung, was meistens militärisch verstanden wird. Deutschland könnte eigentlich auch gerade wegen seiner Geschichte eine Führungsrolle im Hinblick auf eine Friedenslösung übernehmen. Warum passiert da gar nichts?
Oskar Lafontaine: Die große Überraschung ist, dass die Parteien, die sich lange Zeit der Friedenspolitik verpflichtet fühlten, ihre Politik grundsätzlich geändert haben. Die Grünen, die aus der Friedensbewegung hervorgegangen sind, sind derzeit die schlimmsten Kriegstreiber.
Die SPD hat die Politik Willy Brandts vollständig aufgegeben. Statt Abrüstung und Frieden ist für Sozialdemokraten jetzt der Krieg zu einem Mittel der Politik geworden. Und man will, so der SPD-Vorsitzende Klingbeil, Sicherheit in Europa gegen Russland schaffen. Das ist die totale Entsorgung der Brandtschen Ost- und Entspannungspolitik.
Die FDP hat die Politik Genschers vergessen, der noch in einem seiner letzten Interviews nach der Krim-Annexion gesagt hat: Wir brauchen Frieden und Ausgleich mit Russland, wir müssen mit ihnen im Gespräch bleiben. Jetzt haben wir als Repräsentantin der FDP die Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann, die jeden Tag neue Waffen für die Ukraine fordert und scheinbar überhaupt keine Grenzen mehr kennt.
Was würden Sie denn zu der Forderung sagen, die natürlich aus der Ukraine kommt, aber auch von Deutschland von Frau Baerbock mit vertreten wird, dass ein Sondertribunal eingerichtet werden soll, um die Kriegsverbrechen der Russen zu bestrafen. Von den Ukrainern ist da natürlich nicht die Rede.
Oskar Lafontaine: Aber das zeigt ja Frau Baerbocks Doppelmoral. Sie hat sich mal mit völkerrechtlichen Fragen beschäftigt, kennt aber offensichtlich den Grundsatz nicht, dass das Recht in gleichem Maße für alle gilt.
Sonst müsste sie ja einräumen, dass die deutschen Politiker, die die Beteiligung am Jugoslawienkrieg zu verantworten haben, der auch völkerrechtswidrig war und zu Todesopfern geführt hat, auch vor ein solches Tribunal kommen müssten.
Letztendlich müsste sie den ehemaligen Außenminister der Grünen, Joschka Fischer, vor ein solches Tribunal zitieren. Man sieht an diesem Beispiel, wie widersprüchlich, lächerlich und unglaubwürdig die grüne Außenpolitik geworden ist.

"Andere Interessen als die Vereinigten Staaten"

Es stehen ja immer Interessen Deutschlands dahinter, auch geopolitische Interessen. Wo würden Sie denn die sehen?
Oskar Lafontaine: Die Bundesrepublik muss erkennen, dass sie andere Interessen als die Vereinigten Staaten und natürlich auch andere als China oder Russland hat. Und zu ihrer Durchsetzung muss sie sich Bündnispartner suchen.
Deshalb gilt für mich nach wie vor, dass Deutschland und Frankreich zusammengehen müssen, um in einer multipolaren Welt den europäischen Interessen Gewicht zu verleihen. Den USA ist es gelungen, eine neue Achse Washington-London-Warschau-Kiew aufzubauen, die das Gewicht in der Nato verschoben hat.
Hier stimme ich dem französischen Intellektuellen Emmanuel Todd zu. Diese Achse hat in den letzten Monaten wesentlich dazu beigetragen, dass immer wieder Forderungen nach neuen Waffen lanciert und im Ergebnis auch durchgesetzt worden sind.
Jetzt sollen wir Kampfflugzeuge liefern, dann wird es um Langstreckenraketen gehen, bis irgendwann die Forderung kommt, Bodentruppen einzusetzen. Diese verhängnisvolle Abhängigkeit der europäischen Entscheidungen von dieser neuen Achse muss durchbrochen werden.
Dazu gehört natürlich auch, dass Seymour Hersh nachgewiesen haben will, dass die Amerikaner Nord Stream zerstört haben. Die Bundesregierung muss ihr feiges Wegducken aufgeben und endlich Farbe bekennen, ob sie akzeptiert, dass die USA durch ihren Präsidenten erklären ließen, sie würden Nord Stream ein Ende bereiten und dies auch letztendlich getan haben.

"Geostrategische Interessen der Europäer werden nicht mehr wahrgenommen"

Es gibt in Deutschland durchaus eine gebrochene Stimmung, was die Waffenlieferungen und den Krieg in der Ukraine angeht. Aber es gibt gleichzeitig relativ wenig Widerstand, parlamentarisch nur von AfD und der Linken. Ansonsten ist die pazifistische Bewegung hier bislang kaum hörbar. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Oskar Lafontaine: Ich glaube, dass liegt an dem erfolgreichen Desinformationskrieg Washingtons. Daher ist es auch wichtig, auf die große Informationsarmee der USA zu verweisen, die im Ergebnis erreicht hat, dass die geostrategischen Interessen der Europäer nicht mehr wahrgenommen werden.
Und diese ständige Propaganda, die auch darin ihren Ausdruck findet, dass die deutschen Medien in ihrer großen Mehrheit die Kriegstrommel rühren, führt dazu, dass der Widerstand gering ist. Es gibt jetzt das Manifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, das von Hunderttausenden unterstützt wird. Am 25. Februar um 14:00 Uhr ist eine große Friedenskundgebung am Brandenburger Tor vorgesehen. Hoffentlich gehen viele hin!
Auf der anderen Seite sagen auch Generäle, an erster Stelle Mark Milley, der oberste Soldat der USA, aber auch der langjährige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, oder Ex-Brigadegeneral Erich Vad, der langjährige militärische Berater von Angela Merkel, dass alles dafür spricht, jetzt diesen Krieg zu beenden und endlich einen Waffenstillstand zu erreichen.
Das lässt einen hoffen, dass irgendwann die Militärs in der Lage sind, die Politiker davon zu überzeugen, dass das ständige Rühren der Kriegstrommeln und immer neue Waffenlieferungen nicht mehr verantwortbar sind.

Das Schwinden des Mitgefühls

Das ist interessant, dass Sie jetzt die Hoffnung auf die Militärs setzen. Sie sagen aber andererseits auch, dass Sie den Eindruck haben, dass das Mitgefühl in der Gesellschaft bei den Menschen ziemlich verschwunden sei. Das würde auch so eine Art kriegerische Stimmung oder einen Konkurrenzkampf gegeneinander begründen. Woran machen Sie das Schwinden des Mitgefühl fest?
Oskar Lafontaine: Es gibt ja den Hinweis, dass der sogenannte Neoliberalismus den Sozialcharakter der Gesellschaft verändert hat. Das ist ein Begriff, den Erich Fromm in die Sozialpsychologie eingeführt hat.
Vereinfacht kann man das so sagen: Wenn die Menschen in einer Gesellschaft leben, in der sich jeder selbst der Nächste ist und der Kampf aller gegen alle dominiert, dann führt das auch dazu, dass das Mitleid, das den Menschen angeboren ist, sich nicht entfalten kann oder dass es unterdrückt wird und dass es daher auch zu wenig Widerstand gibt.
Es sterben nicht nur in der Ukraine die Menschen. Es gibt viele Länder, in denen Kriege geführt werden, jetzt etwa im Jemen oder zuletzt in Syrien. Gerade jetzt hätten wir nach dem katastrophalen Erdbeben allen Grund, als erstes die verhängnisvollen Sanktionen gegen Syrien zu beenden, um den Menschen dort zu helfen.
Auch hier fehlt es an der Fähigkeit zum Mitleiden, sonst würden diese brutalen Sanktionen, die das Leiden von Millionen Menschen vergrößern, sofort aufgehoben.
Sie stellen eine Verbindung zwischen dem Neoliberalismus und dem schwindenden Gefühl des Mitgefühls her. Gab es denn Zeiten, wo das mal anders war?
Oskar Lafontaine: Ich glaube schon, dass die Institutionen, die früher Mitgefühl vermittelt und zum gemeinschaftlichen Handeln angehalten haben, auf dem Rückzug sind. Zum Beispiel die Gewerkschaften, die sich vor Jahren noch gegen den Krieg gewandt haben.
Im Moment spielen die deutschen Gewerkschaften eine klägliche Rolle. Sie haben wohl vergessen, dass es ein erstes Anliegen der Gewerkschaften seit ihrer Gründung war, zu verhindern, dass Arbeiter auf Arbeiter schießen.
Warum kämpfen die Gewerkschaften nicht für die Menschen, die ohne Schuld auf dem Schlachtfeld in der Ukraine oder in anderen Ländern der Welt sterben? Oder ich denke zum Beispiel an die Kirchen, die nach dem Krieg eine viel stärkere gesellschaftliche Funktion hatten als heute und zur Wahrnehmung des Leids der anderen Menschen angehalten haben. Bischöfe befürworten heute Waffenlieferungen.
Solche sinnstiftende Institutionen oder Organisationen haben an Einfluss verloren. Auf der anderen Seite ist die tägliche Praxis des Neoliberalismus in die Betriebe eingedrungen. Früher fühlten sich viele Betriebe, die auf dem Normalarbeitsverhältnis gründeten, noch als Gemeinschaften, die sich einander zugehörig sahen.
Aber in dem Maße, in dem Leiharbeiter eingesetzt werden und immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse entstehen, ist auch diese gemeinschaftsstiftende Organisation der Arbeitswelt zurückgegangen. Mit den Folgen, die zu sehen sind.
Sehen Sie denn im Augenblick Ansätze, dass sich solche Institutionen neue herausbilden könnten?
Oskar Lafontaine: Voraussetzung wäre zu erkennen, dass eine Veränderung in der Welt, also auch in der Gesellschaft, eingetreten ist, weil die Fähigkeit zum Mitleiden zurückgegangen ist.
Im Grunde genommen hätte man das schon in der Zeit diskutieren müssen, als Alexander und Margarete Mitscherlich das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" geschrieben haben, denn der Unfähigkeit zu trauern geht die Unfähigkeit mitzuleiden voraus.
Solche gesellschaftliche Entwicklungen müssen thematisiert werden, dann kann man auch darüber diskutieren, was die Gesellschaft insgesamt unternehmen kann, um diesen Gedanken lebendig zu halten. Deshalb auch der Hinweis auf die Organisation der Arbeitswelt. Aber zurzeit ist nicht zu erkennen, dass das Denken sich verändert.

Zusammengehen von Deutschland und Frankreich notwendig

Es müsste doch dann auch ein neuer Internationalismus entstehen. Im Augenblick scheinen die Leute eher überfordert mit dem Leid auf der Welt zu sein und blenden das lieber aus. In der Ukraine alleine sind wahrscheinlich schon Hunderttausende seit Beginn des Kriegs gestorben.
Oskar Lafontaine: Ja, ein neuer Internationalismus wäre ebenfalls notwendig. Ich habe versucht, dies in meinem neuen Essay am deutsch-französischen Verhältnis deutlich zu machen und schlage vor, dass man Anstrengungen unternimmt, um die Kultur des jeweils anderen intensiver erleben zu können.
Wenn wir erkennen, dass ein Zusammengehen von Deutschland und Frankreich notwendig ist, um die Interessen Deutschlands, Frankreichs und Europas in der Welt zur Geltung zu bringen, und wenn wir das strukturelle Problem der neuen Achse Washington-London-Warschau-Kiew und damit die Notwendigkeit der Veränderung sehen, dann müssen wir das kulturell vermitteln.
Der alte Gedanke, dass die Kultur die Völker zusammenführt, muss wieder lebendig werden, wenn wir einen neuen Internationalismus auf den Weg bringen wollen.
Im Augenblick sieht es ja eher so aus, dass die Cancel Culture vorherrscht, also dass man nicht zusammenführt, sondern trennt.
Oskar Lafontaine: Die Cancel Culture ist Ausdruck der Fehlentwicklung unsrer Gesellschaft. Intoleranz und die Sucht andere auszugrenzen nehmen zu.
Es hat sich geradezu eine Sprachpolizei entwickelt, die darauf lauert, ob jemand ein falsches Wort oder einen falschen Satz sagt. Dann geht der Shitstorm los. Wir müssen wieder lernen, den anderen zu verstehen und mit ihm zu fühlen.

Das Interview erschien zuerst im Overton-Magazin.