Das Kennedy-Puzzle

Seite 2: Kuba

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Dem Staat und der angeblich nicht existierenden Mafia bot inzwischen ein neuer gemeinsamer Gegner die Stirn: Auf Kuba hatte Revolutionär Fidel Castro zunächst den US-freundlichen Diktator Fulgencio Batista vertrieben, der die Hälfte der Staatseinnahmen in die eigene Tasche gewirtschaftet und die Infrastruktur vernachlässigt hatte. Als Castro später US-Firmen verstaatlichte und die Kasinos schloss, verloren die Mafiosi nicht nur ihre karibischen Geldwaschanlagen, sondern außerdem auch ihren wichtigsten Umschlagplatz für Drogentransporte. Etliche Kubaner flohen vor Castros Revolution nach Florida und Louisiana, wo sie von den örtlichen Bossen Marcello und Santos Trafficante jr. mit Geldspenden und Jobs unterstützt wurden. Trafficante hatte bislang auf Kuba die Geschäfte geleitet und wurde nach seiner Inhaftierung durch Castro von einem Unterhändler der Mafia befreit: Jack Ruby.

Die Mafiosi Trafficante, Sam Giancana und Johnny Roselli waren es auch gewesen, die schon zu dieser Zeit mit CIA-Leuten über Mordanschläge auf Castro sinnierten. Bekanntlich wurden diese Pläne später von den Kennedys gebilligt. Ob auch Roberts Intimfeind Marcello eingeweiht war, ist nicht geklärt, aber unwahrscheinlich – andernfalls hätte er die Regierung damit erpressen können, wozu er schon bald einen existenziellen Anlass finden sollte. Mit Hilfe der großzügigen Mafia und vieler ohnehin mit ihr verstrickten Exilkubaner bereitete die CIA in Trainingslagern an der Südküste und in Guatemala eine Invasion Kubas vor, die als Gegenrevolution erscheinen sollte. Die von der Regierung Eisenhower geerbten Pläne wurden von den Kennedys gebilligt und führten in das Fiasko in der Schweinebucht, danach in die Kuba-Krise. Kennedy widersetzte sich den Invasionsplänen der Militärs, die auf eine Revanche sinnten, und denen der Zweck jedes kein Mittel heiligte. Aber auch die Regierung Kennedy billigte 1961 in ihrer als Operation Mongoose bekannten Sabotage-Anschläge zur Destabilisierung Kubas.

Marcellos Safari

Was auch immer Joe Kennedy, der nicht selten als „Falschspieler“ bezeichnet wurde, der ehrenwerten Gesellschaft versprochen haben mag, es hinderte Justizminister Robert nicht daran, die Anstrengungen der Behörden um das Siebenfache zu steigern und heimlich das Ausweisungsverfahren gegen Marcello zu betreiben. Er hatte in Erfahrung gebracht, das Marcello sich seinerzeit eine guatemaltekische Geburtsurkunde hatte fälschen lassen, um sich bei Problemen dorthin in die Nähe Louisianas zurückziehen zu können, statt wie sein Vorgänger in das ferne Sizilien geschickt zu werden. Anwalt des Mafiosos war der gerissene Jack Wasserman – vormals selbst Oberster Leiter der Ausländerbehörde. Wider besseres Wissen ließ Robert Kennedy die Fälschung als echte Geburtsurkunde behandeln, wodurch er Guatemala zur Aufnahme Marcellos zwingen konnte. Marcello, der zur Verlängerung seines Visums alle drei Monate die Einwanderungsbehörde aufsuchte, wurde dort im April 1961 überraschend festgenommen, wortlos zum Flughafen eskortiert und von einer wartenden Maschine direkt nach Guatemala ausgeflogen, ohne, dass man ihm auch nur einen Anruf oder das geringste Notgepäck zubilligte. In Guatemala verbrachte er mehrere Wochen in Gesellschaft seines nachgereisten Anwalts. Nach einigem Hin und Her wurden beide von einem Militärkonvoi nach Honduras verbracht, wo man sie auf einer Straße im Urwald aussetzte. Nach zwei Tagen Fußmarsch stießen die unfreiwilligen Touristen auf indianische Scouts, von denen sie später jedoch einen Überfall befürchteten. Auf der Flucht vor diesen brach sich der untersetzte Marcello mehrere Rippen. Unter unklaren Umständen reiste er illegal in die USA ein. Vieles spricht dafür, dass sich die beiden in die Dominikanische Republik durchschlagen konnten, wo Clanchef Rafael Trujillo ein wichtiger Handelspartner von Mafia-Kollege Trafficante aus Miami gewesen war. Marcellos Timing hätte kaum besser sein können, denn fast gleichzeitig wurde Trujillo in einer der CIA zugeschriebenen Operation getötet.

Der Hass, den Marcello aufgrund seiner Deportation auf Justizminister Kennedy verspürte, wird von Beobachtern als grenzenlos beschrieben. Allein der Name „Kennedy“ bewirkte bei dem auf sizilianisch fluchenden Mafiaboss Wutausbrüche. Dennoch versuchte Marcello über den gemeinsamen Freund Frank Sinatra, Robert milde zu stimmen, was jedoch das Gegenteil bewirkte. Auch umgekehrt wirkte Robert auf seine Mitarbeiter als von Marcello besessen. Der familiäre Mafiaboss verlor die Berufung gegen seine Ausweisungsverfügung und wurde nun außerdem wegen der gefälschten Geburtsurkunde angeklagt.

Vendetta

Einem Geschäftspartner gegenüber namens Edward Becker hatte Marcello beim Whiskey mit ernster Miene erklärt, wie er das Problem mit Robert Kennedy auf sizilianische Art zu lösen gedenke: Ein Hund werde einen weiterhin beißen, wenn man ihm nur den Schwanz abschneide. Stattdessen müsse man ihm den Kopf abhacken. Würde Robert ermordet, so würde der Präsident zweifellos mit noch größerer Härte gegen ihn oder den auf Roberts Liste stehenden Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa vorgehen. Bei der Ermordung des Präsidenten hingegen würde dessen Nachfolger der Texaner Lyndon B. Johnson werden, der die Kennedys ebenfalls hasste und von dem Marcello nichts zu befürchte habe (weil er ihn seit je her schmierte). Für den Mord solle ein Spinner den Kopf hinhalten, der nicht mit der Mafia in Verbindung gebracht werden würde.

Auch Florida-Boss Trafficante schien von den Mordplänen gewusst zu haben, denn gegenüber einem Geschäftspartner, der ein verdeckter FBI-Informant gewesen war, hatte er angekündigt, Kennedy werde die kommende Wahl nicht mehr erleben. Marcellos Hasstiraden auf die Kennedys sprachen sich herum, jedoch war er insbesondere in den Südstaaten kaum der einzige, der den Iren den Tod wünschte. Der amerikanischen Rechten galten die Kennedys als zu weich gegen den Kommunismus. Die Brüder hatten sogar die Frechheit besessen, gegen Hoovers Willen das FBI gegen den Ku Klux Klan in Stellung zu bringen. Zu den Klan-Mitgliedern zählten auch die texanischen Ölbarone, die unglücklich über Kennedys Pläne waren, das Steuerrecht zu ihren Ungunsten drastisch zu ändern. Als großzügiger Spender des Klans bekannt war insbesondere Marcello.

Mafia in Nöten

Die Anzahl der Verfahren und Verurteilungen gegen die Mafia hatte sich innerhalb von nur zwei Jahren nach dem Amtsantritt der Kennedys vervielfacht. Der Druck auf die Bosse überstieg alle Erwartungen. Ein entscheidender Schlag gelang den Kennedys, als der hochrangige Mafioso Joe Valachi aus dem Genovese-Clan vor dem noch immer tagenden McClellan-Auschuss auspackte, die Interna etwa der New Yorker Familien preisgab und den bis dahin unbekannten Begriff „Cosa Nostra“ prägte. Über die Südstaatenmafia wusste Valachi nichts zu berichten – ohne Marcellos Genehmigung hätte kein einziger Genovese-Mafioso Louisiana überhaupt betreten dürfen. Wie das FBI konstatieren musste, waren New Orleans und Dallas die einzig verbliebenen Städte, in denen es nicht ansatzweise durch verdeckte Ermittler oder Abhörtechnik in die Organisationen einzudringen vermochte.

Jimmy Hoffa, den Robert Kennedy ebenfalls in die Enge getrieben hatte, äußerte nach dem Attentat gegenüber dem Gangster Frank Ragano seine Dankbarkeit für Marcello und Trafficante. Auch Marcello ließ Ragano wissen, Hoffa schulde ihm viel.

Gegen die Mafia-Theorie wird eingewandt, die Durchführung sei für die Mafia völlig untypisch, etwa von Oliver Stone, der in seinem nicht unumstrittenen Film „JFK“ den Militärisch-Industriellen Komplex und Johnson als Drahtzieher verdächtigt. Mafiamorde würden gewöhnlich primitiv und aus kurzer Distanz ausgeführt, während das Kennedy-Attentat die Handschrift des Militärs trage. Doch Marcello verfügte über einen hochintelligenten Verbündeten, der über genau die Fähigkeiten verfügte, die für die Planung eines solchen Manövers erforderlich gewesen wären, und der die Kennedys ebenfalls abgrundtief hasste.

David Ferrie

Der in jeglicher Hinsicht skurrile Paramilitär David Ferrie hatte eine Karriere u.a. als waghalsiger Kriegspilot, Bischof einer altkatholischen Sekte und Psychologe nebst gekauftem Doktortitel hinter sich, als er 1963 von Marcellos Anwalt in New Orleans, G. Wray Gill als Privatdetektiv eingestellt wurde, um ihm im laufenden Marcello-Prozess zuzuarbeiten. Daneben arbeitete er auch für den ebenfalls für Marcello tätigen Privatdetektiv Guy Banister, einen rechtsgerichteten Ex-FBI-Mann. Ferrie hatte sich u.a. in der von Marcello finanzierten paramilitärischen Organisation „Cuban Revolutionary Front“ gegen Castro engagiert und wetterte öffentlich gegen die Kennedys, die er des „Verrats“ wegen unterlassener Luftunterstützung in der Schweinebuchtinvasion zieh.

Der zur Intrige neigende Pate schloss Freundschaft mit dem insoweit hochbegabten Ferrie, obwohl beide Männer kaum gegensätzlicher hätten sein können. Während des wochenlangen Strafprozesses wegen Konspiration und Meineid gegen Marcello in New Orleans verbrachte der konservativ-katholische Mafiaboss die Wochenenden mit dem ausgerechnet wegen homosexuellen Sittendelikten verurteilten Hysteriker - angeblich, um gemeinsam die Prozesstaktik zu besprechen, obwohl das der Job seiner Anwälte wie Gill und dem Frontwechsler Jack Wasserman gewesen wäre. Ebenso unklar ist, was Ferrie in diesen Tagen auf seinen diskreten Reisen nach Guatemala für Marcello erledigt haben könnte. Jedenfalls war Ferrie seit seiner Bekanntschaft mit dem Mafioso seine chronischen Vermögenssorgen los.

Am 22.11.1963 wurden nach anstrengenden Prozesswochen die Geschworenen vereidigt. Erstmals fehlte Ferrie als Zuschauer im Gerichtssaal. Gegen Nachmittag wurde im Prozess verkündet, dass auf den Präsidenten geschossen worden sei. Das Verfahren endete mit Freispruch: Mindestens ein Geschworener hatte die Hand aufgehalten, während bei einem wichtigen Zeugen plötzliche Gedächtnislücken auftraten. Als Robert Kennedy von dem Attentat erfuhr, war er wie paralysiert. In diesem Augenblick endete sein Feldzug gegen die Mafia – wie es Marcello vorausgesagt hatte.