Das Kennedy-Puzzle

Seite 4: Ehrenwerte Gesellschaft

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Unter Präsident Johnson, der sich stets Marcellos Wahlkampfspenden aufgeschlossen gezeigt hatte, blieb die Mafia unbehelligt. Die ehrenwerte Gesellschaft wurde jedoch wieder nervös, als sich 1968 statt Johnson Robert Kennedy persönlich für das Präsidentenamt aufstellen ließ. Bevor es zu einem erneuten Feldzug gegen das Organisierte Verbrechen kam, wurde Robert in Los Angeles unter nach wie vor ungeklärten Umständen erschossen - angeblich von einem verwirrten Alleintäter namens Sirhan Bishara Sirhan, den daraufhin ein dubioser Sicherheitsmann zu erschießen versuchte. Wie Ruby hatte auch Sirhan für einen Mafioso gearbeitet, nämlich für Mickey Cohen, der mit Marcellos Rennsportinformationsdienst kooperierte. Trotz seines Überlebens blieb auch Sirhans Motiv unklar. Zugegen war auch der Gangster Jim Braden/Eugene Hale Brading, der zuvor in Dallas nach dem Attentat im Dal-Tex Building an der Dealey Plaza aufgegriffen worden war und Verbindungen zu Ruby hatte.

Ausgerechnet die ohnehin angeschlagene CIA, die immer wieder einer Beteiligung am Kennedy-Attentat verdächtigt wurde, dürfte wenig von dem Verlust der spionagebegeisterten Kennedys profitiert haben. Im Gegenteil hatte sie nach verbreiteter Meinung bei der Überwachung der Auslandsaktivitäten Oswalds versagt und wurde von Johnson, dem engen Freund des CIA-Rivalen Hoover, buchstäblich ignoriert. Der Bezirksstaatsanwalt von New Orleans, Jim Garrison, der 1967 erfolglos den ehemaligen CIA-Residenten und Geschäftsmann Clay Shaw anklagte, ermittelte ebenfalls insoweit nie gegen Marcello und seine einflußreichen Freunde, deren Interessen er gekannt haben musste. Im Gegenteil brachte Garrison zahlreiche Anklagen gegen die Mafia zu Fall und fand auch nichts dabei, sich von Marcello eine günstige Immobilie vermitteln sowie Wochenenden in Las Vegas schenken zu lassen.

Hoover, der acht Präsidenten überlebt hatte, wurde von Johnson zum FBI-Chef auf Lebenszeit gemacht, die 1972 unter mysteriösen Umständen endete.

Johnsons langjähriger Weggefährte Gouverneur Connally wurde Finanzminister, tat sich als eifriger Falke des Vietnamkriegs hervor, machte mit Bestechungsskandalen Schlagzeilen, wechselte nach Johnsons Tod 1973 in die Republikanische Partei, bemühte sich mit Unterstützung von Rechtsaußen Strom Thurmond selbst erfolglos um das Präsidentenamt und meldete 1986 Bankrott an.

Präsident Nixon, der an Kasinogeschäften auf Kuba beteiligt gewesen sein soll und auch auf Marcellos Payroll stand, stellte für die ehrenwerte Gesellschaft ebenfalls keine Bedrohung dar. Im Gegenteil befreite Nixon sogar Heroinschmuggler Trafficante aus einem Schweizer Gefängnis und amnestierte zum Entsetzen des FBI brutale Mafiosi. Als nach dem Watergate-Skandal Giancana, der für die Mafia mit Kennedy auf das falsche Pferd gesetzt hatte, 1976 über die Konspiration mit der CIA gegen Castro aussagen sollte, wurde er durch demonstrativ ins Gesicht abgegebene Schüsse zum Schweigen gebracht. Die zersägten Körperteile des ebenfalls geschwätzig gewordenen Roselli fand man in in einem Fass. Hoffa verschwand spurlos, angeblich in einer Druckpresse. Als einziger CIA-Mordpartner der Mafia überlebte Trafficante, der das Gesetz des Schweigens kompromisslos ehrte.

Ölbaron Nelson Bunker Hunt finanzierte diverse rechtsgerichtete und christlich-konservative Organisationen, meldete jedoch nach Verstaatlichung seiner libyschen Ölfelder in den 80er Jahren Konkurs an und wurde der Manipulation des Silbermarktes für schuldig befunden. Sein Freund Murchison soll sich laut Hoovers Biograph Anthony Summers nicht nur für Hoover und McCarthy eingesetzt haben, sondern auch für Lincoln Rockwell, den Anführer American Nazi Partie. Murchison verlor ebenfalls sein gigantisches Vermögen, angeblich wegen des gesunkenen Ölpreises, möglicherweise aber auch deshalb, weil zwei wichtige Geschäftspartner wegfielen: Die Genoveses und die Marcellos.

Anfang der 80er Jahre, als Hoover und Johnson verstorben waren, war Marcello durch die bislang aufwändigste Abhöroperation Lockvögeln des FBI in die Falle gegangen. Robert Kennedys einstige Mitstreiter entwarfen die effizienten RICO-Gesetze, die erstmals der Mafia gefährlich wurden und das landesweite Syndikat zerschlugen. Auch, wenn manche FBI-Ermittler der Ansicht waren, man habe genug, um Marcello für den Präsidentenmord anzuklagen, wurde dieser insoweit nie angefasst. Im Gefängnis jedoch soll der alternde Mafiaboss, der inzwischen an Demenz erkrankt war, einem Zellengenossen gegenüber mit dem Mord geprahlt haben. Seinen Lebensabend verbrachte der schließlich haftunfähige Gangster in Freiheit. Ebenso Trafficante.

Kennedy-Puzzle

Untersuchungsausschüsse wie das House Select Committee on Assassinations HSCA (1976) und das Assassination Records Review Board (1998) kamen zu der Auffassung, dass die von Hoover persönlich geleiteten Ermittlungen des FBI, welche die Grundlage des Warren-Reports bildeten, untauglich waren und insbesondere nicht der Möglichkeit einer Konspiration nachgingen.

Mitte 2007 veröffentlichte die CIA ein 1973 gefertigtes streng geheimes Dokument, in denen die damals sensibelsten Verfehlungen der CIA zusammengefasst wurden. Die für viele Amerikaner drängendste Frage, wer für den Kennedy-Mord wirklich verantwortlich ist, wird in der veröffentlichten Version nicht angesprochen, jedoch ist die Position 1 des als Familienjuwelen bekannten Berichts bis heute geschwärzt.

Auch, wenn viele Indizien für eine Allianz von rechtsgerichteten Schattenmännern, Mafia und deren Gallionsfigur "Lying" B. Johnson sprechen, um sich des gemeinsamen Gegners zu entledigen und den Staatsstreich mit einem facettenreichen Cover Up zu tarnen, so sind dies eben nur Interpretationen eines Puzzles, in dem viele Teile fehlen – wie gesperrte oder verschwundene Akten und Beweisstücke sowie in Unfällen oder durch Gewalt verstorbene Zeugen. Ein Puzzle mit solch mysteriösen Teilen wie Flugblättern für nicht existierende „Fair Play for Cuba“-Komitees, magischen Kugeln, wundersam heilenden Leichen und Briefe von Toten und solchen an Tote. Lothar Buchholz („Labyrinth der Wahrheiten“), der seit Jahren möglichst anhand von Originaldokumenten über den Tathergang des Kennedy-Mordes forscht, enthält sich konsequenterweise nach Möglichkeit eigener Schlussfolgerungen.

Wie viel bequemer wäre es doch, stattdessen nicht nur an einen 23jährigen Spinner zu glauben, der mit dem schlechtesten Gewehr der Welt trotz versperrter Sicht aus einer ungünstigen Schussposition ein fahrendes, ausnahmsweise kaum gesichertes Ziel trifft, sondern auch an einen mitfühlenden Zuhälter, der die Todesstrafe in Kauf nimmt, um Kennedys Witwe einen unangenehmen Strafprozess gegen den angeblichen Präsidentenmörder zu ersparen?1