Das Phänomen der Millisekundenpleite

E-Business und Raketentechnik

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Was hat Electronic Business mit der Raumfahrt zu tun? Zunächst einmal ist die Raumfahrt eine Hightechbranche - ebenso wie die internetorientierte Softwarebranche. Zum anderen stiegen die Kurse von Hightech-Aktien auf Flugbahnen, die eine ähnliche Gipfelhöhe wie ballistische Raketen erreichten. E-Commerce wurde geradezu zu einem Marschflugkörper für die Erschließung des WorldWideWeb.

Das Besondere an einer ballistischen Flugbahn ist jedoch, dass sich ab einem gewissen Scheitelpunkt die Abwärtsbewegung beschleunigt. Dies mussten auch die Anleger an den internationalen Finanzmärkten erfahren, als sich die Abwärtsbewegungen in der 1. Crash-Stufe im April 2000 und der 2. Crash-Stufe im Oktober 2000 dramatisch verstärkten. Wie beim Einschlag einer Rakete gab es auch an den Finanzmärkten ein Blutbad in Form von Kursverlusten von über 95 Prozent wie bei der japanischen Internetaktie Hikari Tsushin oder dem amerikanischen Nasdaq-Wert US Interactive.

Aus "Der Sturm" von Wolfgang Petersen

Nach dem Immobilienbubble Ende der 80er Jahre in Japan hatte die Welt nun eine zweite Blase: den sogenannten Internet-Bubble. Doch dies wird die Anleger wahrscheinlich auch zukünftig nicht daran hindern, weitere Kursraketen zu zünden.

Beispiel-Chart: US Interactive

Aktien-Bewertungen

Exponentielles Wachstum der Nutzerraten im Internet, Überliquidität durch zu hohe Geldmengenversorgung (aufgrund von Ängsten eines möglichen Y2K-Crashes) sowie eine hohe Produktivität in den Unternehmen führten Ende 1999 zu einer Hybrisstimmung, die zu bisher nie gesehenen Kursexplosionen an den Finanzmärkten führte. So stiegen in der Endphase der Hausse Aktien mit nahezu 40 bis 80 %-igen Kursanstiegen pro Tag, ohne dass sich an der grundlegenden Einstufung dieser Aktien irgend etwas geändert hätte.

Die Überlagerung dieser Anstiege führte zu einer riesigen Flutwelle von Kapital und Neuemissionen, die über die Kapitalmärkte hereinbrachen. Traditionelle Bewertungsmethoden schienen zu versagen. Dies veranlasste immer mehr Anleger dazu, die Risiken zu vernachlässigen und ohne Rücksicht auf mögliche Verluste zu kaufen. Werte wie United Internet am Neuen Markt in Deutschland wurden innerhalb weniger Monate von 100 Euro auf über 500 Euro gepuscht. Nach den Kursstürzen im Jahr 2000 stellt sich jedoch die Frage, wie teuer Internet-Titel eigentlich sein dürfen? Dies gilt besonders für die jüngeren Unternehmen der Branche, die noch keine Gewinne erwirtschaften.

Spätestens seit in Deutschland im Juli 2000 sogenannte Todeslisten von Unternehmen kursierten, deren Burn Rate angeblich zu einem baldigen Konkurs der Aktien führen sollte, wird die Frage nach der Rechtfertigung der Aktienpreise immer wichtiger. Aber auch Unternehmen, die erst wenige Jahre alt sind und als Branchenführer gelten wie Yahoo, scheinen mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis 2000 zu etwa 200 trotz bereits erheblicher Korrekturen von über 50 % als immer noch viel zu teuer.

Beispiel-Chart: Yahoo

The Perfect Storm

Der Film The Perfect Storm des deutschen Regisseurs Wolfgang Petersen, mit George Clooney in der Hauptrolle, liefert geradezu die perfekte Analogie zu den Ereignissen an der Nasdaq vom April des Jahres 2000. Hier wie dort bahnte sich die Katastrophe systematisch an, hier wie dort gab es genügend Abbruchmöglichkeiten für die Teilnehmer und hier wie dort endete das ganze in einer Welle, die alles bisher Dagewesene übertraf.

Für Kapitän Billy Tyne und seine Mannschaft, die mit ihrem Boot "Andrea Gail" die entlegenen, aber Fischgründe des Flemish Cap ansteuerten, wurde ein Sturm, der sehr schnell eine Stärke von über 200 Stundenkilometern und mehr als 30 Meter hohe Wellen erreichte, zu einem mörderischen Kampf auf Leben und Tod. Der Great Halloween Nor'easter, der Sturm des Jahrhunderts, der unter ganz besonderen meteorologischen Bedingungen entstand, hat sein Analogon in den ökonomischen Bedingungen, die zum bisher größten Kurssturz in der Geschichte der Nasdaq und des Neuen Marktes in Deutschland führte.

Dass nach jedem Wellengipfel auch ein Wellental kommt, mussten auch eine Vielzahl von Internet-Aktionären erfahren. So wie die Crew der Andrea Gail keine Chance hatte, der Killer-Welle des Hurricans zu entkommen, konnten auch die Aktienanleger nicht heil davonkommen, als die Kurse einmal zu fallen begannen. Tageskursverluste in einzelnen Aktien von über 50 % verhinderten einen geordneten Rückzug, wie er in früheren Baisse-Phasen noch möglich war. Das Phänomen der Millisekundenpleite ist in exponentiell steigenden Märkten somit zu einem alltäglichen Phänomen geworden.

Beispiel-Chart: Nasdaq Composite Index

Der Internet-Hurricane

Zu Beginn des Herbstes 2000 zeichnete sich eine Entwicklung ab, die die überteuerten Internetwerten endgültig ihrer Kursphantasien beraubte. Der Index stürzte erneut, um über 1/3 seines Wertes ab, wobei einzelne Werte, die zuvor schon 80 % ihres Kurswertes eingebüßt hatten, sich nochmals um über 50 % im Wert reduzierten. Dabei sind auch sogenannte E-Oldies wie Motorola oder Lucent Technologies im Herbst 2000 nicht von Kursstürzen um 1/3 bzw. 1/4 ihres Wertes an einem Handelstag verschont geblieben.

Dieser starke Kursabfall, der vor allem in den New Economy-Werten auftritt, war unvermeidlich, da insbesondere diese Anlegerschicht nur noch konsumiert und eine Sparquote von nahezu Null Prozent aufweist. Eine zweite Quelle der Instabilität sind die Investment-Fonds, die nicht mehr wie früher nach absoluten Ergebnissen gemessen werden, sondern nur noch relativ zu anderen Fondsmanagern. Dadurch folgen diese nahezu jedem Trend blind und forcieren das sogenannte Momentum-Investing, welches auch die Day-Trader nutzen.

Verlässliche Analystenprognosen gibt es sowieso nicht mehr, da Analysten je nach Belieben Kursziele nach oben oder unten korrigieren und mittlerweile als verlängerter Arm der Marketing-Abteilungen von Unternehmen fungieren. Wenn die Kurse schon bei einer Gewinnwarnung, die unwesentlich unter der Prognose liegt, um 50 % einbrechen, so stellt sich natürlich die Frage, welcher Hurricane erst losbrechen wird, wenn die gleichen Firmen Verlustwarnungen aussprechen.

Dot.com-Generation

Wenn Aktien innerhalb eines Handelstages um über 50 % gegenüber ihres Vortageswertes fallen, nur weil diese die Erwartungen der Analysten um einige Pfennige nicht erfüllen, dann kann es an den internationalen Finanzmärkten nicht mit rechten Dingen zu gehen. Entweder es gibt neue Gesetzmäßigkeiten, dann wären die Überreaktionen nach unten möglicherweise falsch, oder es gibt keine neuen Gesetzmäßigkeiten, dann jedoch müssten die Analysten in der Tat neue Bewertungsmaßstäbe anlegen.

Die heutige Generation der Internetunternehmer wird den Nachweis erbringen müssen, dass sie in der Lage sind, Netzwerk-Unternehmen, welche das Rückgrad der sogenannten New Economy bilden, führen zu können. Bei den meisten Emporkömmlingen kann jedoch heute schon gesagt werden, dass sie die ersten drei Jahre ohne Verstärkung des Top-Management-Teams mit erstklassigen Managern nicht überleben werden. Die Wirtschaftsbücher sind voll mit Perioden von sogenannten New Economy-Zeitaltern, die genauso abrupt endeten, wie diese begonnen hatten.

Das markanteste Beispiel im letzten Jahrhundert war der Crash des New Yorker Aktienmarktes in den 20er Jahren. Es ist nicht auszuschließen, dass die Erwartungshaltungen hinsichtlich der Biotechnologie-Revolution den Nasdaq-Index nach der aktuellen Baisse wieder auf bisher ungeahnte Höhen führen wird. Der Leidtragende von Überbewertungen ist jedoch nicht der Venture Capitalist oder Entrepreneur, da diese frühzeitig die Probleme in Unternehmen kennen und rechtzeitig durch Verkäufe reagieren können. Der Letzte, der auf den Sonderzug nach Cyberpunko aufgesprungen ist, bezahlt dann die Zeche.