Das Plagiat, als eine schöne Kunst betrachtet

Seite 2: Abgeschrieben wird immer

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Ende 1836 wurde Poe beim Messenger gefeuert (wahrscheinlich wegen seiner Alkoholkrankheit). Dort hatte er bereits zwei Teile einer lockeren, durch die Hauptfigur Arthur Gordon Pym zusammengehaltenen Folge von Seeabenteuern veröffentlicht. Daraus wollte er jetzt den von den Harpers gewünschten Roman machen. Das war aber gar nicht so einfach. Poe hatte als Kind eine Reise nach England mitgemacht, war ansonsten jedoch eine Landratte. Die großen Schiffsreisen, mit denen er später seinen Lebenslauf ausschmückte, sind erfunden bzw. aus der Biographie seines Bruders übernommen. Von der Seefahrt hatte Poe keine Ahnung, für Milieustudien weder das Geld noch die Gelegenheit. Also schrieb er ab.

Poe war nicht der Erste, der das tat. George Gordon Lord Byron besaß ein Segelboot, aber ein Seemann war er nicht. Als er zum Schiffbruch im zweiten Canto seines Versepos Don Juan kam, kaufte er Sir J.G. Dalyells Buch Shipwrecks and Disasters at Sea (1812), von dem er sich einiges borgte. Solche Anleihen waren nicht ungefährlich. Man konnte beim Abschreiben erwischt werden. Das Monthly Magazine (August 1821) stellte dem Don Juan in parallelen Spalten die geborgten Stellen gegenüber und beschuldigte Byron, ein Plagiator zu sein. Allerdings hätte man solche Vorwürfe genauso Sir Dalyell machen können, der sich auch schon bei anderen bedient hatte. In der Poe-Literatur kann man oft lesen, dass Arthur Gordon Pym seinen zweiten Vornamen Poes Bewunderung für Lord Byron verdankt („Gordon“ war dessen Familienname). Das mag so sein. Poe erweist damit aber auch dem Plagiator Lord Byron ironisch seine Referenz – und weist mit einem Augenzwinkern auf das eigene Verfahren hin.

Für Poe wurde die Aufgabe, einen authentisch wirkenden Seeroman zu schreiben, dadurch noch schwieriger, dass er sich keine einschlägigen Bücher kaufen konnte und öffentliche Bibliotheken praktisch nicht existierten. Zum Glück gab es die Mariner’s Chronicles von Archibald Duncan. Das war eine Sammlung mit Texten, in denen Schiffbrüche und andere Katastrophen auf hoher See nacherzählt wurden. Duncan brachte es auf insgesamt vier Bände, die zuerst in England erschienen und von einem Verleger in Philadelphia schnell nachgedruckt wurden. Diese Raubdrucke wurden zur Grundlage für andere Sammlungen dieser Art, die bei der Konkurrenz erschienen und Duncan mehr oder weniger kopierten (unter Hinzufügung einiger neuerer Katastrophen). Die Mariner’s Chronicles waren – in mehreren Varianten und mit verschiedenen Titeln – leicht und billig zu bekommen. Von ihnen machte Poe reichlich Gebrauch, wenn Pym wieder einmal in Seenot geriet. Weil er sich mit nautischen Begriffen nicht auskannte, unterliefen ihm dabei einige Fehler. So geht zum Beispiel ein Segel verloren, das nicht mehr da sein kann, weil der Wind vorher den zugehörigen Mast abgerissen hat.

Poe schrieb allerdings nicht einfach ab. Er machte sich über die Klischees lustig, die er in seinen Vorlagen fand und blieb dabei immer selbstironisch. So gibt es längere, mit unsinnigen Details gespickte Ausführungen über Segelmanöver und einen Exkurs über das richtige Beladen von Schiffen, der sich langsam ins Aberwitzige steigert. Auf den ersten Blick wirken diese Stellen wie Füllsel, die Poe eingefügt hat, um auf Romanlänge zu kommen. Wenn man aber bemerkt hat, wie komisch-verspielt sie sind, entfalten sie ihren eigenen Charme. Die Leser der meisten deutschen Übersetzungen können sich darüber leider kein eigenes Urteil bilden, weil diese Passagen dort stark gekürzt oder ganz weggelassen sind.

Symmes’ Loch

Etwa zur Hälfte des Buchs hatte Poe die in den Chronicles geschilderten Desaster so weit ausgeschlachtet, dass er etwas Neues brauchte. Er beschloss, Pym in Richtung Südpol zu schicken. Diese Idee verdankte er letztlich John Cleves Symmes, obwohl der eigentlich zum Nordpol wollte.

John Cleves Symmes

Im April 1818 veröffentlichte Symmes sein „Rundschreiben Nummer 1“, das er der Einfachheit halber gleich „AN DIE GANZE WELT!“ adressierte. Darin fasste er das Ergebnis neunjähriger Überlegungen zusammen: „Ich erkläre, dass die Erde im Inneren hohl und bewohnbar ist; dass sie eine Anzahl von festen konzentrischen Sphären enthält, eine innerhalb der anderen, und dass sie an den Polen 12 oder 16 Grad breit offen ist.“ Zur Sicherheit fügte Symmes ein ärztliches Attest an, das ihm seine geistige Gesundheit bestätigte. Er glaubte, dass es hinter einem Eisgürtel rund um die Pole ein warmes Meer gab, das direkt in die Öffnung zum Erdinneren floss. Und er war bereit, seine Theorie zu beweisen, wenn man ihm das Geld für eine Expedition gab. Symmes wollte zum Nordpol, weil seiner Überzeugung nach das Wasser dort in das Loch floss (und im Süden wieder herauskam), man also nur der Strömung zu folgen brauchte.

Bald wurde der Kongress mit Petitionen bombardiert. Die US-Regierung sollte eine Nordpolexpedition finanzieren. Doch die Sache nahm erst richtig Fahrt auf, als sich ein gewisser Jeremiah N. Reynolds mit Symmes zusammentat. Reynolds war ein guter Redner, ein geschickter Lobbyist und ein Pragmatiker. Ihm war klar, dass man leichter an öffentliche Gelder kam, wenn sich die Expedition mit wirtschaftlichen Interessen begründen ließ. Für die Amerikaner war der Süden wichtiger als der Norden. Dort suchten die Wal- und Robbenjäger ständig nach neuen Fanggründen, dort gab es das im Chinahandel sehr wichtige Sandelholz und Seegurken, die ebenfalls mit großem Profit nach China verkauft wurden. Also dachte Reynolds neu nach und kam zu dem Ergebnis, dass das Wasser wohl eher in das Loch am Südpol flösse und demnach eine Südmeerexpedition viel sinnvoller sei. Darüber kam es zum Bruch mit Symmes, aber der Kongress ließ sich überzeugen. Trotzdem dauerte es noch bis zum Sommer 1838, bis die United States Exploring Expedition endlich aufbrechen konnte. Poes Roman erschien zur gleichen Zeit. Man konnte also bereits seinen (imaginären) Bericht über die Südpolexpedition lesen, als diese gerade erst in Angriff genommen wurde.

Reynolds hatte vor dem Kongress eine Rede gehalten und diese – angereichert mit Informationen zur bisherigen Erforschung des Südmeers – als Buch veröffentlicht. Für Poe war das eine wichtige Quelle (den Text der Rede baute er fast vollständig in seinen Roman ein). Leider war Reynolds selbst nicht sehr weit nach Süden vorgedrungen. Andererseits hatte bislang niemand die Nicht-Existenz von Symmes’ Loch nachgewiesen. Und es gab die Südsee mit ihren unentdeckten Inseln und ihren Kannibalen. Daraus ließ sich etwas machen. Das Material lieferte Benjamin Morrell.