Das Plagiat, als eine schöne Kunst betrachtet

Poe, Pym und allerlei Kopisten

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Die Geschichte des Arthur Gordon Pym von Edgar Allan Poe ist ein Hauptwerk der amerikanischen Literatur. Poe hat allerdings knapp ein Drittel des Romantexts von anderen Autoren abgeschrieben. Warum hat er abgeschrieben und von wem? Ist es schlimm, dass er abgeschrieben hat? Hier sind die Antworten.

Zu Poes Zeiten war der amerikanische Literaturbetrieb für die Skrupellosigkeit vieler seiner Protagonisten berüchtigt. Poe bekam einen ersten Eindruck von der allgemeinen Korruption, als er am Wettbewerb einer Wochenzeitung aus Baltimore teilnahm. Ausgelobt waren zwei Geldpreise: Einer für die beste Kurzgeschichte, einer für das beste Gedicht. Poe machte bei beiden Wettbewerben mit, gewann 50 Dollar für den besten Prosatext – und prügelte sich anschließend mit dem Chefredakteur der Zeitung. Bis heute wird das oft als Beweis für seine Arroganz, seine Selbstüberschätzung und seine Unbeherrschtheit angeführt. Er sei, heißt es, darüber verärgert gewesen, nicht auch mit seinem Gedicht gewonnen zu haben und habe, statt dankbar zu sein, den armen Chefredakteur deshalb in einen Faustkampf verwickelt. Was dabei unerwähnt bleibt: Dieser Herr hatte, unter Pseudonym, mit einem substanzlosen Mehrzeiler seinen eigenen Gedichtwettbewerb gewonnen, und die Juroren hatten es gewusst. Als Poe den Chefredakteur zur Rede stellte, flogen die Fäuste.

Edgar Allan Poe

Im Jahr darauf, 1835, trat Poe in Richmond eine Stelle beim Southern Literary Messenger an, einer kulturellen Monatsschrift. Dort lernte er einen festen Bestandteil des amerikanischen Verlagswesens kennen, das puffing. Mit puffing ist der Austausch hochjubelnder Kritiken gemeint. Zeitschrift A oder Autor A lobte Zeitschrift B oder Autor B und wurde dafür bei nächster Gelegenheit wieder gelobt. Das System funktionierte so ähnlich wie das blurbing unserer Tage: ein bekannter Autor lässt sich mit einer kurzen Lobhudelei auf dem Schutzumschlag einer Neuerscheinung zitieren und darf im Gegenzug damit rechnen, vom gepriesenen Kollegen ebenfalls mit Lob bedacht zu werden, wenn der Umschlag für sein nächstes Buch gedruckt wird. Poe machte das puffing mit, weil sein Chef beim Messenger es so verlangte. Den Texten merkt man aber an, dass er versuchte, die lästige Pflicht zu erfüllen, ohne sich zu sehr zu kompromittieren. Gelegentlich flüchtet er sich in Ironie oder in die gewollte Übertreibung. Oder er puffte sich – unter Pseudonym – selber auf.

Die Magazine: Das Internet des 19. Jahrhunderts

Auch wenn sie nicht immer ganz ehrlich waren: Zeitschriften wie der Messenger waren enorm wichtig für die Entwicklung der amerikanischen Literatur. Es gab kein international gültiges Copyright. Amerikanische Verlage druckten die Romane von britischen Erfolgsautoren wie Charles Dickens nach, bezahlten kein Honorar und verdienten viel Geld damit, mit dem sie lieber den nächsten Raubdruck finanzierten, als es in heimische Talente zu investieren. Etablierte Romanciers wie James Fenimore Cooper (der Verfasser der Lederstrumpf-Romane) finanzierten die Herstellung ihrer Bücher selbst, bezahlten ihre Verleger für Produktion und Vertrieb und strichen am Ende den Gewinn ein. Wer sich eine solche Vorfinanzierung nicht leisten konnte, war auf die Magazine angewiesen. Davon gab es genug. Zwischen 1825 und 1850 vermehrte sich in den Vereinigten Staaten die Zahl der regelmäßig erscheinenden Zeitschriften um das 600-Fache. Die Gründe dafür reichten von der Einführung der dampfgetriebenen Druckerpresse (1827) und der Verbesserung des Bildungssystems über bessere und billigere Brillen bis zum Ausbau des Eisenbahnnetzes, wodurch zum einen der Vertrieb einfacher wurde und es zum anderen immer mehr Passagiere gab, die eine in jede Tasche passende Reiselektüre brauchten. Viele der neuen Periodika verschwanden genauso schnell wieder vom Markt, wie sie aufgetaucht waren, aber meistens wurden gleich ein paar andere gegründet. Die Zeitschriften bezahlten feste Preise und boten amerikanischen Autoren für kurze Texte aller Art (Geschichten, Essays, Gedichte, Fortsetzungsromane) eine Veröffentlichungsmöglichkeit, die sie innerhalb des herkömmlichen Verlagssystems nicht gehabt hätten. Sie sind durchaus mit dem Internet vergleichbar.

Auch Poe, der zeitlebens bettelarm war, verlegte sich auf das Schreiben von Kurzgeschichten, weil es dafür einen Markt gab und sofort ein Honorar. Die theoretischen Texte, in denen er darlegt, warum nur die kurze Form künstlerisch wertvoll sein kann, verfasste er, nachdem er mit seinem einzigen Roman Schiffbruch erlitten hatte. Man darf zumindest darüber spekulieren, ob er derselben Meinung gewesen wäre, wenn er es mit Pym zu Ansehen und Reichtum gebracht hätte, oder wenigstens zu einem halbwegs akzeptablen Einkommen. Denn Poe war auch nur ein Mensch.

Am liebsten hätte Poe seine gesammelten Geschichten als Buch veröffentlicht. Aber für eine solche Sammlung fand sich kein Verlag. Harper & Brothers waren allerdings an einem Roman von ihm interessiert. Das war eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gebrüder Harper betrieben eines der größten und erfolgreichsten Verlagshäuser der USA. Sie konnten es sich leisten, Rezensionsexemplare zu verschicken (damals keine Selbstverständlichkeit), und das garantierte schon deshalb Besprechungen, weil die Harpers dann auch in Zukunft Rezensionsexemplare schickten. Diese Bücher konnte man später verkaufen, wodurch viele Kritiker und Redakteure ihr Gehalt aufbesserten. Auch Poe machte das so. Seine Essays, in denen er so tut, als besitze er eine große Bibliothek, zeichnen ein geschöntes Bild von der Wirklichkeit. Er hatte ein kleines Hängeregal und nie so viele Bücher, dass sie darauf nicht Platz gefunden hätten.

Abgeschrieben wird immer

Ende 1836 wurde Poe beim Messenger gefeuert (wahrscheinlich wegen seiner Alkoholkrankheit). Dort hatte er bereits zwei Teile einer lockeren, durch die Hauptfigur Arthur Gordon Pym zusammengehaltenen Folge von Seeabenteuern veröffentlicht. Daraus wollte er jetzt den von den Harpers gewünschten Roman machen. Das war aber gar nicht so einfach. Poe hatte als Kind eine Reise nach England mitgemacht, war ansonsten jedoch eine Landratte. Die großen Schiffsreisen, mit denen er später seinen Lebenslauf ausschmückte, sind erfunden bzw. aus der Biographie seines Bruders übernommen. Von der Seefahrt hatte Poe keine Ahnung, für Milieustudien weder das Geld noch die Gelegenheit. Also schrieb er ab.

Poe war nicht der Erste, der das tat. George Gordon Lord Byron besaß ein Segelboot, aber ein Seemann war er nicht. Als er zum Schiffbruch im zweiten Canto seines Versepos Don Juan kam, kaufte er Sir J.G. Dalyells Buch Shipwrecks and Disasters at Sea (1812), von dem er sich einiges borgte. Solche Anleihen waren nicht ungefährlich. Man konnte beim Abschreiben erwischt werden. Das Monthly Magazine (August 1821) stellte dem Don Juan in parallelen Spalten die geborgten Stellen gegenüber und beschuldigte Byron, ein Plagiator zu sein. Allerdings hätte man solche Vorwürfe genauso Sir Dalyell machen können, der sich auch schon bei anderen bedient hatte. In der Poe-Literatur kann man oft lesen, dass Arthur Gordon Pym seinen zweiten Vornamen Poes Bewunderung für Lord Byron verdankt („Gordon“ war dessen Familienname). Das mag so sein. Poe erweist damit aber auch dem Plagiator Lord Byron ironisch seine Referenz – und weist mit einem Augenzwinkern auf das eigene Verfahren hin.

Für Poe wurde die Aufgabe, einen authentisch wirkenden Seeroman zu schreiben, dadurch noch schwieriger, dass er sich keine einschlägigen Bücher kaufen konnte und öffentliche Bibliotheken praktisch nicht existierten. Zum Glück gab es die Mariner’s Chronicles von Archibald Duncan. Das war eine Sammlung mit Texten, in denen Schiffbrüche und andere Katastrophen auf hoher See nacherzählt wurden. Duncan brachte es auf insgesamt vier Bände, die zuerst in England erschienen und von einem Verleger in Philadelphia schnell nachgedruckt wurden. Diese Raubdrucke wurden zur Grundlage für andere Sammlungen dieser Art, die bei der Konkurrenz erschienen und Duncan mehr oder weniger kopierten (unter Hinzufügung einiger neuerer Katastrophen). Die Mariner’s Chronicles waren – in mehreren Varianten und mit verschiedenen Titeln – leicht und billig zu bekommen. Von ihnen machte Poe reichlich Gebrauch, wenn Pym wieder einmal in Seenot geriet. Weil er sich mit nautischen Begriffen nicht auskannte, unterliefen ihm dabei einige Fehler. So geht zum Beispiel ein Segel verloren, das nicht mehr da sein kann, weil der Wind vorher den zugehörigen Mast abgerissen hat.

Poe schrieb allerdings nicht einfach ab. Er machte sich über die Klischees lustig, die er in seinen Vorlagen fand und blieb dabei immer selbstironisch. So gibt es längere, mit unsinnigen Details gespickte Ausführungen über Segelmanöver und einen Exkurs über das richtige Beladen von Schiffen, der sich langsam ins Aberwitzige steigert. Auf den ersten Blick wirken diese Stellen wie Füllsel, die Poe eingefügt hat, um auf Romanlänge zu kommen. Wenn man aber bemerkt hat, wie komisch-verspielt sie sind, entfalten sie ihren eigenen Charme. Die Leser der meisten deutschen Übersetzungen können sich darüber leider kein eigenes Urteil bilden, weil diese Passagen dort stark gekürzt oder ganz weggelassen sind.

Symmes’ Loch

Etwa zur Hälfte des Buchs hatte Poe die in den Chronicles geschilderten Desaster so weit ausgeschlachtet, dass er etwas Neues brauchte. Er beschloss, Pym in Richtung Südpol zu schicken. Diese Idee verdankte er letztlich John Cleves Symmes, obwohl der eigentlich zum Nordpol wollte.

John Cleves Symmes

Im April 1818 veröffentlichte Symmes sein „Rundschreiben Nummer 1“, das er der Einfachheit halber gleich „AN DIE GANZE WELT!“ adressierte. Darin fasste er das Ergebnis neunjähriger Überlegungen zusammen: „Ich erkläre, dass die Erde im Inneren hohl und bewohnbar ist; dass sie eine Anzahl von festen konzentrischen Sphären enthält, eine innerhalb der anderen, und dass sie an den Polen 12 oder 16 Grad breit offen ist.“ Zur Sicherheit fügte Symmes ein ärztliches Attest an, das ihm seine geistige Gesundheit bestätigte. Er glaubte, dass es hinter einem Eisgürtel rund um die Pole ein warmes Meer gab, das direkt in die Öffnung zum Erdinneren floss. Und er war bereit, seine Theorie zu beweisen, wenn man ihm das Geld für eine Expedition gab. Symmes wollte zum Nordpol, weil seiner Überzeugung nach das Wasser dort in das Loch floss (und im Süden wieder herauskam), man also nur der Strömung zu folgen brauchte.

Bald wurde der Kongress mit Petitionen bombardiert. Die US-Regierung sollte eine Nordpolexpedition finanzieren. Doch die Sache nahm erst richtig Fahrt auf, als sich ein gewisser Jeremiah N. Reynolds mit Symmes zusammentat. Reynolds war ein guter Redner, ein geschickter Lobbyist und ein Pragmatiker. Ihm war klar, dass man leichter an öffentliche Gelder kam, wenn sich die Expedition mit wirtschaftlichen Interessen begründen ließ. Für die Amerikaner war der Süden wichtiger als der Norden. Dort suchten die Wal- und Robbenjäger ständig nach neuen Fanggründen, dort gab es das im Chinahandel sehr wichtige Sandelholz und Seegurken, die ebenfalls mit großem Profit nach China verkauft wurden. Also dachte Reynolds neu nach und kam zu dem Ergebnis, dass das Wasser wohl eher in das Loch am Südpol flösse und demnach eine Südmeerexpedition viel sinnvoller sei. Darüber kam es zum Bruch mit Symmes, aber der Kongress ließ sich überzeugen. Trotzdem dauerte es noch bis zum Sommer 1838, bis die United States Exploring Expedition endlich aufbrechen konnte. Poes Roman erschien zur gleichen Zeit. Man konnte also bereits seinen (imaginären) Bericht über die Südpolexpedition lesen, als diese gerade erst in Angriff genommen wurde.

Reynolds hatte vor dem Kongress eine Rede gehalten und diese – angereichert mit Informationen zur bisherigen Erforschung des Südmeers – als Buch veröffentlicht. Für Poe war das eine wichtige Quelle (den Text der Rede baute er fast vollständig in seinen Roman ein). Leider war Reynolds selbst nicht sehr weit nach Süden vorgedrungen. Andererseits hatte bislang niemand die Nicht-Existenz von Symmes’ Loch nachgewiesen. Und es gab die Südsee mit ihren unentdeckten Inseln und ihren Kannibalen. Daraus ließ sich etwas machen. Das Material lieferte Benjamin Morrell.

Münchhausen in Amerika

Kapitän Morrell unternahm von 1822 bis 1831 vier Südsee-Reisen und veröffentlichte 1832 bei den Gebrüdern Harper ein Buch darüber, das sofort ein Bestseller wurde: A Narrative of Four Voyages. Es ist nur schwer zu sagen, wie weit der Kapitän wirklich gekommen war. Denn immer, wenn es interessant wurde, konnte er keine genauen Positionsangaben machen, weil er keine Messinstrumente dabeigehabt hatte. Seine irritierende Angewohnheit, bereits Entdecktes umzubenennen und so zu tun, als sei er der Erste gewesen, trug ebenfalls zur Vernebelung bei. Aus den Salomonen wurden bei Morrell die Massaker-Inseln. Auf diesen Inseln spielte auch ein überaus erfolgreiches, 1833 in New York uraufgeführtes Theaterstück, dessen Autor umso leichter von Morrell abschreiben konnte, als sich der Kapitän eines sehr deklamatorischen, an Melodramen erinnernden Stils bediente. Man müsste von einem dreisten Plagiat sprechen, wenn der Verfasser von The Cannibals; or, Massacre Islands nicht Samuel Woodworth gewesen wäre. Und Woodworth war der Ghostwriter von Morrell, plagiierte sich also selbst.

James Cook

Morrell hatte entweder keine Zeit, seine Narrative of Four Voyages zu schreiben, oder die Harpers trauten es ihm nicht zu. Wenigstens in dieser Hinsicht war Morrell „der amerikanische Kapitän Cook“, als der er angepriesen wurde. Nach Cooks erster Reise zweifelte die britische Admiralität an der literarischen Qualität seiner Aufzeichnungen. Der Auftrag, den offiziellen Bericht zu verfassen, ging deshalb an den Romanautor, Librettisten und Journalisten John Hawkesworth; dieser hatte schließlich die Gesammelten Werke von Jonathan Swift herausgegeben, darunter Gullivers Reisen. Hawkesworth durchmischte Cooks Tagebücher mit denen seines Botanikers Joseph Banks, gab eigene Kommentare und viele Fehler dazu und schrieb das Ganze in der Ich-Form (als „James Cook“), was dem Ruf des Entdeckers sehr schadete.

Vielleicht hatten die Harper-Brüder auch gemerkt, dass Morrell im Grunde ein Scharlatan war, der professionelle Hilfe brauchte, um seine Geschichte glaubwürdiger zu machen. Samuel Woodworth musste eine große Familie ernähren und lieferte alles, was Geld brachte. Er bekam Morrells Logbücher und den Auftrag, daraus ein Werk mit 500 Seiten zu machen. Weil der Kapitän wenig Konkretes und noch weniger Beschreibendes zu bieten hatte, plünderte Woodworth die Bücher anderer Autoren. Der Einfluss von Symmes, dem Theoretiker der hohlen Erde, macht sich bemerkbar, wenn der wackere Morrell feststellt, dass das Meer immer wärmer wird, je mehr man sich dem Südpol nähert.

Man schreibt „weiblich“

Besonders blutig fiel die Beschreibung der vierten Reise aus (die Grundlage für das Kannibalen-Stück). Morrell hatte sie in Begleitung seiner Gattin unternommen. Dadurch eröffnete sich die Gelegenheit, ein schon damals sehr lukratives Marktsegment abzudecken, das Woodworth und der Kapitän nur schwer erreichen konnten: Abby Jane Morrell, fanden die Harpers, sollte ihre, die weibliche Sicht der Dinge darlegen – und stellten auch ihr einen Ghostwriter zur Seite. Dieser Herr – Colonel Samuel L. Knapp, Autor der Lectures on American Literature – hätte sich wohl köstlich amüsiert, wenn man ihm gesagt hätte, dass feministische Literaturwissenschaftlerinnen einmal Aufsätze über Mrs. Morrells Narrative of a Voyage veröffentlichen würden, in denen nachgewiesen wird, dass es eine spezifisch weibliche Art des Schreibens gibt.

Das Buch von Kapitän Morrell fand viel positive Resonanz, aber es gab doch einige Skeptiker, die vorschlugen, das Werk als das Produkt einer lebhaften Phantasie zu lesen, nicht als Tatsachenbericht. Poe war lange genug im Geschäft, um über die Praktiken der Firma Harper Bescheid zu wissen. Das ist wichtig für die Bewertung von Pym. Denn es ist ein Unterschied, ob einer – wie Poe oft vorgeworfen wird – von anderen abschreibt, weil ihm selbst nichts einfällt, oder ob er eine gängige Praxis kritisch hinterfragt, indem er sie in satirischer Absicht auf die Spitze treibt. Fast könnte man meinen, er habe mit sicherem Instinkt gerade diejenigen naturkundlichen Passagen von Morrell/Woodworth abgeschrieben oder paraphrasiert, die besonders fehlerhaft sind; die Trefferquote ist jedenfalls erstaunlich hoch.

Plagiat im Heiligen Land

Plagiate wurden bei den Harpers nach Kräften gefördert. Von James Harper ist eine Ermunterung an J. L. Stephens erhalten. Stephens, ein junger Rechtsanwalt, hatte sich fast zwei Jahre lang in Ägypten und im Heiligen Land aufgehalten. Darüber wollte er gern ein Buch schreiben (Incidents of Travel in Egypt, Arabia Petraea and the Holy Land). Er hatte aber nur wenige Aufzeichnungen gemacht, und sein Gedächtnis war schlecht, oder er war einfach kein guter Beobachter. Harper schlug ihm jedenfalls vor, sich bei den schon existierenden Titeln des Verlags zu bedienen: „Sie können sich so viele aussuchen, wie Sie nur wollen, Sie können irgendetwas auftischen.“ Stephens tat das nach Kräften. Auch er landete einen Bestseller.

Als besonders ergiebig hatte sich für Stephens ein 1832 bei den Harpers als Raubdruck erschienenes Werk des britischen Geistlichen Alexander Keith erwiesen, Evidence of the Truth of the Christian Religion. Poe muss gewusst haben, dass Stephens von Keith abgeschrieben hatte, weil er eine Rezension der Incidents verfasste und zur Vorbereitung das Buch von Keith las. Das bei Keith und Stephens gefundene Material gefiel ihm so gut, dass er für Pym ein neues Kapitel schrieb, in dem es um mysteriöse Felsinschriften, biblische Prophezeiungen und den Untergang einer Kultur geht. Poes Anleihen bei den Harper-Autoren Morrell (bzw. Woodworth), Stephens und Keith (wider Willen, weil einfach nachgedruckt) sind umfangreich und kaum kaschiert. Offenbar war er sehr sicher, nicht mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Anders gesagt: Er wusste, dass er abschreiben konnte, weil das im Hause Harper gängige Praxis war.

Gemetzel mit Kannibalen: Service für die Kritiker

Als The Narrative of Arthur Gordon Pym im Juli 1838 veröffentlicht wurde, hatte der Roman einen sehr langen Untertitel, der in Form eines auf den Leser zukommenden Segelschiffs gesetzt war. Solche langen Untertitel erfüllten die Funktion des heutigen Klappentexts bzw. des Pressehefts. In ihnen wurde aufgelistet, was zum Kauf des Buches anreizen sollte. Sie waren auch ein Service für Zeitschriften, die sich nicht mit einer eigenen Rezension abplagen wollten. Fast alle zeitgenössischen Besprechungen reproduzieren, direkt oder als Paraphrase, diesen Untertitel (es soll auch heute noch Kritiker geben, die den Pressetext abschreiben – aber das ist sicher nur ein böses Gerücht). So erfuhr der potentielle Leser, dass es in Pym eine Meuterei gab, ein fürchterliches Gemetzel, einen Schiffbruch, ein Massaker mit Südseeinsulanern, Entdeckungen in bisher unerforschten Gebieten, weitere unglaubliche Abenteuer usw. usf. Mehr konnte man von einem Sensationsroman eigentlich nicht erwarten. Der kommerzielle Erfolg blieb trotzdem aus. Am besten scheint sich das Buch noch in Großbritannien verkauft zu haben. Poe hatte davon wenig. Die Harpers schickten 100 Exemplare nach Europa. Eines davon besorgte sich ein englischer Verlag, der es sofort nachdruckte, ohne ein Honorar zu bezahlen (kein internationales Copyright) und sich bitter beklagte, als ein Konkurrent eine eigene Ausgabe vorlegte, die auf diesem Raubdruck basierte. So war das eben in der Verlagswelt.

Vielleicht gelang Poe nicht der erhoffte Bestseller, weil sich Pym so schwer einordnen lässt. Handelt es sich um ein Jugendbuch, einen Abenteuerroman für Erwachsene, einen Bildungs- oder Initiationsroman, und ist es überhaupt ein Roman, oder doch eher eine Aneinanderreihung von Episoden? Ist Pym eine Satire, eine Parodie, eine Allegorie, eine Traumgeschichte, ein apokalyptischer, mystischer oder esoterischer Text, womöglich sogar Science Fiction (Pym entdeckt in der Nähe des Südpols rätselhafte Spuren, die genauso vom verlorenen Stamm Israels wie von einer außerirdischen Zivilisation stammen könnten) oder doch ein auf Faktizität setzender Expeditionsbericht? Ein dreistes Plagiat, ein Experiment, die Vorwegnahme der Postmoderne? Die Antwort muss wohl lauten: Der Roman ist von allem etwas, und doch auch wieder nicht. Seit das Buch als ein ernst zu nehmendes Werk entdeckt wurde, hat es ständig neue Interpretationsansätze gegeben. Wenn es stimmt, dass der Rang eines Kunstwerks daran zu erkennen ist, dass der Prozess seines Verstehens nie ein Ende findet, kann Pym zweifellos für sich beanspruchen, ein solches Kunstwerk zu sein.

Poe beerdigt das Originalgenie

Dabei hat Poe keinen inzwischen verstaubten Klassiker geschrieben, der in literaturwissenschaftlichen Seminaren mühsam am Leben erhalten wird. Dafür ist das Buch viel zu frech. Poe treibt Schindluder mit dem, was wir in der Schule über die hehre Kunst gelernt haben, die selbstverständlich weder kopiert noch bei anderen Leuten klaut. Mit der Idee vom nur aus sich selbst schöpfenden Künstler macht er kurzen Prozess, indem er Teile seines Romans aus anderen Texten montiert und sich dann auch noch über das Fragment lustig macht. Den Romantikern war das Fragment heilig, weil es als Beleg für das reine und unmittelbare Schöpfertum galt. Der Künstler (das „Originalgenie“) hatte eine Eingebung (sehr gern in Form eines Traums), begann mit der Niederschrift und wurde nicht fertig, weil er zuvor mit der Banalität der Alltagswirklichkeit konfrontiert wurde und vergaß, was er geträumt hatte. In der Regel waren diese Fragmente geplant und als solche beabsichtigt. Glaubwürdig war das angeblich im Traum entstandene Kunstwerk natürlich nur, wenn es nicht zu lang war. Poe führte das schöne Konstrukt ad absurdum, indem er einen Roman mit immer neuen Wendungen als Fragment präsentierte.

Als wäre das noch nicht unverschämt genug gewesen, versah er sein Romanfragment mit einem Rahmen. In einem vom Ich-Erzähler Arthur Gordon Pym gezeichneten Vorwort erfahren wir, dass er, Pym, seine Geschichte eigentlich nicht hatte aufschreiben wollen, weil er sie für zu unglaubwürdig hielt. Mr. Poe habe ihn vom Gegenteil überzeugt. Das Buch endet mit den Schlussbemerkungen eines anonymen Herausgebers. Dieser Herr teilt uns mit, dass Pym die Fahrt zum Südpol überlebt hat, dass er aber bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen sei, bevor er die abschließenden zwei oder drei Kapitel schreiben konnte. Nur Mr. Poe wisse, wie die Geschichte ausgegangen sei, finde das Ganze inzwischen jedoch so unglaubwürdig, dass er sich weigere, den Lesern mitzuteilen, was Pym ihm erzählt hat. Manchem Verleger und Übersetzer ging das zu weit. Die Anmerkung des Herausgebers wurde deshalb in zahlreichen Ausgaben weggelassen. Viele von Poes Kritikern ärgern sich so über das Ende, dass sie ihm bis heute unterstellen, er habe keine Einfälle mehr gehabt und deshalb einfach aufgehört. Wer nun Lust auf das Buch bekommen hat, aber nichts Unfertiges mag sollte sich von solchen Vorwürfen nicht beunruhigen lassen. Der Roman tut nur so, als sei er ein Fragment.

Manch ein Schriftsteller-Kollege war beeindruckt von Poes Pym, doch das große Publikum nahm den Roman kaum zur Kenntnis. In Amerika geriet er schnell in Vergessenheit. Gut möglich, dass das Buch heute nur noch in ein paar Bibliotheken herumstehen und niemand mehr etwas von ihm wissen würde, wenn es nicht die Franzosen gegeben hätte – und das gute alte Plagiat.

Acht Jahre, nachdem Pym bei den Harpers erschienen war, im Juni 1846, veröffentlichte die Pariser Zeitung La Quotidienne eine sehr freie Übersetzung von „The Murders in the Rue Morgue“. Es war die erste Übertragung eines Poe-Textes in eine andere Sprache. Der Übersetzer hatte einiges weggelassen und dafür neue, blutige Details hinzuerfunden. Es wurde nicht erwähnt, dass es sich bei dem Amerikaner, in dessen Papieren die Geschichte über das beispiellose Verbrechen angeblich gefunden wurde, um Edgar A. Poe handelte. Französische Schriftsteller gaben damals eigene Texte gern als Übersetzungen aus einer fremden Sprache aus. Das war eine literarische Konvention. Es war also nicht gesagt, dass der namenlose Amerikaner tatsächlich existierte.

Frankreich entdeckt Edgar Poe

Am 12. Oktober erschien in der Pariser Zeitung Le Commerce eine weitere, diesmal nur gekürzte Übersetzung der „Morde in der Rue Morgue“. Poe wurde als Autor wieder nicht genannt. Der Übersetzer zeichnete mit „O.N.“. Das Kürzel stand für „Old Nick“, das Pseudonym des Journalisten und Kritikers Emile Daurand Forgues. Früher einmal hatte Forgue dem Konkurrenzblatt La Presse einen Plagiatsvorwurf gemacht. Jetzt holte La Presse zum Gegenschlag aus. Am 14. Oktober erschien dort ein Artikel, in dem Forgues bezichtigt wurde, er habe von der im Juni von La Quotidienne veröffentlichten Geschichte abgeschrieben. Als Beweis wurden Passagen aus beiden Texten abgedruckt. Am 15. Oktober brachten die Zeitungen Le Commerce und Le National Forgues’ Antwort. Er stellte klar, dass sein Text eine Übersetzung sei und ebenso auf einer Geschichte von "E. Poe, amerikanischer Literat" beruhe wie die Geschichte, von der er abgeschrieben haben sollte. Am selben Tag erschien in der Revue des deux mondes Forgues’ sehr umfangreiche und sehr positive Kritik von Poes Tales (ein englischer Raubdruck). Dieser Artikel, den sonst kaum jemand gelesen hätte, fand nun große Beachtung, denn die Zeitungsfehde zwischen Le Commerce und La Presse sorgte für ein gewaltiges Rauschen im Pariser Blätterwald.

Forgues verklagte schließlich de Girardin, den Chefredakteur von La Presse, wegen Rufmords. Die Affäre fand ein enormes Medienecho. Immer mehr Zeitungen und Zeitschriften teilten ihren Lesern mit, dass Edgar Poe nicht etwa von Forgues erfunden worden sei, sondern dass es ihn wirklich gab. Im Dezember wurde Forgues’ Klage abgewiesen. Doch er und de Girardin hatten ihren Streit so öffentlichkeitswirksam ausgetragen, dass der Name Poe für kulturell interessierte Franzosen fortan ein Begriff war. „Haben Sie Edgar Poe gelesen?“ fragte Forgues im Verlauf des Prozesses. „Lesen Sie Edgar Poe!“ Und de Girardins Anwalt erwiderte: „Das alles scheint mir für E. Poe ganz allerliebst zu sein. Dank der Bemühungen von Monsieur Forgues wird die ganze Welt wissen, dass Monsieur E. Poe in Amerika Geschichten schreibt.“

Da die Welt aber ungerecht ist, hat sie Monsieur Forgues’ Bemühungen längst vergessen. Als der Mann, der Poes Nachruhm gesichert hat, gilt heute Charles Baudelaire. Er wurde durch den Presserummel um den Plagiatsprozess auf den amerikanischen Autor aufmerksam und begann, ihn zu übersetzen. Baudelaire war begeistert von Poe und beschloss, ihn in Frankreich so bekannt zu machen wie nur irgend möglich. Dieser Aufgabe widmete er einen großen Teil seiner Schaffenskraft. 1857 veröffentlichte Baudelaire seine Übersetzung von Pym, der völlig in der Versenkung verschwunden war. In Frankreich wird diese Übertragung immer wieder neu aufgelegt, und sie sorgte dafür, dass bald auch in anderen europäischen Sprachen Pym-Übersetzungen erschienen.

Charles Baudelaire

Richtig gewürdigt fühlte Baudelaire sich für seine Bemühungen um Poe nicht. 1854 beklagte er sich bei einem Bekannten:

„Seit langem schon, seit 1847, lasse ich es mir angelegen sein, den Ruf eines Mannes zu befördern, der Dichter, Gelehrter und Metaphysiker in einem ist: dies alles, ohne dass er aufhörte, Erzähler zu sein. Niemand anders als ich hat Edgar Poe in Paris zur Berühmtheit verholfen; das Belustigende ist, dass meine biographischen und kritischen Artikel sowie meine Übersetzungen andere bewogen haben, sich ebenfalls mit ihm zu beschäftigen; niemand jedoch hat meinen Namen auch nur zu erwähnen geruht. Die Welt ist mit Dummheit gepflastert.“

Poes Pym: Vom Plagiat zum Schlüsselwerk

Wenigstens war die Welt klug genug, sich nun auch mit Poe zu beschäftigen. Wenn die Franzosen von diesem Autor so begeistert waren, dachte man sich in anderen Ländern, dann musste etwas dran sein an seinen Texten. In den 1950ern setzte sich diese Erkenntnis auch in den USA durch, wo man Poe in Literaturgeschichten bis dahin als Kuriosität gehandelt und Pym höchstens beiläufig erwähnt hatte. Inzwischen gilt Die Geschichte des Arthur Gordon Pym als ein Schlüsselwerk in Poes Oeuvre. Und es ist längst üblich, regelmäßig auf die Verdienste hinzuweisen, die sich Charles Baudelaire um seinen Lieblingsautor erworben hat. Baudelaire kann es deshalb verschmerzen, wenn hier noch erwähnt wird, dass er seinen ersten großen Artikel über Poe abgeschrieben hat. „Edgar Allan Poe, sa vie et ses ouvrages“ (1852) besteht im Wesentlichen aus den Übersetzungen von zwei Artikeln, die im November 1849 bzw. im März 1850 im Southern Literary Messenger erschienen waren. Baudelaire veröffentlichte sie unter seinem eigenen Namen, weil er nicht zugeben wollte, dass er zu diesem Zeitpunkt erst einen verhältnismäßig kleinen Teil von Poes Werken gelesen hatte.

Abschreiben tut eben (fast) ein jeder. Auch Poe. Ihm ist allerdings das Kunststück gelungen, aus einem Roman, der zu einem Drittel aus direkten Übernahmen oder Paraphrasen der Texte anderer Autoren besteht, ein ganz und gar originelles und sehr persönliches Buch zu machen. Das kann man nur bewundern. Dieser Meinung waren auch Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Jules Verne, H.G. Wells, Joseph Conrad, H.P. Lovecraft, Vladimir Nabokov und Thomas Pynchon. Sie alle haben von der Geschichte des Arthur Gordon Pym abgeschrieben oder, sagen wir es freundlicher, sich von ihr inspirieren lassen. Das ist ein schönes Kompliment.

Eine vollständige Neuübersetzung der Geschichte des Arthur Gordon Pym von Hans Schmid erscheint in diesem Herbst beim Mare Verlag. Mit Anmerkungen, Angaben zu Poes Quellen und einem Dossier.

Charles Baudelaire