Das Plagiat, als eine schöne Kunst betrachtet

Seite 4: Plagiat im Heiligen Land

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Plagiate wurden bei den Harpers nach Kräften gefördert. Von James Harper ist eine Ermunterung an J. L. Stephens erhalten. Stephens, ein junger Rechtsanwalt, hatte sich fast zwei Jahre lang in Ägypten und im Heiligen Land aufgehalten. Darüber wollte er gern ein Buch schreiben (Incidents of Travel in Egypt, Arabia Petraea and the Holy Land). Er hatte aber nur wenige Aufzeichnungen gemacht, und sein Gedächtnis war schlecht, oder er war einfach kein guter Beobachter. Harper schlug ihm jedenfalls vor, sich bei den schon existierenden Titeln des Verlags zu bedienen: „Sie können sich so viele aussuchen, wie Sie nur wollen, Sie können irgendetwas auftischen.“ Stephens tat das nach Kräften. Auch er landete einen Bestseller.

Als besonders ergiebig hatte sich für Stephens ein 1832 bei den Harpers als Raubdruck erschienenes Werk des britischen Geistlichen Alexander Keith erwiesen, Evidence of the Truth of the Christian Religion. Poe muss gewusst haben, dass Stephens von Keith abgeschrieben hatte, weil er eine Rezension der Incidents verfasste und zur Vorbereitung das Buch von Keith las. Das bei Keith und Stephens gefundene Material gefiel ihm so gut, dass er für Pym ein neues Kapitel schrieb, in dem es um mysteriöse Felsinschriften, biblische Prophezeiungen und den Untergang einer Kultur geht. Poes Anleihen bei den Harper-Autoren Morrell (bzw. Woodworth), Stephens und Keith (wider Willen, weil einfach nachgedruckt) sind umfangreich und kaum kaschiert. Offenbar war er sehr sicher, nicht mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Anders gesagt: Er wusste, dass er abschreiben konnte, weil das im Hause Harper gängige Praxis war.

Gemetzel mit Kannibalen: Service für die Kritiker

Als The Narrative of Arthur Gordon Pym im Juli 1838 veröffentlicht wurde, hatte der Roman einen sehr langen Untertitel, der in Form eines auf den Leser zukommenden Segelschiffs gesetzt war. Solche langen Untertitel erfüllten die Funktion des heutigen Klappentexts bzw. des Pressehefts. In ihnen wurde aufgelistet, was zum Kauf des Buches anreizen sollte. Sie waren auch ein Service für Zeitschriften, die sich nicht mit einer eigenen Rezension abplagen wollten. Fast alle zeitgenössischen Besprechungen reproduzieren, direkt oder als Paraphrase, diesen Untertitel (es soll auch heute noch Kritiker geben, die den Pressetext abschreiben – aber das ist sicher nur ein böses Gerücht). So erfuhr der potentielle Leser, dass es in Pym eine Meuterei gab, ein fürchterliches Gemetzel, einen Schiffbruch, ein Massaker mit Südseeinsulanern, Entdeckungen in bisher unerforschten Gebieten, weitere unglaubliche Abenteuer usw. usf. Mehr konnte man von einem Sensationsroman eigentlich nicht erwarten. Der kommerzielle Erfolg blieb trotzdem aus. Am besten scheint sich das Buch noch in Großbritannien verkauft zu haben. Poe hatte davon wenig. Die Harpers schickten 100 Exemplare nach Europa. Eines davon besorgte sich ein englischer Verlag, der es sofort nachdruckte, ohne ein Honorar zu bezahlen (kein internationales Copyright) und sich bitter beklagte, als ein Konkurrent eine eigene Ausgabe vorlegte, die auf diesem Raubdruck basierte. So war das eben in der Verlagswelt.

Vielleicht gelang Poe nicht der erhoffte Bestseller, weil sich Pym so schwer einordnen lässt. Handelt es sich um ein Jugendbuch, einen Abenteuerroman für Erwachsene, einen Bildungs- oder Initiationsroman, und ist es überhaupt ein Roman, oder doch eher eine Aneinanderreihung von Episoden? Ist Pym eine Satire, eine Parodie, eine Allegorie, eine Traumgeschichte, ein apokalyptischer, mystischer oder esoterischer Text, womöglich sogar Science Fiction (Pym entdeckt in der Nähe des Südpols rätselhafte Spuren, die genauso vom verlorenen Stamm Israels wie von einer außerirdischen Zivilisation stammen könnten) oder doch ein auf Faktizität setzender Expeditionsbericht? Ein dreistes Plagiat, ein Experiment, die Vorwegnahme der Postmoderne? Die Antwort muss wohl lauten: Der Roman ist von allem etwas, und doch auch wieder nicht. Seit das Buch als ein ernst zu nehmendes Werk entdeckt wurde, hat es ständig neue Interpretationsansätze gegeben. Wenn es stimmt, dass der Rang eines Kunstwerks daran zu erkennen ist, dass der Prozess seines Verstehens nie ein Ende findet, kann Pym zweifellos für sich beanspruchen, ein solches Kunstwerk zu sein.