Das Schweigen über die Ziele der Gelbwesten und die Staatsgewalt gegen sie

Seite 2: Gewalt wie in den Banlieues

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In Berlin konnte man sich Informationen über die aktuelle Entwicklung rund um die Gelbwesten auf einer von der "AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost West/ Stiftung Haus der Demokratie" organisierten Veranstaltung unter dem Titel "Der Protest der Gelbwesten dauert an!" informieren.

Der in Marseille lebende gewerkschaftliche Aktivist Willy Hajek setzte den Fokus seines Vortrags auf die Staatsgewalt. Sie habe sich in den letzten Wochen verschärft. Die Polizei würde mittlerweile offensiv Versammlungen der Gelbwesten mit Gewalt auflösen. Dazu werden Polizeieinheiten eingesetzt, die seit Jahren in den Banlieus, den französischen Vorstädten, für Ruhe und Ordnung im Sinne des Staates sorgen. Dabei kommt es immer wieder zu Staatsgewalt gegen Jugendliche, die meistens in Frankreich geboren waren, aber oft auf ihre arabischen oder afrikanischen Vorfahren reduziert werden.

Seit Jahren engagieren sich zivilgesellschaftliche Organisationen gegen diese Staatsgewalt in den französischen Vorstädten. Viele dieser Aktivisten beteiligen sich nun auch regelmäßig an den Protesten der Gelbwesten. So hat die Staatsrepression dazu beigetragen, dass sich Proteste verbreitern. Wenn die Polizeieinheiten gegen die aus Sicht des Staates gefährlichen Klassen auf die protestierende Opposition losgelassen wird, kommt es zu Kooperationen, die vielleicht zu Beginn der Gelbwesten noch undenkbar waren. Damals haben sich auch viele Rechte positiv auf die Gelbwesten-Bewegung bezogen. Daher waren viele organisierte Linke und auch Gewerkschafter mit Recht sehr kritisch und fragten sich, wie sie mit der neuen Bewegung umgehen sollten (Gelbe Westen: Protestform des 21. Jahrhunderts).

Doch die Beteiligung von Aktivisten aus den Banlieues, die für die Rechte Sinnbild des Niedergangs Frankreich sind, sorgen mehr als mahnende Worte für politische Klärungsprozesse innerhalb der Bewegung. Dabei soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass es regressive und reaktionäre Stimmungen in der heterogenen Bewegung der Gelbwesten weiterhin gibt. Der antisemitische Angriff auf den rechtskonservativen Publizisten Alain Finkielkraut ist ein Beispiel dafür.

Wenn dann aber Zeitungen wie der Spiegel fragen, ob der Angriff das Ende der Bewegung bedeutet, statt eine Auseinandersetzung mit regressiven Antizionismus und Antisemitismus zu fordern, zeigt sich dort der Wunsch, eine Bewegung solle endlich verschwinden, die den von den Liberalen so hochgelobten Macronismus herausfordert. Die Liberalen wünschen sich dagegen solche Bewegungen in Russland, wo Nationalismus und Rassismus von Oppositionellen wie Alexej Nawalny nicht stören.

So heißt es in einem Artikel in der konservativen Tageszeitung Die Welt:

Nawalny, der bei den letzten Bürgermeisterwahlen fast 30 Prozent holte, scheut nicht davor zurück, mit harten Worten gegen Migration zu wettern. Zum ersten Mal hat Russland eine wählbare, unabhängige Alternative, die rechts von Putin steht. Seine streitbare Vergangenheit scheint seine Wähler nicht zu stören.

Filipp Piatov, Die Welt

Bezüge zur Pariser Kommune

Nawalny gilt als prowestlich, während bei den Gelbwesten schon mal der Ex-Rebell und heutige Macron-Anhänger Daniel Cohn-Bendit fragt, ob die überhaupt Europäer sind. Dabei ist es nicht der unzweifelhaft auch in den Reihen der Gelbwesten vorhandene Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, sondern es gibt manche Forderungen, die eher an die Pariser Commune als an eine vom Markt bestimmte Demokratie erinnern. Dazu gehören Forderungen nach Beschränkung der Politikergehälter, wobei die Pariser Commune forderte, sie dürften keinen Sou mehr bekommen als ein Facharbeiter, oder die Abwählbarkeit von politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen.

Solche Forderungen wurden auf einer Versammlung von Delegierten der Gelbwesten in Saint Nazaire gestellt. Dort haben sich am 7. April ca. 800 Menschen aus 200 Delegationen der Gelbwesten getroffen. In der Abschlusserklärung heißt es:

Die Versammlung der Versammlungen bekräftigt ihre Unabhängigkeit gegenüber politischen Parteien und Gewerkschaften und erkennt keine selbsternannten Führer an. Wir glauben, dass es notwendig sein wird, den Kapitalismus zu beenden.

Gemeinsame Erklärung der Gilets Jaunes - Versammlung der Versammlungen der Gelbwesten vom 7. April in Saint-Nazaire

Hier wird schon deutlich, warum noch so reaktionäre Bewegungen in Russland oder der Ukraine gefeiert werden, weil sie eben den Kapitalismus nicht infrage stellen, die Gelbwesten allerdings sehr wohl.

Trotz der repressiven Eskalation der Regierung, der Anhäufung von Gesetzen, die die Regeln für alle verschärften, die Lebensbedingungen, die Rechte und Freiheiten zerstören, hat die Mobilisierung der Bewegung Wurzeln geschlagen.

Verändern wir das von Macron verkörperte System. Als einzige Antwort auf die Gilets-Jaunes-Bewegung und andere kämpfende Bewegungen reagierte die Regierung in Panik mit autoritärer Verschärfung. Über fünf Monate hinweg fordern wir Solidarität und Würde, überall in Frankreich, in Kreisverkehren, auf Parkplätzen, auf Plätzen, auf Autobahnen, bei Demonstrationen und in unseren Versammlungen, und bekämpfen alle Formen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit.

Wir fordern die allgemeine Anhebung der Löhne, Renten und sozialen Mindestbeträge sowie öffentliche Dienstleistungen für alle. Unsere Solidarität im Kampf gilt insbesondere den neun Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Wir sind uns der Umweltkrise bewusst und versichern, dass das Ende der Welt und das Ende des Monats von derselben Logik herrühren und denselben Kampf erfordern.

Gemeinsame Erklärung der Gilets Jaunes - Versammlung der Versammlungen der Gelbwesten vom 7. April in Saint-Nazaire

Das Treffen und die Ergebnisse wurden in kaum einer Zeitung in Deutschland auch nur erwähnt. Dann müsste man über Inhalte einer Bewegung reden, der man immer vorwirft, keine Inhalte zu haben und sie auf Gewalt reduziert.

Von Frankreich nach Algerien

Auf der Veranstaltung in Berlin sprach Lila Boutiba über den Umbruch in ihrem Heimatland Algerien, das sie schon lange verlassen hat. Dort hat eine Massenbewegung gerade einen senilen Präsidenten gestürzt. Doch noch bleibt offen, ob es nur um einen Elitentausch geht, worauf zurzeit führende Kreise der algerischen Bourgeoisie hinarbeiten, oder ob es dort politische Kräfte gibt, die sich an die Geschichte der algerischen Linken erinnert.

Das Land war vor allem in den 1960er Jahren auch weltweit ein Land, in dem Linke, die nichts mit dem Nominalsozialismus in der Sowjetunion oder China zu tun haben wollten, Zuflucht fanden. Erinnert sei nur an die Black Panther, aber auch andere linke Bewegungen, vor allem aus dem globalen Süden. Wie im Mexiko jener Zeit, das auch viele in ihren Ländern verfolgte Linksoppositionelle aus Süd- und Mittelamerikas aufnahm, gab es auch in Algerien einen eklatanten Widerspruch zwischen der autoritären Innenpolitik und den großzügigen Aufnahmemöglichkeiten für Oppositionelle aus aller Welt.

Das hatte aber im Fall Algeriens auch den Grund, dass der Kampf gegen die Kolonialmacht Frankreichs auch von Linken getragen wurde, die von der dann herrschenden Einheitspartei FNL schnell an den Rand gedrängt wurden. Im zeitweiligen linken Kultfilm "Die Schlacht um Algier" deutet sich diese autoritäre Tendenz schon an.

Bekannte Linke wie Franz Fanon, der zu früh starb, um von der Staatspartei verfolgt zu werden, könnten auch für die aktuelle Protestbewegung Inspiration bieten. Dann würde der Ruf "Alle müssen verschwinden" nicht dazu führen, dass nur eine neue prokapitalistische Elite die Macht übernimmt. Die Veranstaltung zeigte auch, wie eng linke Kräfte in Frankreich und Algerien bereits im Kampf gegen den Kolonialismus verbunden waren und noch sind. So könnte eine erfolgreiche Bewegung in Algerien auch die Opposition in Frankreich ermutigen und umgekehrt.

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