Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Solidarität

Seite 2: Abschreckendes Beispiel: "Geschäft vor Gesundheit" in Brasilien

Im Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Einzelnen mitsamt ihrer oder seiner Selbstverantwortung und der Solidarität mitsamt staatlicher Definition ist es eben auch nicht ganz unproblematisch, alle Karten auf erstere zu setzen. Tatsächlich ist, wie Gabriel behauptet, der Staat beziehungsweise die Regierung in der offenen Gesellschaft allein zu schwach, um die Lösung von oben herab zu definieren und vorzugeben. Aber auch von unten herauf ergibt sich eine solche eben nicht ganz von allein.

Besonders gut erkennt man dies in Brasilien, wo die Regierung sich bis heute weigert, in die Freiheitsrechte der Bürger einzugreifen - "um die Freiheit des Volkes zu verteidigen", denn "wertvoller als das Leben sei die Freiheit, so Präsident Bolsonaro - und stattdessen für das Prinzip "Geschäft vor Gesundheit" plädiert. Die Ergebnisse sollten auch den größten Freiheitsapologeten zu denken geben: Das ganze Land ist zum Covid-19-Katastrophengebiet und nach Einschätzung von Gesundheitsexperten zu einem "Freiluftlabor für das Coronavirus" und damit zu einem Risiko für die Weltgemeinschaft geworden.

Wissenschaft beharrt nicht auf der "letzten Wahrheit"

Wir stoßen immer wieder auf das zentrale Problem: Wie ist in dieser Krise der Komplexität der sozialen Wirklichkeit in offenen Gesellschaften gerecht zu werden? Hier lohnt sich ein genauerer Blick auf Karl Poppers Philosophie der offenen Gesellschaft. Sie besitzt nämlich ein Fundament, das uns Gabriel vorenthält. "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" von 1945 ist keineswegs das "Opus magnum" Poppers, wie Gabriel behauptet.

Vielmehr beruhen Poppers Gedanken darin auf seiner wissenschaftlichem Erkenntnistheorie, die Popper bereits 1934 in seinem Werk "Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft" formuliert hat. Die Notwendigkeit, politische Entscheidungen korrigieren und Regierungen gewaltfrei abzuwählen zu können, findet ihre Entsprechung in der Möglichkeit, wissenschaftliche Aussagen falsifizieren und immer wieder korrigieren zu können.

Dies ist nach Popper der Vorzug des wissenschaftlichen Denkens: Nicht auf einer letzten Wahrheit zu beharren, sondern die Dynamik eines ständigen Hinterfragens auch der eigenen intellektuellen Solidität und die kritische Reflexion unseres Denkens, Wissens und Meinens stehen im Zentrum der wissenschaftlichen Methode. Für feste und auf ewig unverrückbare Wahrheiten ist da wenig Platz.Dies ist für Nicht-Wissenschaftler nicht immer leicht zu verstehen.

Was in der Wissenschaft Normalität ist, nämlich, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis innerhalb der Community immer auch angezweifelt und kontrovers diskutiert wird, sorgt bei Laien für Verunsicherung - und erlaubt es leider auch Politikern, die Hände in den Schoß zu legen, wenn es um wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse wie beispielsweise die Eigenschaften des Coronavirus oder auch den Klimawandel geht, ganz frei nach dem Motto: "Schaut, die Wissenschaftler sind sich ja selbst nicht einig! Woher sollen wir dann wissen, was zu tun ist?"

Doch erst diese methodische Grundlage des Zweifels und des ständigen Hinterfragens wird den komplexen Strukturen unserer Welt und der menschlichen Erkenntnis dieser gerecht. Diesen so klaren wie brillanten Gedanken übertrug Popper nun auf die Gesellschaft. Wir kommen nicht mit einem Schlag zur optimalen Herrschafts- und Entscheidungsstruktur, sondern tasten uns auch hier immer wieder über die Korrektur falscher Entscheidungen vorwärts.

Auch der Ruf nach Selbstverantwortung kann dogmatisch sein

Darauf bezieht sich korrekterweise auch Gabriel. Allerdings findet es sich in seiner Beschreibung, wie die westlichen Regierungen vorangegangen sind, um der Herausforderung durch die Pandemie gerecht zu werden, nicht wieder. Haben die Regierungen selbst ihre einmal getroffenen Entscheidungen nicht immer wieder angepasst, sich mit Taskforces getroffen, die verschiedensten Ebenen der Entscheidungsträger befragt und einbezogen und die Temporalität ihrer Entscheidungen betont, jederzeit bereit, auch Anpassungen vorzunehmen?

Erscheint hier nicht die von Gabriel und vielen rechtsbürgerlichen politischen Advokaten geforderte Alternative, allein auf die Freiheit der Bürger und ihre Selbstverantwortung zu setzen, selbst als dogmatische Vereinfachung, die der aktuellen Herausforderung nicht gerecht werden kann? Ein Blick auf die in Brasilien beobachtbaren Auswirkungen scheint eine klare Antwort auf die letzte Frage zu geben.

Tatsächlich erscheint die politische Entscheidungsfindung in der offenen Gesellschaft mit ihren vielschichtigen Inputs und zum Teil sogar als Schwäche ausgelegten Korrekturen während der Corona-Krise - inklusive öffentlicher Entschuldigungen, wie kürzlich von Bundeskanzlerin Angela Merkel - als die wohl beste Entsprechung des Popperschen Ideals der offenen Gesellschaft und ihrer Stärke angesichts komplexer sozialer Strukturen.

Die Forderung, dies alles in die Hände selbstverantwortlicher, freier Bürger zu legen, erscheint dagegen eher als Ergebnis einer dogmatischen Illusion. Nachdem sich Gabriel also auf den anti-dogmatischen Charakter der Popperschen Lehre bezieht, verfällt er selbst dem dogmatischen Glauben, dass die Freiheit des Einzelnen und seine Selbstverantwortung die optimale Antwort auf die hyperkomplexen Probleme der Covid-19-Krise bieten.

Es ist zu erwarten, dass uns der Staat und die Regierung so schnell wie möglich wieder in die Freiheit der so sehnlichst herbeigesehnten Selbstgestaltung unseres Lebens zurückkehren lassen wird.

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