Das Sparregime von Merkels lettischen Musterschülern

Der Staatshaushalt ist saniert, die Bewohner verlassen das Land

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Am Abend des 4. Oktobers 2014 konnten Lettlands Mitte-Rechts-Politiker wieder in die Kamera lächeln. Sie hatten erwartungsgemäß die Wahl gewonnen. Die Koalition der Regierungschefin Laimdota Straujuma kann weiterregieren. Dieses Dreierbündnis besteht neben der wirtschaftsliberalen, EU-freundlichen Vienotība (Einigkeit) aus dem nationalkonservativen Bündnis Zaļo un Zemnieku Savienība (Union der Grünen und Bauern) und der teils gemäßigten, teils radikalen Nacionāla Apvienība (Nationale Allianz). Hinzu flatterten zwei neue Mitte-Rechts-Küken über die Fünf-Prozent-Hürde auf die Parlamentssitze: No Sirds Latvijai (Vom Herzen für Lettland) und Latvijas Reģionu apvienība (Lettlands Allianz der Regionen).

Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma. Bild: Valsts kanceleja/CC BY-NC-ND 4.0

Die stärkste Fraktion der Saeima, die sozialdemokratische Saskaņa (Eintracht), bleibt weiterhin in der Opposition isoliert. Sie gilt als Vertreterin der russischsprachigen Minderheiten, die mehr als ein Drittel der Bevölkerung umfassen. Die Zahl Russischstämmiger, die keinen lettischen Pass haben, also nicht wahlberechtigt sind, verringert sich stetig, beträgt aber immer noch mehr als 13 Prozent an der Gesamtbevölkerung.

Was ähnlich wie in westlichen Ländern nur am Rande notiert wird: Auch in Lettland vergrößert sich der Anteil der Nichtwähler beständig. Knapp ein Vierteljahrhundert nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit liegt die Wahlbeteiligung nur noch bei 58,8 Prozent. Der Politologe Juris Rozenvalds stellt politische Stagnation fest. Die Elite weiß, ethnische Streitfragen wie den aktuellen Ukraine-Konflikt für sich zu nutzen. Unter lettischer Nationalflagge steuern die Regierungen seit Jahrzehnten einen neoliberalen Kurs. Dessen Folgen machen die Wahlmüdigkeit verständlich: Die soziale Ungleichheit der ehemals sozialistischen Baltenrepublik erreicht längst EU-Rekordwerte, z.B. beim "Gini-Koeffizienten", der die Ungleichheit der Einkommen bemisst.

Intellektuelle auf antirussischem Konfrontationskurs

Die populäre Schriftstellerin Māra Zālīte, die den lettischen Nationalmythos "Lāčplēsis" (Bärentöter) zum Musical umdichtete, warf im Wahlkampf Nichtwählern unmoralisches Verhalten vor. Russlands geopolitisches Ziel sei es, die Sowjetunion wiederherzustellen. Nach der Ukraine kämen die baltischen Länder an die Reihe. Die russischstämmige Wählerschaft sei geeint und unterstütze die "prokremliska" Saskaņa, das lettische Stimmvolk sei hingegen in mehrere konkurrierende Parteien gespalten.

Zālīte sorgt sich nicht um die Demokratie. Sie fürchtet vielmehr, dass die Partei der russischstämmigen Minderheit an die Macht gelangen könnte. Ihr Aufruf appelliert indirekt an die Wähler, für lettische Mitte-Rechts-Parteien zu stimmen, denn in der Saeima sitzt keine lettisch orientierte Linke.

Viele Intellektuelle reihen sich in die ethnische Frontbildung ein. Sie kreisen wie die Falken über die west-östlichen Spannungsgebiete. Jüngst schrieben Künstler, Historiker und Schriftsteller, unter ihnen Zālīte, der deutschen Bundeskanzlerin einen offenen Brief: Angela Merkel solle sich für eine ständige lettische Nato-Basis einsetzen - ungeachtet der Nato-Russland-Grundakte, die dauernde westliche Truppenpräsenz in Osteuropa untersagt. Wieder wurde Moral ins Feld geführt. Deutschlands Beschwichtigungskurs gegenüber Russland sei wirtschaftlich motiviert. Sie warnten Merkel vor einem neuen deutsch-russischen Pakt.

Das historische Trauma

Die rigorose Frontstellung gegen Russland ist mit traumatischen historischen Erfahrungen verbunden. Der Hitler-Stalin-Pakt bedeutete Not und Elend für alle baltischen Bevölkerungsgruppen, Letten, Litauer, Esten, ansässige Russen und Juden. Sowjets, die von Letten pauschal mit Russen gleichgesetzt werden, überfielen das Land 1940. Fortan begannen Verfolgungen und Massendeportationen. Ein Jahr später überschritten deutsche Wehrmachtsoldaten die Grenze und Nazi-Einsatzkommandos vernichteten die Juden.

Schließlich kehrte die Rote Armee und damit Stalins Terrorherrschaft zurück. Das hat Spuren hinterlassen, beinahe in allen lettischen Familien wurden Angehörige deportiert, vermisst, kamen in den Gulags ums Leben oder flohen gen Westen. Doch dieses Trauma ist kein guter Ratgeber für die derzeitige weltpolitische Lage. Letten identifizieren sich einseitig mit westlich orientierten Ukrainern. Die Nachrichten aus der Krim und dem Donezk-Gebiet erinnern an das Los des eigenen Landes, als Stalins Armee einmarschierte. Für eine friedensorientierte internationale Entspannungspolitik wäre eine differenziertere Betrachtung nötig.

Transatlantiker plädieren für Aufrüstung

Stattdessen klammert sich lettischer Mainstream an den neuen großen Bruder jenseits des Atlantiks, übersieht dabei, dass die USA eigene geostrategische Interessen verfolgen. Die Stimmung im Lande ist transatlantisch. Der ehemalige Regierungschef Valdis Dombrovskis promovierte in den USA. Dort eignete sich auch der Chef der Lettischen Nationalbank, Ilmars Rimšēvičs, seinen monetaristischen Sachverstand an - ganz im Stile des neoliberalen Vordenkers Milton Friedman beschimpft er Keynesianer als Leute, die Geld aus dem Hubschrauber würfen.

Jüngst beschloss die Saeima, den Wehretat wieder auf zwei Prozent des BIP anzuheben, so wie es von der Nato gefordert wird. Das erscheint wie eine pädagogische Maßnahme, das kleine Lettland soll seinen Beitrag leisten, auch wenn es militärisch belanglos ist. Selbst der bisherige Finanzminister Andris Vilks, der seit 2010 die Austeritätspolitik des IWF eisern durchsetzte, plädiert für Aufrüstung, den Kalten Krieg herbeiredend. Transatlantiker Toms Baumanis prophezeite den Letten weitere magere Jahre. Zugunsten des Militärs müsse der lettische Fiskus die Ausgaben für Soziales, Gesundheit und Bildung zusammenstreichen.

Das Finanzprodukt namens Krise

Gerade diese Ressorts wurden seit der Finanzkrise 2008/09 kräftig geschröpft. Ähnlich wie in den USA hatten die Banken eine Immobilienblase produziert. Die Gehaltszuwächse überschritten das Produktivitätsniveau. Die Inflation erreichte EU-Rekordwerte. Die Währung Lats war aber längst am Euro gebunden. Das lähmte die lettische Wirtschaft, ihre Ware wurde zu teuer.

Kurz nach der Lehman-Pleite meldete auch Lettlands zweitgrößte Bank Insolvenz an. Die lettische Regierung unter Ivars Godmanis hielt die Parex-Bank für systemrelevant und der sonst so knauserige lettische Fiskus sprang mit Milliarden ein. Das Vertrauen in lettische Staatsanleihen schwand. Der Internationale Währungsfonds, die EU, Schweden und Dänemark halfen mit einem 7,5-Milliarden-Kredit aus, forderten dafür aber ein strenges Sparregime ein.

Schwedische und dänische Banken standen ebenfalls auf der Kippe, sie hatten im baltischen Raum hemmungslos Kredite unter das ahnungslose Volk gestreut. Eine Abwertung des Lats hätte die Skandinavier ruiniert, weil ihre Kunden die Euro-Kredite mit Lats-Einkünften zurückzahlten, ohne Schuldenschnitt hätte ein veränderter Wechselkurs die meisten überfordert. Ein schwächerer Lats wäre aber im Sinne der Bevölkerung gewesen. Zwar hätte er Importe verteuert, aber Lohnkürzungen vermieden. Das hätte einen Teil der verlorenen Kaufkraft gerettet und die eigene Wirtschaft stimuliert. Doch die schwedische Regierung wollte ihre Swedbank retten und übte Druck aus. Lettland sollte eine Abwertung verhindern und sich auf die Euro-Einführung vorbereiten.

Schocktherapeut Valdis Dombrovskis

In dieser wenig beneidenswerten Situation übernahm Valdis Dombrovskis die Regierung. Er wendete in Absprache mit den IWF-Managern die sogenannte "Schocktherapie" an: Staatsausgaben wurden drastisch gekürzt, die Einkommens-Flattax und die Mehrwertsteuer erhöht. Viele staatliche Angestellte verloren ihre Arbeit, dem Rest wurden die Gehälter um 30 bis 50 Prozent gestrichen.

Eine der ersten Ideen Dombrovskis, der nun EU- Kommissar für den sozialen Dialog ist, war es, die ohnehin kärglichen Renten zu kürzen. Das verbot ihm das lettische Verfassungsgericht. Im Jahr 2009 schmolz das lettische BIP um 16,3 Prozent, das war die tiefste Rezession im EU-Raum. Viele halten der Regierung Dombrovskis zugute, das Land vor dem Staatsbankrott bewahrt zu haben. Doch die Letten zahlten für die Budgetsanierung einen hohen Preis. Die Arbeitslosenquote schnellte kurzfristig auf über 20 Prozent hoch. Noch mehr Letten verließen das Land, um in Westeuropa eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Dennoch propagierte die Regierung ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik als Erfolgsgeschichte.

Aus monetaristischer Sicht ist es tatsächlich eine: Der lettische Staat ist trotz Parex-Pleite weniger verschuldet als westliche EU-Länder. Und trotz aller Unkenrufe ist die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs. Doch Vienotības Propaganda stellt nur die halbe Wahrheit dar.

Valdis Dombrovskis 2012. Bild: Ernests Dinka, Saeimas Kanceleja/CC-BY-SA-2.0

Merkels Musterschülers vorauseilender Gehorsam

Unter vorauseilendem Gehorsam erfüllte die lettische Regierung Angela Merkels Austeritätspolitik. Dombrovskis' Kabinett orientierte sich an den Maastricht-Kriterien, um den Euro einzuführen. Die Regierungsmehrheit votierte frühzeitig für die Schuldenbremse. Finanzminister Vilks forderte von den monetaristisch unberechenbaren Griechen, aus der Euro-Zone auszutreten.

Dass es an dieser nur scheinbar alternativlosen Wirtschaftspolitik etwas auszusetzen gibt, erfährt der Leser parlamentarischer Protokolle. Die oppositionellen Saskaņa-Abgeordneten übten an Schuldenbremse und frühzeitiger Euro-Einführung linkskeynesianische Kritik. Der Sparzwang fessele staatliche Investitionsmöglichkeiten, die notwendig seien, um Produktivitätsrückstände gegenüber dem Westen aufzuholen. Außerdem sei das wirtschaftliche Fliegengewicht Lettland nicht reif, um gemeinsam mit Schwergewichten wie Deutschland in den Ring einer gemeinsamen Währung zu steigen. Die Letten würden an die Wand gespielt.

Tatsächlich müssten in der Logik der Währungsunion die Löhne der Deutschen stark steigen, damit auch Arbeitnehmer in einer weniger produktiven Wirtschaft nur ein bisschen hinzuverdienen können. Steigen die Löhne an der Rigaer Bucht in ähnlichem Maß oder gar stärker als im Heimatland der schwäbischen Hausfrau, dann verliert Lettland erneut Wettbewerbsfähigkeit. Produktivitätsrückstände sind natürlich nicht die Folgen lettischer Faulheit, sondern des technologischen Rückstandes. Der müsste mit hohem Kapitaleinsatz behoben werden. Das wäre eine Aufgabe für EU-Politiker, wenn sie denn die Angleichung der Lebensverhältnisse tatsächlich ernstnähmen. Bislang versucht die lettische Regierung, mit Steuerdumping das notwendige Kapital zu locken. So entsteht ein Steuersenkungswettbewerb zwischen EU-Ländern, der die fiskalen Einnahmen gefährdet.

Haushalt saniert - die Menschen nehmen Reißaus

Doch die Letten beachteten die Saskaņa-Kritik nicht. Das Ende des Lats wurde als Verlust eines nationalen Symbols betrauert. Die lettische Mehrheit betrachtet die oppositionellen Sozialdemokraten als langen Arm Moskaus, deren Argumente sie ignorieren. Die Saskaņa kooperiert mit Putins Partei "Vereintes Russland".

Die Regierungsseite markierte eine rote Linie: Solange die Sozialdemokraten die historische Tatsache leugnen, dass Lettland 1940 von der Roten Armee rechtswidrig besetzt wurde, sollen sie an keiner Koalition beteiligt werden. So vernebelt der Streit um die richtige Geschichtsdeutung die Unterschiede in wirtschafts- und sozialpolitischen Grundsatzfragen. Die vielen instabilen Mitte-Rechts-Parteien, die im Laufe der Jahre das Land regierten, einten hingegen neoliberale Grundüberzeugungen. Die Vielzahl lettischer Parteien ist nicht durch politischen Ideenwettbewerb begründet, sondern durch Machtkonkurrenz innerhalb der Elite.

Die einheitliche Flattax als Einkommenssteuer, die Geringverdiener prozentual genauso belastet wie Besserverdiener, die niedrigen fiskalen Ausgaben für Gesundheit und Soziales, die Ignoranz des lettischen Gesetzgebers gegenüber gewerkschaftlichen Forderungen und der EU-weit größte Niedriglohnsektor mit Bruttostundenlöhnen um zwei Euro: Das alles macht Lettland zu einem neoliberalen Vorzeigeland. Der Staatshaushalt ist saniert, die Bewohner verlassen das Land. Lettland, das bei Erlangung der Unabhängigkeit noch mehr als 2,4 Millionen Einwohner hatte, unterschritt in diesem Jahr die Zwei-Millionen-Grenze.

Ein Land ohne Geschäftsgrundlage

In Riga sind die sozialen Unterschiede zu betrachten. Das Zentrum ist luxusrenoviert, doch in den Vorstädten sieht man Verfall, Leerstand und sowjetische Industriebrachen. In jedem Stadtviertel überragt eine Shopping-Mall die Wohnhäuser. Auf den Parkplätzen sieht man deutsche Automarken, in den Regalen wird westliche Ware feilgeboten.

Nach der Rezession hat sich die lettische Wirtschaft wieder etwas erholt. Doch die Handelsbilanz bleibt chronisch negativ, das Auslandskonto der lettischen Volkswirtschaft weist beträchtliche Schulden auf. Die einstige Industriemetropole Riga setzte auf den Dienstleistungssektor, auf die Geldwirtschaft, das hatte schon in den neunziger Jahren die erste Krise verursacht. Bis heute fehlt dem Transformationsland die geeignete Geschäftsgrundlage.

Egal, ob man sich mit einem studierten Musiker unterhält, der einst in einem staatlichen Orchester spielte und nun in deutschen Fußgängerzonen sein Einkommen erbettelt, oder mit einer in die Jahre gekommenen Erzieherin, die keine Jobs mehr ergattert und im Obdachlosenasyl ihr Leben fristet. Sie und viele andere erhoffen sich nichts mehr von lettischen Politikern. Auch die instrumentalisierte Furcht vor dem russischen Nachbarn treibt sie nicht mehr an die Wahlurne.