Das große Wuseln: Hektische Betriebsamkeit als Politikersatz

Seite 2: Die Abgeordneten: Viel zu tun, wenig zu sagen

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Wie immer man das sieht: Ernst zu nehmende Entscheidungsprozesse sind bei den vielen Abgeordnetentätigkeiten kaum dabei. Das hat einen leicht zu erklärenden Grund: Der immens wuselige Aufwand steht in keinem Verhältnis zur Entscheidungsverantwortung eines einzelnen Abgeordneten; denn er hat zwar viel zu tun, aber wenig zu sagen.

Falls Parlamentarier jemals etwas zu sagen gehabt haben sollten, so hat inzwischen eine Verlagerung stattgefunden: Die Masse der Parlamentarier nimmt an Entscheidungen des Parlaments nur noch dadurch teil, dass sie ihrer Fraktionsspitze folgen und deren Wünschen entsprechend abstimmen.

Daran ändern auch die paar Entscheidungen nicht, in denen die Fraktionsspitzen die Abgeordneten vom Fraktionszwang "freistellen". Das tun sie ohnehin nur in Fällen, in denen es nicht darauf ankommt.

Und die wenigen Fälle, in denen es für die Fraktionsspitzen nicht darauf ankommt, geraten unversehens zu Sternstunden des Parlamentarismus. So geschehen im Juli 2011, als der Bundestag über die Zulässigkeit der Prä-Implantations-Diagnostik (PID) entschied und eine der niveauvollsten Debatten geführt wurde, die das Parlament je erlebte.

Während "normale" Bundestagsdebatten vielfach dadurch charakterisiert sind, dass die Abgeordneten verbal jeweils gegen die Kollegen der Gegenfraktion(en) auskeilen, bestand dafür in dieser Debatte keinerlei Notwendigkeit. Es wurde einfach nur auf höchstem Niveau und mit dem größten Respekt vor den Vertretern der Gegenmeinung ein komplexes Thema ausdiskutiert. Kein Geschrei, kein Gebrüll, kein Parteiengezänk, kein aufgeblasenes Getöse. Aber das ist und bleibt die Ausnahme.

Und die Ausnahme zeigt umgekehrt eben auch: Die Abgeordneten sind durchaus intelligente, nachdenkliche Menschen mit Niveau. Der Zwang zu primitiv polarisierender Keilerei liegt im System der parlamentarischen Debatte zwischen Regierung und Opposition, bei der es auf Betonung der Gegensätze und dessen, was beide trennt, ankommt und eben nicht darauf, Sachverhalte klärend zu erörtern.

Dazu fragte der ehemalige Bundestagsvizepräsident Burkhart Hirsch (FDP) im November 1999: "

Warum aber fordern Abgeordnete gelegentlich, etwa bei einer Abstimmung zu § 218 StGB oder beim Waffenexport, eine Abstimmung solle "freigegeben" werden, wenn sie ohnehin frei ist? Es muss schon erstaunen, dass auch große Fraktionen, selbst bei sehr komplizierten Gesetzgebungsvorhaben, fast stets einmütig abstimmen. Bei den namentlichen Abstimmungen, bei denen Namenskarten abgegeben werden und das Stimmverhalten des einzelnen Abgeordneten im Protokoll festgehalten wird, gilt das erst recht.

Die Debattenkultur in den Parlamenten ist tot

In der Frühzeit des Parlamentarismus entstand das Ideal und die Realität der klassischen parlamentarischen Debatte: Hochgebildete und hochintelligente Könner der gehobenen Rhetorik tauschten in brillanter Rede geistreich Gedanken miteinander aus.

Es war ein intellektuelles Vergnügen und eine Bereicherung, ihnen zuzuhören. Oft gelang es den Debattenrednern, ihre Zuhörer so eindringlich von ihren Argumenten zu überzeugen, dass diese ihnen am Ende gar zustimmen konnten, ihnen aber auf jeden Fall ihren Respekt entgegenbrachten.

Diese Form der geistvollen parlamentarischen Debatte gibt es nicht mehr. Sie ist tot. Sie ist unwiederbringlich auf dem Altar der Parteiendemokratie geschlachtet worden.

Als Instrument der Streitkultur ist die klassische Überzeugungsdebatte unter dem Einfluss des politischen Parteiensystems, der Fraktionsdisziplin und der Verbreitung von Parlamentsdebatten in Funk und Fernsehen für alle Zeiten ausgerottet worden, weil es im Parlament niemanden mehr gibt, den man überzeugen müsste. Da sind ja alle schon willige Parteigänger der eigenen Fraktion.

Die parlamentarische Diskussion und das Aushandeln von Gesetzen und Verordnungen sind de facto nicht mehr als ein Schattenboxen. Ein Schaukampf. Denn die Entscheidungen, um die es geht, sind längst gefallen, bevor die Debatte überhaupt begonnen hat.

Der demokratische Diskurs ist in den heutigen Parlamenten zur bloßen Eristik verkommen, zur Kunst, um jeden Preis Recht zu behalten, zur blöden Rechthaberei. "Eristische Dialektik" nannte der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) ein posthum veröffentlichtes Werk, in dem er 38, nicht immer ganz ernst gemeinte rhetorische Kunstgriffe beschrieb, die es ermöglichen sollen, aus Streitgesprächen als Sieger hervorzugehen und zwar auch dann, wenn Tatsachen gegen die eingenommene Position sprechen. Er verstand die Kunstgriffe als Beispiele für rabulistische Argumentation.

Es geht nicht mehr darum, andere Parlamentarier zu überzeugen. Die Fronten bestehen so oder so und können durch noch so überzeugende Rhetorik nicht mehr erschüttert werden. Es geht auch nicht mehr darum, parlamentarische Mehrheiten zu gewinnen oder zu verändern. Auch die stehen längst fest. Die Entscheidungen sind getroffen und sind vor Beginn der Debatte unverrückbar.

Eigentlich bräuchte man überhaupt nicht mehr darüber zu reden; denn das Reden wird so oder so an den getroffenen Entscheidungen nichts mehr ändern. Es geht ausschließlich darum, in den Parteien, den Fraktionen oder sonstwo im Vorfeld der Debatte getroffene Entscheidungen vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Das Stichwort lautet nicht mehr "parlamentarische Debatte mit Niveau" sondern "Schlagabtausch".