Das große Wuseln: Hektische Betriebsamkeit als Politikersatz

Seite 3: Parlamente sind Austragungsstätten für leeres Geschwätz

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Kritiker werfen den Parlamentariern manchmal vor, dass sie ihre Reden "zum Fenster hinaus" halten. Was für ein Aberwitz! Alle parlamentarischen Reden werden "zum Fenster hinaus" gehalten. Parlamentarische Reden werden nur noch "zum Fenster hinaus" gehalten. Sie brauchen niemanden mehr zu überzeugen. Alle haben schon ihre unerschütterlichen Standpunkte, Überzeugungen kann man das ja kaum nennen. Sie brauchen auch niemanden mehr mit Gedanken und Überlegungen zu beeindrucken, auf die er vorher noch nicht gekommen ist.

Selbst wenn jemand auf neue Gedanken oder Überlegungen käme, würde das nichts ändern. Und sie brauchen auch nicht einen Gedankenaustausch anzuregen. Wozu braucht man noch einen Austausch von Gedanken, wenn die neuen Gedanken am eigenen Handeln doch nichts ändern?

Die Antwort ist eindeutig: Man braucht ihn überhaupt nicht. Als Foren der parlamentarischen Debatte sind Bundestag und Länderparlamente leere Gefäße, Austragungsstätten für aufgeblasenes hohles Geschwätz.

Mit dem Parlamentarismus eng verknüpft war ja stets die naive Vorstellung, dass so etwas wie eine Regierung durch kultivierte Debatte möglich sei, dass also die Vernunft von Entscheidungen wie einst Phoenix aus der Asche aus Diskussionen emporsteigen könne - so wie das aus den geistreichen Debatten im antiken Athen und Rom möglich gewesen zu sein schien. Doch selbst in der Frühzeit des Parlamentarismus war das eine reine Utopie. Auch als die Parlamentarier noch auf weitreichend homogener, sozial privilegierter Basis diskutierten, ging es um handfeste Eigeninteressen.

In den hoch ritualisierten Debatten moderner Parlamente ist von vornherein jede Hoffnung darauf begraben, dass aus dem primitiv-rechthaberischen und dennoch zahnlosen Parteiengebrüll auch nur Rudimente von Vernunft hervorgehen könnten.

Um überhaupt möglich zu sein, müsste eine konstruktive Streitkultur in irgendeiner Weise institutionalisiert sein, also etwa dadurch, dass eine seriöse Debatte wenigstens dazu führen kann, dass einzelne Abgeordnete anders abstimmen und sich womöglich gar die Mehrheitsverhältnisse ändern.

Doch wenn das möglich wäre, bräche unweigerlich das bestehende Gleichgewicht der Kräfte in jedem Parlament zusammen. Das wiederum ist aber durch die Rolle der politischen Parteien und der Fraktionen völlig ausgeschlossen. Jede Änderung der Mehrheitsverhältnisse gefährdet die Regierung. Und weil das so ist, erscheint es ausgeschlossen, und zwar total. Folglich gibt es keinerlei Anreiz zur kultivierten oder auch nur halbwegs zivilisierten Debatte.

Verbaler Schlagabtausch und dröhnende Rhetorik

Deshalb geht es bei parlamentarischen Debatten nur darum, ein bisschen gegen die jeweiligen Gegner zu pöbeln. Und da primitive Pöbelei beim Publikum nicht so gut ankommt, findet im Plenum stets nur ein verbaler "Schlagabtausch" statt. Aber selbst den will das Publikum inzwischen auch nicht mehr hören. Er ist ja auch geistlos und langweilig und führt vor allem zu gar nichts.

Die Debattenredner geben so durch ihr eigenes Verhalten überdeutlich zu erkennen, wie tief sie selbst davon inzwischen davon überzeugt sind, dass sie als Parlamentarier nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu entscheiden haben. Sie nehmen sich selbst nicht mehr ernst und überkompensieren diese unbewusste Einsicht durch besonders dröhnende Rhetorik.

Wäre es anders, würden sie in den parlamentarischen Debatten seriöser auftreten. Die primären Adressaten ihrer Reden im Plenum sind nicht mehr die anderen Debattenteilnehmer, sondern gegenwärtige oder künftige Zuschauer, die überhaupt nicht im Plenum anwesend sind: vor allem das Fernsehpublikum. Das Ritual der parlamentarischen Debatte ist zur billigen Show verkommen.

Und da es überhaupt nicht mehr darum geht, die Debattenteilnehmer der anderen Fraktionen zu überzeugen, zu beeinflussen und sie mit Argumenten zu konfrontieren, die sie beeindrucken könnten, können die Redner der Gegenseite getrost aggressiv attackiert werden - geht es doch vor allem darum, sie möglichst effektvoll zu demontieren.

Das Resultat dieses Verfalls der Debattenkultur ist ein niveauloses Schmierentheater, in dem die Beteiligten rabaukenhaft gegeneinander auskeilen - einer der Gründe für die in vielen Jahren gewachsene Politikverdrossenheit großer Teile der Bevölkerung: Das einfältig-rechthaberische und selbstgefällige Gewäsch parlamentarischer Debattenredner ist dem Publikum längst zuwider. Verbale Prügeleien und wechselseitige Schuldzuschreibungen sind das genaue Gegenteil dessen, was ein Volk mit Fug und Recht von einem Parlament erwarten kann.

Geradezu rührend wirkt es da, wenn der Bundestagspräsident Norbert Lammert seine Politikerkollegen ermahnt, ihr Umgang untereinander sei oft ein "wechselseitiger rhetorischer Wettbewerb", der nicht gerade zu einem positiven Bild in der Öffentlichkeit beitrage. Deshalb seien sie zum Teil selbst schuld an ihrem schlechten Image und landeten zu Recht in Umfragen auf dem vorletzten Platz unter 17 Berufen.

Die Kritik ist zwar gerechtfertigt, aber nutzlos; denn in einer parlamentarischen Entscheidungssituation, in der es notwendig nur um Polarisierung und Betonung von Gegensätzen gehen kann, besteht ein objektiver Zwang zur rabulistischen Keilerei, dem sich die Abgeordneten auch dann kaum entziehen können, wenn sie das möchten.

Täten sie nicht wenigstens das und könnten sie nicht wenigstens die Gegenseite mit Unrat überhäufen, müssten sie womöglich erkennen: Diese Debatte hat überhaupt keinen Sinn und auch keinen höheren Zweck. So wollen wir uns doch wenigstens daran erfreuen, dass wir’s der Gegenseite mal wieder so richtig gezeigt haben.

Der Niedergang der Debattenkultur in den Parlamenten steht allerdings in eklatantem Gegensatz zu den Notwendigkeiten unserer Zeit. Auch dies ein Indiz dafür, dass die Welt der entwickelten repräsentativen Demokratien aus den Fugen geraten ist.

Die parlamentarische Debatten(un)kultur passt nicht mehr

Das Informations- und Kommunikationszeitalter erfordert eine neue Diskurskultur. Der banale Streit darum, wer jetzt gerade Recht hat und schon immer Recht hatte oder die besseren Konzepte verficht, ist nicht mehr zeitgemäß und verantwortungslos. Gebraucht wird eine Lösungskultur und ein gemeinsamer Lösungsdialog, der Parteigrenzen überwindet, nicht aber sie in Stein meißelt.

Es festigt sich im Lande die Überzeugung, dass unser Parteiensystem, in welcher Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird, wenn es nicht die Kraft zur durchgreifenden Erneuerung findet. Wenn unsere Parteien weder programmatisch noch personell in der Lage sind, die Bevölkerung mit klaren Alternativen zu konfrontieren und damit Richtungsentscheidungen zu erzwingen, ist diese Republik am Ende.

Arnulf Baring

Aber eine Diskurskultur, die Lösungen für Probleme zu erarbeiten versucht, kann aus einer parlamentarischen Parteiendemokratie aus strukturellen Gründen nicht hervorgehen. Man kann sich das von Herzen wünschen - so wie den Weltfrieden. Aber der wird deshalb auch nicht kommen. Die Struktur der Parlamente in Parteienstaaten mit ihren Regierungsmehrheiten und Oppositionsminderheiten steht einer lösungsorientierten Diskurskultur entgegen und macht sie unmöglich.

Es hilft nicht, wenn man bloß über die Politiker und ihre nichtssagenden Reden in den Parlamenten schimpft; denn dahinter stehen institutionelle Zwänge, und erst wenn die beseitigt sind, wird eine parlamentarische Redekultur möglich sein, bei der am Ende sinnvolle Ergebnisse herauskommen.

Teil 10

Wer unbefangen darüber nachdenkt, wie politische Entscheidungen zu Stande kommen, könnte sich sagen: Eigentlich kann da nur etwas Sinnvolles herauskommen, wenn in Parteigremien, Fraktionen, Parlamenten und Ausschüssen lauter qualifizierte und gut ausgebildete, womöglich noch einigermaßen lebenserfahrene Männer und Frauen sich zusammensetzen und über politisches Handeln beraten. Doch dann betrachtet derselbe unbefangene Beobachter die Resultate dieser Politik in Regierungen, Parlamenten, Fraktionen und Parteitagen, und schon bricht wieder das nackte Entsetzen ob des politischen Alltags über ihn herein.

Trotzdem bleibt die Frage, der wir in der nächsten Folge nachgehen werden: Wie kann es kommen, dass aus den Beratungen vieler vernünftig erscheinender Individuen über Jahre, ja Jahrzehnte hinweg, solch kollektiver Blödsinn hervorgeht, den kaum eines der beteiligten Individuen im Alleingang unterstützen oder auch nur befürworten würde?