Das letzte Museum der Netzkunst hat eröffnet

Olia Lialina archiviert, dekonstruiert und kontextualisiert ihr Netzkunst-Frühwerk "My boyfriend came back from the war...".

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Im kleinen Kreise in einer Privatwohnung in München am vergangenen Samstag wurde das "letzte Museum der Netzkunst" eröffnet. Olia Lialina, selbst Netzkünstlerin und Betreiberin der "ersten Galerie für Netzkunst" - Teleportacia.org - will damit das Ende der frühen Netzkunst-Ära markieren, in der Künstler zugleich ihre eigenen Kritiker und Galeristen waren.

Olia Lialina, Schöpferin des "letzten Museums für Netzkunst".

"My boyfriend came back from the war" war die erste Netzkunst-Arbeit Olia Lialinas und entstand 1996, unter Mitarbeit der russischen Künstler Leibov (Text) und Konstantinov (GIFs). Mit der Präsentation der Site im Telepolis-Netzraum im Herbst 1996 wurde die Arbeit erstmals "offiziell" im Westen ausgestellt, wenn diese Begriffe überhaupt gerechtfertigt sind. Denn eine Netzkunst-Arbeit wird jedesmal "ausgestellt", wenn ihre Index-Seite in einem Browser-Fenster geöffnet wird. Mit "My boyfriend..." und weiteren Arbeiten (u.a. Agatha Appears, Heaven and Hell, letzteres zusammen mit M.Samyn) fand Olia Lialina Anerkennung als eine der ersten Vertreterinnen des jungen Genres der Netzkunst, was ihr unter anderem die Bezeichnung "Diva der Netzkunst" durch eine Kritikerin eintrug. Das enorme Interesse vor allem auch unter Künstlerkollegen führte dazu, dass "My boyfriend..." seither in verschiedenen weiteren Fassungen im Netz publiziert wurde - u.a. in einem russischsprachigem Remix (Vadim Epstein), als Text-only (Roman Leibov), als Video (Marton Fernezelyi), als animiertes GIF (Mike Konstantinov) und zuletzt sogar als gemaltes Bild in Gouache-Technik (Masha Boriskina). (Für eine vollständige Liste siehe die Museums-Sammlung)

Olia Lialina zeigt sich "freudig überrascht", dass es nicht einfach bei ihren "ugly originals" geblieben sei, sondern dass neue Arbeiten geschaffen wurden, wobei sie insbesondere die "einfachen Transformationen als Video und Real Audio gerne mag." Denn als "Video mit seinen verschiedenen Formaten und Datei-Größen wird es wieder eine eigene Geschichte von Usern und ihren Computern und Internet-Geschwindigkeiten", meint sie. "Als ich die Audio-Version hörte, hat es mich unerwartet ins Jahr 1996 zurückgeworfen, als ich selbst mit einem so schrecklichem aber auch großartigem Akzent sprach. Dieser Akzent unterstreicht das "simple English" der Arbeit und dass sie nicht in meiner Muttersprache geschaffen wurde". (Siehe dazu auch das "Interview mit Olia Lialina") Demnächst soll sogar eine Screensaver-Version herauskommen, der dann im Museumsshop gekauft werden kann.

Ein unkonventioneller Beitrag zur Thematik sind die Wasserfarbenbilder von Masha Boriskina. Diese hat "My boyfriend..." als analoges Kunstwerk verewigt, dazu auch noch Sites von eToys und Rhizome. Die Rücktransformation von Websites in das Medium der Malerei wird via Teleportacia als personalisierter Service-on-demand angeboten.

Unter dem einfallsreichen Domainnamen myboyfriendcamebackfromth.ewar.ru hat Lialina nun alle diese Fassungen im "letzten Museum für Netzkunst" wieder zusammengeführt. Man kann das als eine Art Reklamation der Urheberschaft sehen oder auch als einen Reiseführer zu den Stationen eines Netzkunstwerks. Mindestens ebenso interessant ist die Arbeit, welche die Künstlerin mit dem zugehörigen "Archiv" geleistet hat. In dieser Sektion sind alle Elemente der Arbeit einzeln aufgelistet - die HTML-Dateien, die verwendeten Bilder -, aber auch Biographien und Portraits der Beteiligten, finanzielle Einspielergebnisse, Suchmaschinenresultate und Web-Awards. Damit leistet sie eine Dekonstruktion der Arbeit, indem alle Elemente, die sonst hintereinander im Browserfenster erscheinen, wie auf einer großen Leinwand nebeneinander aufgeführt werden. Zugleich wird die Arbeit mit den Informationen über die Beteiligten und Links zu deren Servern und Sites kontextualisiert. Das "Archiv" der Arbeit ist so zugleich wieder eine neue künstlerische Arbeit.

Einzelbild aus "My boyfriend came back from the war...".

Dieser Kunstgriff, der den Blick auf die Struktur und den Kontext des Werks eröffnet, deckt sich mit den Intentionen der Online-Galerie Teleportacia. Diese verfolgt zwar den naheliegenden Zweck, Netzkunst an private und institutionelle Sammler zu verkaufen, daneben geht es Olia Lialina aber vor allem auch darum, das Verständnis von Netzkunst unter Kunstkuratoren zu verbessern. Museen machen sich die Arbeit oft sehr einfach, indem sie bei einer Ausstellung von Netzkunst Rechner aufstellen, auf denen die Links zu den einzelnen Arbeiten dann als "Home"-Adresse unter den Browser-Preferences eingestellt sind. Damit entfällt jegliche Verantwortlichkeit für die Werke und die Künstler brauchen praktischerweise auch gar nicht mehr eingeladen zu werden. In den FAQ-Erläuterungen auf Teleportacia bemerkt Olia Lialina darum auch, dass es zwar leicht sei, die HTML-Dateien eines Netzkunstwerks zu kopieren, dass aber die ursprüngliche URL nicht kopierbar ist und damit die Grundlage für ein Zertifikat der Authentizität der Arbeit darstellt - deshalb wohl auch die Registrierung des Domainnamens myboyfriendcamebackfromth.ewar.ru

Das "letzte Museum für Netzkunst" setzt somit die Bewusstseinsarbeit fort, die Olia Lialina mit Teleportacia begann. Denn eigentlich ist es ja das erste bekannte Museum dieser Art. Doch darüber könne man sich nie ganz sicher sein, sagt Olia Lialina und sie wolle es nicht provozieren, dass jemand schreibt "aber ich habe das doch bereits gemacht". Der zweite Grund für die Bezeichnung "letztes Museum" ist, dass sie das Ende einer Ära unterstreichen wolle, "in der Künstler zugleich Kritiker und Galleristen sein können und ihre eigenen Museen verwalten, wobei Museen nur eine Sammlung von Links sind". Zugleich hofft sie, "dass es mein letzter persönlicher Beitrag zu dem Thema ist."