Das wilde Leben wieder einmal

Lebt die Hausbesetzerbewegung neu auf?

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Jede Bewegung hat ihre Legenden - und so hat sich das öffentliche Halbbewusstsein damit eingerichtet, dass die Hausbesetzerbewegung zwischen 1979 und 1981 ihre absolute Hochzeit hatte, dass die Aktionsform vorher und nachher keine nennenswerte Attraktivität entwickelt hat und dass das alles sowieso vorbei ist. Allenfalls fällt noch der Begriff "Hafenstraße". In der letzten Zeit hat es allerdings ein gewisses Comeback der Hausbesetzung gegeben, vor allem in Berlin und Hamburg.

Nur ein müdes Revival, das man mit einem schnellen "Alles schon mal da gewesen" abhaken kann, oder ein Anzeichen für die Zuspitzung sozialer Widersprüche?

Was bei den jüngeren Besetzungen unmittelbar auffällt, ist, dass sich im Gegensatz zu den Endsiebzigern bis jetzt keine "Ein-Punkt-Besetzungs-Bewegung" herausgebildet hat, die in der Aneignung leerstehenden Wohnraums oder ungenutzter Plätze die revolutionäre Handlung schlechthin sieht, sondern dass die Besetzungen in vielerlei andere Aktivitäten eingebunden sind.

Schnauze voll von den laufenden Reformen

Beispielhaft kann das an den "Hochburgen" der neuen Besetzerszene, Hamburg und Berlin, erläutert werden. Berlin hat neben der saisonüblichen Vorbereitung auf den 1. Mai (wie z.B. die sogenannte Mai-Steine-Aktionen) auch die Demonstration am 3.4. und den Autoorganisationskongress gesehen.

Anhaltende Proteste gegen die Sparbeschlüsse der "rot-roten" Regierung aus SPD und PDS sowie die abebbenden Studentenaktionen gegen die marktförmige Verkrüppelung der Universitäten, die noch vom letzten Jahr in dieses hineinragen, spielen in der aktuellen Protestlandschaft ebenfalls noch eine Rolle.

In all diesen Zusammenhängen ging und geht es zusätzlich zur symbolischen oder tatsächlichen Aneignung bestimmter Ressourcen auch um das Gefühl, für die eigenen Bedürfnisse kämpfen zu müssen, und dieses Gefühl kann sich auf so verschiedene Dinge wie Wohnungen, Schwimmbäder, U-Bahnen und Uni-Dekanate beziehen.

Sogar Psychiatriepatienten haben in diesem Jahr bereits massiv gegen Maßnahmen protestiert, die sie als soziale Enteignung begreifen (vgl. Wir wollen nicht verrückt gemacht werden), und das ist wohl auch der gemeinsame Nenner all dieser auf den ersten Blick so verschiedenen, politischen Aktionen: Man hat, simpel gesagt, die Schnauze voll von den laufenden Reformen, die aus sozialen Rechten Hackepeter machen, der von der Obrigkeit zugeteilt oder verweigert werden kann, wie es ihr passt.

In dieser Hinsicht sind konkrete Besetzungen nur eine Ausdrucksform des wachsenden gesellschaftlichen Widerwillens gegen die Großagenda hinter all diesen kleinen Agenden: die von oben her betrieben Aufgabe des sozialen gesellschaftlichen Kompromisses, der eine sozialstaatliche BRD ermöglichte. Am radikalsten lässt sich dieser Widerwille bündeln in der Parole, die während der Demonstration vom 3.4. den Block der Ungeduldigen anführte: "Alles für alle, und zwar umsonst."

In Hamburg war die Situation bisher noch deutlich geprägt von den Nachwehen der Bambule-Affäre, welche die Stadt seit über einem Jahr in Atem hielt (vgl. Die Stadt gehört allen).

Dass die Stadt auch nach dem Abgang Ronald Schills ihre teils harte, teils konfuse Linie gegen Wagenbewohner aufrecht erhält, führt immer wieder zu "Abwehr-" und Unterstützungsbesetzungen, die meist symbolischen Charakter haben und oft unter dem Motto "Hände weg von Projekt xyz" stehen.

Am spektakulärsten bisher war in dieser Hinsicht sicher die symbolträchtige Blockade der Hamburger Hafenstraße durch mehr als 100 bewohnbare Fahrzeuge am 24.4.

Mit verändertem Stil aus der Defensive heraus

Ähnliche Aktionen kann man quer durch die Republik beobachten, etwa wenn es um das Freiburger "KTS", die "Ex-Steffi" in Karlsruhe, die "Alternative" in Lübeck oder andere Häuser und Einrichtungen geht.

In strategischer Hinsicht könnte man wohl behaupten, dass all die angesprochenen Aktionen aus der Defensive heraus geschehen und oft auch einen defensiven Charakter haben, sie sollen ein bestimmtes Projekt, bestimmte soziale Rechte gegen Angriffe verteidigen. Das unterscheidet die Situation grundsätzlich von den Jahren 1979 - 81, als die Besetzerbewegung mit zeitweise gleichzeitig 170 besetzten Häusern allein in Berlin in der Offensive war.

Es dauerte nicht umsonst mehrere Jahre, bis die Berliner Luft für Hausbesitzer und Senat wieder rein war. Gleichzeitig scheinen die heutigen Besetzer ein geringeres Ausmaß an manifester Straßenmilitanz entfalten, was durchaus auch mit insgesamt einem geänderten Stil der Bewegung zu tun haben könnte. Die Polarität von "Mollies und Müslis", der Gegensatz zwischen der militarisierten Hasskappen- / Lederjackenästhetik und den Latzhosen-Peaceniks vom Anfang der Achtziger ist durch Kleidungs- und Verhaltensstile ersetzt, die aus vielen verschiedenen Ressourcen und Jugendkulturen schöpfen.

Basecap und Rastalocken sieht man heute in der Szene genau so wie Reminiszenzen an den Punk. Die heutigen Besetzer sind technisch versierter, medien- und kommunikationsorientierter als ihre Vorgänger. Während es noch 1987 eine Sensation war, als von einer Demonstration zum Erhalt der damals gefährdeten Hafenstraße ein Piratensender live berichtete, erwartet man heute im Normalfall bereits Webcams, Radiostreams und Videos, die sich zehn Minuten nach dem Ereignis auf indymedia finden sollten, um aktuell genug zu sein.

Mit der Protestkultur von früher, die sich hauptsächlich über kaum lesbare, schlecht kopierte Flugblätter in Auflagen von zwei- oder dreihundert Stück mitteilte, hat das nur noch begrenzt zu tun. Aber die Vernetzung scheint über die technischen Aspekte hinauszugehen. Im Gegensatz zu der Besetzerbewegung von früher sind die Aktivisten von heute scheinbar eher bereit, über den Tellerrand hinauszusehen. Der Blick hat sich geweitet, was nicht in jedem Fall von Vorteil sein muss - es kann auch dazu führen, dass der Fokus verloren geht.

Geblieben von damals ist die Ablehnung jeder bürgerlichen Gesetztheit. Je (verbal-)radikaler der Bruch mit Arbeitsamt, Bausparvertrag und Jägerzaun, desto besser. Es ist das wilde Leben wieder einmal, durchgängig beobachtet man eine Favorisierung nomadischer Lebensweisen, besonders die Wagenburgbewegung setzt in dieser Hinsicht starke Akzente. Überlebt hat auch ein zentraler ideologischer Topos von früher: die Betonung von Selbstorganisation und Selbstverwaltung.

Inseln in einem Meer der Anpassung

Das ist nicht unproblematisch: Das Beharren auf dem Eigenen, der selbstgewählten, souveränen Identität und einer weitgehend illusorischen Versorgungsautarkie war in der anarchistisch inspirierten Linken schon immer ein Pferdefuß. Nach der Trainingsphase in der Wagenburg schlug dieses Gedankengut manchmal überraschend schnell in bürgerlichen Abgrenzungs- und Eigentumswahn um (vom Besetzer- zum Besitzerstolz gewissermaßen) - parallel zu der wunderlichen Entwicklung, dass sich seit den Achtzigern viele der Nomaden aus den alternativen Jugendkulturen recht gut mit einer zunehmend nomadisierten und (sorry für das Wortspiel) monadisierten Wirtschaftswelt zurecht fanden, die heuert und feuert, ganz wie es opportun ist.

Das Leben in der Wagenburg als Flexibilitätstrainer für den modernen Bürger, der, ein lebenslang Lernender, überall einsetzbar ist und gleichzeitig wahnhafter und starrer auf dem Eigenen beharrt als sein Großvater hinterm Jägerzaun? Was den heutigen Aktivisten noch absurd erscheinen mag, ist für viele Aktive von damals schon lange Realität. Heute wie damals will man Inseln in einem Meer der Anpassung schaffen, Freiräume, in denen andere Regeln gelten. Aber wenn die Inseln weggeschwemmt werden, oder wenn sich die Wagenburg nur als alternative Schrebergartenkolonie erweist, dann ist die Enttäuschung groß genug, um lebenslang jeden weiteren Gedanken an eine Alternative zum Bestehenden zu verhindern.

Zuerst unterschätzt man die Gewalt des Gegners, nach der Niederlage identifiziert man sich mit ihm - eine Entwicklung, die seit "68" oft genug durchgespielt wurde und uns unter anderem die bestehende Regierung verschafft hat. Manchmal findet man sich am Ende in Verhältnissen, die zwar den eigenen Vorstellungen diametral widersprechen, aber wenigstens den psychischen Mehrwert aufweisen, dass die alternative Fassade gewahrt bleibt (vgl. Die Tücken der Alternative).

Die Besetzerkultur von einst ist untergegangen. Sie hat ihre eigenen Hinterlassenschaften, Mythen und Biographien hervorgebracht, ja, auch ihre eigene Literatur, wie sich zum Beispiel an Texten von Andreas Mand ("Das rote Schiff", "Kleinstadthelden") und Michael Wildenhain ("Die kalte Haut der Stadt", "Zum Beispiel K.", "Das Ticken der Steine") dokumentiert. Das, was vielleicht eine neue Besetzerbewegung wird, weist wichtige Unterschiede zu damals auf, aber starke Kontinuitäten leben fort. Es muss sich erst noch zeigen, ob sich aus den ersten Keimen etwas Neues entwickelt, oder ob wir es mit einem Aufkocher von Ideen zu tun haben, die vor zwanzig Jahren abgefrühstückt waren.