Debatte: Meinungen aufs Geratewohl
Seite 2: Bewertung von "Widerstand"
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- Bewertung von "Widerstand"
- Die eigene Bewertung als Maßstab
- Fazit: Wie sähe Fortschritt aus?
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Auch beim Befolgen von Regeln erleben wir ein buntes Spektrum von Bewertungen vergleichbarer Tatsachen durch dieselben Personen. Was ist anerkennenswerter oder gar gebotener "ziviler Ungehorsam", was eine ungebührliche Ordnungswidrigkeit oder Straftat?
Bei Straßenblockaden hängt die öffentliche Wertung entscheidend vom politischen Ziel ab, eine geradezu groteske Verzerrung für die Sachdiskussion. Da können auch Nicht-Juristen vom richterlichen Blick lernen.
Wer Widerstand gegen "das System" in Sachen Klimaschutz als Notstandshandlung rechtfertigen möchte, kann nicht gleichzeitig rein verbale Kritik an anderen Formen der Herrschaftsausübung als "Delegitimierung des Staates" kriminalisieren. Denn was sind die aktuellen Klimaproteste anderes als der (tätliche) Vorwurf von Staatsversagen?
Wann ist das Befolgen als unsinnig empfundenen Regeln geboten, fragwürdig, illegitim oder illegal? Vergleiche mit der Zeit vor der Bundesrepublik werden dabei ebenfalls willkürlich zugelassen oder erbost abgelehnt (wobei grundsätzlich darauf hinzuweisen ist, dass nun einmal die Nazi-Diktatur die jüngste zum Vergleich anstehende Zeit ist und nichts dafür spricht, besser historisch noch weiter zurückzugehen).
Was bedeutet es, wenn die Exekutive (oder gar die Legislative) rechtswidrig handelt, wie dies bspw. mit den Ausgangssperren 2020 der Fall war?
Eine Gesellschaft kann in ihrer Vielfalt mit solchen Problemen nur klarkommen, wenn die Bewertungen nicht willkürlich, d.h. ergebnisgeleitet erfolgen.
Die "Grenzen des Sagbaren
Eine besondere Form willkürlicher Bewertungen ist bei den "Grenzen des Sagbaren" zu beobachten, weil hier aus willkürlichen Wertungen neue, fallbezogene Regeln geschaffen werden. Wenn ein Argumentum ad hominem in Diskussionen nichts zu suchen haben, dann gilt dies ausnahmslos. Die Bewertung als illegitim muss ohne Ansehen der Person erfolgen. Und doch waren und sind Donald Trumps Haarfarbe und Boris Johnsons Frisur in Diskussionen allgegenwärtig.
Wenn "toxische Männlichkeit" eine zulässige Wertung ist, dann muss dies ebenso für "toxische Weiblichkeit" gelten. Wenn es typisches Verhalten "alter weißer Männer" gibt, dann muss ein Befund für "alte schwarze Männer" oder "junge asiatische Frauen" ebenso zulässig sein. Wer einen Wertmaßstab zulässt, muss ihn für alles Vergleichbare zulassen, wer eine Wertung vornimmt, muss mit einer konträren Wertung durch andere rechnen. Wo "hübsch" möglich ist, muss auch "hässlich" Raum haben, andernfalls wäre die Wertung sinnlos.
Erfolg, abhängig von der Auswahl der Zeitausschnitte
Verständigungsprobleme verursacht bei der Bewertung von Entwicklungen die willkürliche Wahl von Zeitausschnitten. Wann war die Industrialisierung "erfolgreich"? Wenn es in den ersten Jahrzehnten mehr Menschen besser als schlechter ging, wenn man Freud und Leid von Jahrhunderten betrachtet oder wenn die Bilanz bei der Endabrechnung positiv ist?
In der Bewertung des Pandemie-Managements wurden mal Wochen, mal Monate betrachtet, mal mit entsprechenden Zeitfenstern in den vorpandemischen Jahren verglichen, mal Schätzwerte für die Zukunft zum Maßstab erhoben.
Ist eine einzelne Corona-Bekämpfungsmaßnahme erfolgreich, wenn unmittelbar Inzidenz- oder andere Messwerte positiv zu beurteilen sind, oder wenn man die Wirkung über Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte betrachtet (was etwa für die gesundheitlichen Auswirkungen von Bildung notwendig wäre)?
Anschaulich wird dieses Problem (oder, je nach Wertung, der argumentative Trick) beim Vergleich unterschiedlicher Visualisierungen von Messergebnissen (Bsp. zur Benzinpreisentwicklung bei Bildblog).
Oft werden Vergleichsdaten, die für die Bewertung notwendig sind, gar nicht benannt. Auch dies ist bei der aktuellen Diskussion um Randale zu Silvester zu erleben. Gerade zu Beginn lagen die gemeldeten Zahlen zu Angriffen auf Polizei und Rettungsdienst auf dem Niveau der Jahre vor der Pandemie.
Mit welchem Ausmaß nach zwei Jahren ohne Feuerwerksverkauf und mit vielen Verbotszonen zu rechnen gewesen wäre, um von einer "normalen Silvesternacht" zu sprechen, verriet niemand (abgesehen davon, dass man natürlich jeden Angriff verurteilen muss).
Ähnliches kennen wir von allen Kommentaren zu Covid-19-Inzidenzen: ob 50, 500 oder 2500, sie galten vielen stets als dramatisch und nicht hinnehmbar. Ebenso bei den Todesfällen (von denen es vor Corona etwa 2600 pro Tag gab).