Debatte: Meinungen aufs Geratewohl

Seite 3: Die eigene Bewertung als Maßstab

Besonders willkürlich wird eine Bewertung, wenn als Wertungsmaß die eigene, nur für diesen Fall geltende Erwartung herangezogen wird. Darauf basieren Skandalisierungen. Dass sich oft viele Menschen anschließen, macht das Verfahren nicht seriöser. Worin bestand die "Peinlichkeit" im knapp einminütigen Instagram-Video der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht?

Darin, dass Kritiker die Lambrecht umgebende Silvesterknallerei nicht mit Silvester, sondern mit dem Ukraine-Krieg in Verbindung brachten. Als ob es den russischen Überfall gebraucht hätte, um von Feuerwerksgeräuschen an Kriegsknallerei erinnert werden zu können.

Alle zur Schau gestellte Häme war zwar voraussehbar (weshalb Wertungen wie "PR-Debakel" treffend sind unter der Annahme, der Instagramkanal sei Teil Lambrechts Öffentlichkeitsarbeit), basiert aber auf keinerlei allgemeingültigen Kriterien, sondern nur der eigenen Erwartungshaltung, für die selbst die eigene Schwerhörigkeit herangezogen wurde (Kabarettist Fritz Eckenga).

Schlimmer erging es Armin Laschet, der unter unbemerkter Beobachtung über eine witzige Bemerkung gelacht hatte an einem Ort und zu einem Zeitpunkt, da Skandalisierungsfreunde Lachen für unbotmäßig erklärten – natürlich erst im Nachhinein, ohne jedes Refugium für Befreiungshumor und ähnliches.

Während in anderen Fällen Ehrlichkeit und Authentizität von Politikern gefordert wird, erwartete das erregungssüchtige Berlin beim Hochwasser in Erftstadt eine Betroffenheitsinszenierung, der sich auch die private Kommunikation hätte fügen sollen.

Sobald es allerdings um Geschmacksfragen im weitesten Sinne geht, kann es gar keine externe Bewertung geben, ein jeder kann sie nur selbst und nur auf sich bezogen vornehmen: wie schwer ein Lockdown wiegt beispielsweise oder ob eher Feuerwerk oder ein Restaurantessen Geldverschwendung ist.

Aus der Vielzahl weiterer Hürden der Aufklärung sei auf die ex-post Bewertung von Ereignissen verwiesen. Womit nicht die Volksweisheit "hinterher ist man immer schlauer" gemeint ist, sondern die Kommentierung eines Sachverhalts außerhalb seiner Zeit und seines Ortes.

In größerem geschichtlichen Kontext erleben wir dies beispielsweise mit der kolonialen Vergangenheit. Straßennamen werden geändert, weil ihre Patrone heute nicht mehr satisfaktionsfähig sind. Mit einem solchen Maßstab könnte man heute allerdings kaum noch einen Denker, Künstler oder Gestalter vergangener Tage ohne distanzierenden Disclaimer erwähnen, weil stets zu vermuten ist, dass die Person Werte vertrat, für die man selbst heute keinesfalls stehen mag.

Außenministerin Annalena Baerbock hat so ein nach Otto von Bismarck benanntes Zimmer in ihrem Hause gerade in "Saal der Deutschen Einheit" umbenannt.

Um die Namen von Plätzen, Häusern oder Räumen mag es nicht schade sein, aber die solchen Ansinnen zugrundeliegende Bewertung ist ein latentes Problem für die gesellschaftliche Verständigung: Denn der Wertende verlangt, dass eine andere Person ungeachtet ihres Kontextes hätte so urteilen müssen, wie er selbst es jetzt gerade tut.

Im Alltag äußert sich das in Floskeln wie "stell dich nicht so an" oder "wir mussten früher auch ....". Der Unsinn solcher Beurteilungen könnte deutlich werden, wenn man sich vergleichbare Szenarien in der Zukunft denkt: Fußt die heutige Wertung auf so soliden Füßen, dass auch in unabsehbarer Zukunft niemand mit Recht unsere heutige Position als Quark verwerfen wird?

Befinden wir uns, um es zuzuspitzen, gerade im Vollbesitz aller denkbaren geistigen Kräfte, so dass unsere – mitunter ja für echte Menschen sehr verhängnisvolle Position – bis in alle Ewigkeit Gültigkeit beanspruchen darf? Es ist wohlfeil, vorangegangene Generationen für tumb zu halten, weil sie etwa in Gemeinschaftsräumen ganz selbstverständlich geraucht haben oder die gesellschaftliche Rolle der "Hausfrau" nicht problematisiert haben.

Dass sich die Welten auch sonst in vielem unterschieden und heutiges Verhalten in der Vergangenheit als inadäquat verstanden worden wäre, wird dabei übersehen. Juristen haben deshalb das "Rückwirkungsverbot" ersonnen.