Debatte zu Israel und Gaza: Gegen Herdentrieb und geopolitische Platitüden

Die Hamas ist keine Befreiungsbewegung. Jetzt zeigt sich in einem offenen Brief Mut zur Klarheit unter deutschen Intellektuellen. Wie geht Differenzieren nach einem Pogrom?

Ein offener Brief, unterschrieben von bisher 150 deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, kritisiert am Literaturbetrieb ein "an Bräsigkeit nicht zu überbietendes Schweigen" und fragt:

Oder ist es gar keine Bräsigkeit, sondern konzentriertes Stillhalten, um bloß keinen Fehler zu machen? Sich nicht angreifbar zu machen? Selbstbewusstes oder in irgendeiner Form dem grassierenden Antisemitismus die Stirn bietendes Schweigen jedenfalls kann es nicht sein.

Offener Brief

Das Schweigen könnte dumpfer und lauter nicht sein, schreiben die Unterzeichner, darunter auch zwei Autoren, die bei Telepolis veröffentlicht haben.

Jüdinnen und Juden sind in diesem Land, in Europa und weltweit bedroht. Es ist Zeit, in aller gebotenen Schärfe die Stimme zu erheben. Wir haben genug von jedwedem relativistischen Lavieren.

Wir sehen das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung und fordern humanitäre Hilfe, wenden uns aber dagegen, mit dem Leiden der Menschen im Gaza-Streifen den Terror der Hamas zu relativieren und die Selbstverteidigung Israels zu delegitimieren. Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten und hat, wie jeder funktionierende Staat, die eigene Bevölkerung vor Terror zu schützen.

Offener Brief

Die Debatte über den Krieg in Gaza hat eine Schlagseite bekommen. Trotz des alle menschlichen Übereinkünfte außer Kraft setzenden brutalen Pogroms der Hamas-Dschihadisten auf israelische Familien, richtet sich ein großer Teil der Aufmerksamkeit auf den Umgang der israelischen Regierung mit den Palästinensern.

Dass mit dem Gewaltakt fanatischer Organisationen jetzt erst wieder neu die lange Zeit missachtete Palästinafrage auf die Tagesordnung kommt, ist bitter: "Die Umstände, unter denen das geschehen ist, könnten grausamer nicht sein." (Daniel Cohn-Bedit).

Das ist eine denkbar üble Voraussetzung für eine notwendige Debatte. Die Palästina-Frage war nie so einfach wie auf den "Free Gaza"-Plakaten. Jetzt wird sie noch schwieriger.

Dass viele angesichts der tödlichen - laut wiederholten, aber unbestätigten Angaben "Tausende Leben" (Die Herkunft der gemeldeten Zahlen ist oft unklar) kostenden - Angriffe des israelischen Militärs auf Gaza den klaren Kopf verlieren, der unterschiedliche Ebenen und deren Gewichtung unterscheiden kann, war absehbar und vorprogrammiert. Das fügt sich gut in die strategischen Ziele der Hamas.

Was bei Demonstranten, die Plakate aus der Bilderbuchwelt hochhalten (ungeachtet der differenzierteren Meinung von Palästinensern in der Realität der Hamas-Herrschaft in Gaza), emotional nachvollziehbar sein mag, kann aber doch nicht für ein Milieu gelten, das andere Ansprüche an seinen Reflexionsgrad der Wirklichkeitsverarbeitung stellt.

Die Professorin für Medienkunst, Hito Steyerl, kritisiert im Spiegel, dass in diesem Milieu zu wenig nachgedacht wird - die Dynamik der sozialen Medien würden eine Art Herdentrieb erzeugen.

Mir fällt in der Kunstwelt ein mehrfach verkürztes Verständnis von Geopolitik und Machtverhältnissen auf. Im Kunstbereich zirkulieren dazu sehr viele Plattitüden. Auch das ist eine Folge davon, dass Menschen sich nur noch schnell den Meinungswellen in den sozialen Medien anschließen. Zugleich wächst die Ausgrenzung auf allen Seiten.

Hito Steyerl

Steyerl zeigt, wie es möglich ist, den Furcht einjagenden Antisemitismus in seiner neuen Dimension wahrzunehmen und wie es auch möglich ist, für Meinungsfreiheit und gegen Canceln einzutreten:

Ich halte es für völlig legitim, Diskussionsbeiträge zu veröffentlichen, und ich halte es für einen großen Fehler, den zuständigen Redakteur gleich zu entlassen, wie es mittlerweile geschah.

Hito Steyerl

Die wachsende Ausgrenzung präzisiert sie so:

Es ist ein Faktum, dass Palästinenserinnen und Palästinenser in Deutschland einer Art Präventivverdacht ausgesetzt sind. Das kann nicht so weitergehen. Sie müssen sich zu Wort melden, demonstrieren und ihre Grundrechte ausüben können wie andere auch. Die Situation eskaliert sonst weiter.

Dieser Vorverdacht ist Teil dieser elenden Polarisierungsdynamik und muss endlich ein Ende haben. Auf der anderen Seite ist es auch so, dass Leute wie ich, die sowohl Antisemitismus als auch Rassismus als Problem sehen von Pseudolinken, zunehmend heftig angegangen werden. Deswegen haben viele Angst, differenziertere Positionen zu artikulieren.

Hito Steyerl

In der Angst, es sich beim Publikum zu verscherzen, liegt vielleicht auch das Schweigen begründet, das bei öffentlichen Personen, besonders aus dem - doch auf Differenzierungsvermögen so viel Wert legenden Kunst- und Intellektuellenmilieu, konstatiert und beklagt wurde.