Dem Gedächtnis auf der Spur

Die Kunst zu lernen und das Gelernte im Gedächtnis zu behalten, ist an das limbische System gekoppelt

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Zwei Affen gehen seit über 18 Monaten "in die Schule." Ihre Lehrmeister bieten ihnen je Schultag 2-4 neue szenische Eindrücke im Wechsel zu bereits bekannten Bildkompositionen und prüfen auf Wiedererkennung. Da die "Schüler" nicht reden können, werden Augenbewegungen sowie die Zeit zum Überlegen und bis zur Reaktion ermittelt. Freude am Spiel und Belohnung gehören dazu, denn den beiden Affen sind Elektroden in den Hippocampus implantiert.

Der Arbeitsgruppe von Wendy A. Suzuki vom Center for Neural Science an der New York University geht es um die Dynamik von Nervenzellen. Ihr Bericht in Science will deren Geheimnis ergründen. Den Wissenschaftlern kommt zu Hilfe, dass der Hippocampus zwei Zelltypen besitzt, nämlich solche mit niedriger und andere mit hoher Aktivität (Spikes/s). Das Besondere der Untersuchung erwächst aus der 18monatigen Zeitreihenanalyse für insgesamt 145 Neuronen.

Erwartungsgemäß stimulieren Eindrücke die Reaktion der Neuronen. Bemerkenswert ist gleichwohl das differenzierte Verhalten beider Zelltypen. Lässt man die jeweilige Grundaktivität außer Acht, so bleiben bei bekannter Szenerie einige Neuronen unstimuliert. Andererseits erzeugen unbekannte Bilder bei anderen Zellen ein ganze Feuerwerk an Impulsen. Mit zunehmender Übung entwickelt sich eine sigmoidförmige Beziehung zwischen den Spikes und der Wiedererkennung. Komplexe Szenen hingegen, die von den Affen nicht gelernt und erinnert werden können, erregen die Nervenzellen beständig so als handele es sich um eine unbekannten Vorlage.

Der zeitliche Ablauf des Lernprogramms (Credit Science)

Dass Lernen etwas mit Lust und Unlust zu tun hat, wissen alle guten Lehrer. Naheliegend wäre, für die Motivation das limbische System anzusprechen und für das Lernen die Großhirnrinde, weil auch Charles Darwin behauptete, die Intelligenz von Menschen und Menschenaffen resultiere aus dem großen Kopf dank Hirnmasse. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe von Wendy A. Suzuki reihen sich allerdings ein in die Verwirrung der Hirnforscher, die durch die funktionelle Magnetresonanztomographie ausgelöst wurde: Vieles läuft subkortikal ab, also unterhalb der Großhirnrinde.

Die Hippocampusformation als Merk- und Erinnerungszentrum ist seit knapp 5 Jahren zum intensiven Forschungsobjekt geworden, nachdem bei Alzheimer-Patienten eine Verkümmerung beobachtet wurde. Hinzu gekommen sind Personen mit posttraumatischen Belastungen, etwa Vietnamveteranen und Soldaten aus dem ersten Golfkrieg. Allerdings sind die Ergebnisse noch keineswegs schlüssig. Zum einen, weil der "kleine" Hippocampus ohne vorangegangene Untersuchung nicht beweist, dass er anfänglich größer war. Zum anderen, weil der Morbus Alzheimer das Großhirn als ganzes erfasst. Und schließlich muss das große Hirn des Menschen etwas Besonderes sein. Beim Menschen entfällt 80 Prozent des Hirngewichtes auf die Großhirnrinde, beim Pferd 67 Prozent und beim Meerschweinchen 47 Prozent.

Der Hippocampus zeichnet sich durch große Pyramidenzellen und reichhaltige Verzweigungen aus (nach M.Clara)

Vor mehr als 50 Jahren warnte der Neuroanatom Max Clara davor, die Hippocampusformation als zweites oder erweitertes Riechsystem und damit primitives Organ misszuverstehen. Entwicklungsgeschichtlich und in der Struktur des neuronalen Netzwerkes, so war schon damals bekannt, nimmt das "Riechhirn" eine Sonderstellung ein. Während alle anderen Sinneseindrücke nur durch Vermittlung des Thalamus das Endhirn erreichen, werden die im Riechhirn entstehenden Erregungen dem Großhirn unmittelbar zugeleitet. Aus dieser Erkenntnis erwuchs die Bezeichnung "limbisches System" mit der Hippocampusformation, dem Corpus amygdaloideum, dem Gyrus limbicus sowie dem Habenularapparat, der die direkte Verbindung zum Mittelhirn sicherstellt.

Die Fehlfarbenmarkierung zeigt die unterschiedlich Belastung im Hippocampus beim Lernen und Erinnern (Funktionelle Magnetresonanztomographie, Michael M. Zeineh et al. Science 23.1.2003, Credit Science)

Aus dieser Sicht gleicht das limbische System einer Eingangspforte in ein unübersichtliches Netzwerk. Wenn alle Eindrücke eine oder, den Thalamus eingerechnet, zwei Pforten passieren müssen, ist die Aktivität hier ungleich quirliger als in den reich verzweigten höheren Etagen. Dafür sprechen Untersuchungen aus dem Brain mapping Center der UCLA vom Januar dieses Jahres, ebenfalls in Science vorgestellt. Mittels funktioneller Magnetresonanztomographie wurde der Blutfluss in der Hippocampusformation gemessen, während die menschlichen Probanden zu Gesichtern die Namen lernen mussten. Michael M. Zeineh beschrieb das Ergebnis mit den Worten: "Das Lernen ist ein dynamischer Vorgang. Die Gehirnaktivität nimmt zu, sobald neue Informationen ankommen, und verringert sich, nachdem sich die Informationen eingeprägt haben."

Das deckt sich mit den Ergebnissen von Wendy A. Suzuki und Mitarbeiter. Die Forscher mit dem Elektroden unmittelbar am Ort des Geschehens verfolgen mit ihren Untersuchungen ein weitaus ehrgeizigeres Projekt: "Wenn es gelingt, die Nervenzellen zu lokalisieren, die für das Lernen zuständig sind, werden wir beginnen, das Geflecht zu entwirren." Ziel ist das erneute Vermessen des Gehirns, um die bisherigen anatomischen Hirnkarten zu komplettieren: Funktionskreise und Speichermodule zusätzlich zu den Nervenbahnen.