Demokratie kann man nicht herbeibomben

Seite 3: Warum die Situation in Venezuela keine Frage von für oder wider Maduro ist

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die weit verbreitete These, wer gegen den "Reformer" Juan Guaidó ist, sei automatisch für den "Diktator" Nicolás Maduro, greift zu kurz, weil sie den Machtkampf aus seinem Kontext löst. Maduro ist in der Nachfolge von Hugo Chavez 2013 zum Präsidenten gewählt worden, als Usurpator müsste eher Juan Guaidó bezeichnet werden. Aber auch das wäre nur eine vereinfachte Darstellung. Es geht in Venezuela nämlich auch um einen politischen Richtungskampf zwischen links und rechts, zwischen staatlichem Interventionismus und neoliberaler Privatisierung, und nicht zuletzt um den geopolitischen Kampf der Großmächte um Bündnispartner, Finanzpolitik und Erdöl. Dass es Maduro auch um seinen Machterhalt geht, steht außer Zweifel. Den Konflikt darauf zu reduzieren, ginge jedoch an der Realität vorbei.

Im Raum steht gewissermaßen eine neokoloniale oder neoimperiale Agenda, eine Art Great Game 2.0, und in diesem "Spiel" stilisieren die Westmächte Juan Guaidó zum demokratischen Hoffnungsträger und Nicolás Maduro zum Diktator, ebenso wie Russland, China, Kuba, Nicaragua und andere Maduro propagandistisch zum demokratischen Präsidenten erheben und Guaidó zum Usurpator erklären. Jede Seite - innenpolitisch wie außenpolitisch - folgt hier ihrer propagandistischen Logik und stilisiert sich bzw. den eigenen Kandidaten zum Guten und den Gegner zum Bösewicht.

Die These, wer gegen Juan Guaidó ist, der sei für Nicolás Maduro, greift aber auch noch aus einem anderen Grund zu kurz. Damit wird suggeriert, Guaidós Kritiker favorisierten einen sozialistischen Autokraten und nähmen wirtschaftliches und soziales Elend von Millionen von Venezolanerinnen und Venezolanern in Kauf, nur, um ihre eigene Weltanschauung rechtzufertigen. Es ist die alte dichotomische Zuschreibung vom Entweder-Oder, das beliebte Spiel der Propaganda in Schwarz-Weiß.

Die Friedensforschung zeigt aber, dass es in jedem Konflikt immer auch Alternativen gibt, dass mindestens noch ein dritter Weg existiert, ein tertium datur. Im konkreten Fall bedeutet dies einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition, aber auch zwischen den Großmächten, so dass die Eskalation beendet werden kann und Venezuela mit ausländischer Hilfe Schritte aus der Wirtschaftskrise findet. Caracas braucht diplomatische Unterstützung, keine militärische Intervention, und es braucht einen friedlichen Kompromiss und kein "Maduro oder Guaidó".

Wie der Kampf zwischen Regierung und Opposition eskalierte

2013 wurde Nicolás Maduro zum Präsidenten gewählt, 2015 gewann dann die Opposition die Parlamentswahlen und erzielte eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Diese ging aber durch die Aufhebung der Wahl von vier Abgeordneten (drei davon Oppositionelle) durch den Obersten Gerichtshof wieder verloren. Das Parlament nahm dann den Machtkampf gegen Maduro trotzdem auf und erklärte ihn am 9. Januar 2017 unter Bezugnahme auf die Verfassung für abgesetzt. Begründet wurde dies damit, dass er sein Amt nicht ausführe. Am 29. März hob der nicht unparteiische Oberste Gerichtshof die Immunität aller Parlamentarier auf, machte dies drei Tage später unter internationalem Druck aber wieder rückgängig.

Im Mai 2017 wurde dann von der Regierung eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen, allerdings ohne vorheriges landesweites Referendum, was verfassungswidrig war. Bei den Wahlen zu dieser Versammlung Ende Juli gingen dann zwei Drittel an Gemeindevertreter, unabhängig von der Größe. Dadurch erhielten ländliche, chavistisch geprägte Gebiete überproportionalen Einfluss. Die Opposition sprach von Wahlbetrug.

Fakt ist, dass das ordentliche Parlament durch die neue Versammlung zwar nicht aufgelöst, aber doch seiner wesentlichen Kompetenzen beraubt worden war. 2018 fanden dann die letzten, willkürlich vorgezogenen Präsidentschaftswahlen statt, bei denen Maduro - wenig überraschend - als Sieger hervorging. Die größte Oppositionspartei boykottierte die Wahlen, so dass die ebenfalls stattgefundenen Wahlmanipulationen nicht einmal unbedingt entscheidend waren. Die Opposition begründete ihre Nicht-Beteiligung mit der fehlenden Legitimation der Verfassungsgebenden Versammlung, welche die Wahlen vorbereitet hatte. Das ist formal zutreffend, gleichzeitig erwies sich der Boykott - insbesondere im Ausland - als taktisch kluger Schachzug.

Geht man davon aus, dass die letzte Wahl eine Folge der nicht verfassungskonform einberufenen Verfassungsgebenden Versammlung ist, so ist Maduros Legitimation wacklig. Gleichzeitig kann aber Juan Guaidó ebensowenig eine ausreichende Legitimation für sich geltend machen, weil die Begründung, den Präsidenten wegen Amtsuntätigkeit zu ersetzen, schwierig zu beweisen ist.

Theoretisch ist die Herrschaftsrechtfertigung von Nicolás Maduro hier, so fragwürdig ihre Aufrechterhaltung erscheint, demokratisch immer noch besser abgesichert als jene von Guadió, auch wenn Maduro inzwischen viel von seinem einstigen Rückhalt in der Bevölkerung eingebüßt hat. Praktisch ist hier ein Machtkampf zu beobachten, bei dem beide Seiten mit schmutzigen Tricks arbeiten und die Wahrheit für sich beanspruchen.

Warum das Militär entscheidender ist als eine demokratische Legitimation

Das Militär spielt eine entscheidende Rolle, weil es die Macht de facto besitzt. Es entscheidet darüber, wer von den beiden Kontrahenten das Rennen macht, indem es entweder weiterhin Maduro stützt oder sich auf Guaidós Seite stellt. Problematisch ist, dass es in Venezuela nicht nur eine sehr hohe Anzahl an Generälen gibt, sondern dass diese mit ihrer jeweiligen Truppe meist auch ein bestimmtes Geschäft kontrollieren, z. B. Drogen, Schmuggel oder Gold.

Bewaffnete Guerillagruppen wie die marxistische kolumbianische ELN (Ejército de Liberación Nacional, dt. Nationale Befreiungsarmee), konservativ-reaktionäre Milizen aus dem kolumbianischen Bürgerkrieg, lokale Mafiagruppen, sie alle mischen in diesem Umfeld mit. Das macht die Situation so explosiv. Entscheidend für die politische Situation in Venezuela wird sein, dass die Armee geschlossen bleibt und entweder Maduro oder Guaidó stützt. Eine Aufspaltung würde unweigerlich zum Bürgerkrieg führen, ähnlich wie eine ausländische Militärintervention.