Demokratie unter Druck: Das Grundgesetz zwischen wirtschaftlichen Interessen und Machtspielen
Staatsgründung mit Disput zwischen Parteien und Alliierten. Lehren gezogen, Chancen vertan. Was das für heute bedeutet. (Teil 2 und Schluss)
Die SPD unter der energischen Führung Kurt Schumachers stand in der Tradition des deutschen Einheitsstaats, während die Mehrheit der CDU (und allemal der CSU) für eine deutliche Stärkung der Länder im Vergleich zur Weimarer Verfassung eintrat, was auch ein Anliegen der westalliierten Militärregierungen war.
Am Ende drohte Schumacher sogar mit Ablehnung des Grundgesetzes durch die Sozialdemokratie, wenn nicht die Finanzhoheit des Bundes gesichert würde, was dann geschah. Der am Ende moderate Föderalismus – verglichen mit der Schweiz oder den USA – schien hinnehmbar.
Ferner verzichtete die SPD darauf, wie es in etlichen Länderverfassungen ansatzweise geschehen war, einen Auftrag zur demokratisch-sozialistischen Gesellschaftsveränderung in das Grundgesetz zu schreiben, während die liberal-konservativen Parteien davon absahen, eine solche Möglichkeit im Grundgesetz auszuschließen.
Bis in die späten 1950er Jahre hofften die Sozialdemokraten, und das war damals keineswegs abwegig, auf kurzfristig veränderte Mehrheitsverhältnisse in gesamtdeutschen Wahlen mit dann neuer Verfassungsgebung und mit der Möglichkeit, ihr Programm unter diesen Umständen zu realisieren.
Nach wie vor ist übrigens das Grundgesetz in der Frage der Wirtschaftsverfassung nicht auf den Vorrang privatwirtschaftlicher Eigentumsformen festgelegt.
Zwischen dem grundsätzlichen Beschluss der angelsächsischen Siegermächte, die außer dem nachträglich zur vierten Sieger- und Besatzungsmacht erhobenen Frankreich auch die Benelux-Staaten hinzuzogen, einen trizonalen westdeutschen Staat zu schaffen (Londoner Konferenz Februar bis Juni 1948) und der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat lag gut ein Jahr.
In dieser Zeit spitzte sich nicht nur der Ost-West-Gegensatz zum Kalten Krieg zu – die Sowjetunion antwortete auf die separate Währungsreform in den Westzonen im Juni 1948 mit der Blockade der Westsektoren Berlins.
Zugleich verschoben sich die innenpolitischen Kräfteverhältnisse im Westen Deutschlands zugunsten der wirtschaftsliberalen und unternehmerischen Kräfte, offenkundig zutage tretend bei der Durchführung der Währungsreform, die die Sachwertbesitzer deutlich begünstigte; auch die Marshallplan-Hilfe der USA war ordnungspolitisch nicht indifferent (und schon gar nicht uneigennützig).
Der innerdeutsche Prozess der Hervorbringung des Grundgesetzes begann am 1. Juli 1948 mit der Entgegennahme von Richtlinien der drei westalliierten Militärgouverneure durch die Landesministerpräsidenten.
Über die Bildung eines aus Experten bestehenden Verfassungskonvents und die Wahl eines Parlamentarischen Rates durch die Landtage gemäß der jeweiligen Bevölkerungsanzahl – an die Spitze des Gremiums wurde der frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (CDU) gewählt, während den Hauptausschuss der Sozialdemokrat Carlo Schmid leiten würde – traten die deutschen Akteure ins Zentrum des Geschehens, ohne sich von den Vorgaben der Besatzungsmächte einfach lösen zu können.
Mehrfach stand das Zustandekommen des Grundgesetzes auf der Kippe, weil die Differenzen zwischen den Wünschen der Alliierten und denen der Deutschen unüberbrückbar schienen. Dabei ging es u.a. um die Einrichtung einer Internationalen Ruhrbehörde. Frankreichs Vorstellungen der Verfassungsgebung liefen eher auf einen lockeren Bund der westdeutschen Länder als auf einen funktionierenden Bundesstaat hinaus.
Das schien aber nicht nur den deutschen Beteiligten, sondern auch den USA und Großbritannien kontraproduktiv, die die Bedeutung Westdeutschlands für die wirtschaftliche Neuordnung und politische Formierung Westeuropas im Auge hatten.
Deutschland stand auch in den Westzonen weiterhin unter Besatzungsrecht; die Alliierten behielten sich das Recht vor, direkt zu intervenieren, falls ihre Ziele und Interessen gefährdet würden. Auch den deutschen Beteiligten schien es wichtig, dass durch ein westalliiertes Besatzungsstatut die Verteilung der Kompetenzen eindeutig erkennbar war.
Dieses alles in Rechnung gestellt, hat der Parlamentarische Rat mit der Arbeit am Grundgesetz eine sehr beachtliche – und man darf sagen: erfolgreiche – Verfassung hervorgebracht. Obwohl dieses nur durch die Kriegsniederlage NS-Deutschlands möglich war, wäre es verkehrt, das Grundgesetz als westalliiertes Oktroi oder Geschenk (je nach Blickwinkel) aufzufassen.
Es wurde in deutscher Verfassungstradition und in bewusster Auseinandersetzung mit den historischen Erfahrungen, hauptsächlich denen der Weimarer Republik, ausgearbeitet. Deshalb kann der heute vielfach angemahnte deutsche Verfassungspatriotismus auch nichts von territorialen, kulturellen und nationalen Bezügen Losgelöstes sein, wenn der Begriff nicht sinnlos werden soll.
Unter den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates waren etliche Juristen bzw. Staatsrechtler mit einer speziellen Kompetenz in Fragen des Verfassungsrechts.
Da der Altersdurchschnitt bei Mitte 50 lag, teilten die meisten von ihnen persönliche Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik und teilweise des späten Kaiserreichs, waren nicht nur vereinzelt schon vor 1933 Parlamentsabgeordnete auf Reichs- oder Länderebene bzw. waren anders politisch tätig gewesen. Nicht wenige waren im Widerstand oder im Exil gewesen, einige im Konzentrationslager.
Die negativen Bezugspunkte waren natürlich das Scheitern der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Terrorherrschaft. Wohl mit Blick darauf hat man die Grundrechte an die Spitze des Grundgesetzes gestellt und jene konkreter als früher ausgeführt. Sie sind von da an unmittelbar geltendes Recht und damit einklagbar.
Wichtig, aber eher von programmatischem Charakter, ist der Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar…" und "Das deutsche Volk bekennt sich … zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten".
Deutlicher als in der Weimarer Verfassung ist im Grundgesetz, wie erwähnt, die föderative Gliederung des Staates etabliert, ebenso der repräsentative Charakter der Demokratie, sprich: der bewusste Verzicht auf Volksentscheid und Volksbegehren auf Bundesebene.
Nur bei der Neubildung bzw. Neuordnung von Bundesländern, so praktiziert 1952 bei der Fusion von Nordwürttemberg-Nordbaden in der amerikanischen Besatzungszone mit den Ländern Württemberg-Hohenzollern und Südbaden in der französischen Zone und 1996 beim gescheiterten Zusammenschluss von Berlin und Brandenburg, kann das Wahlvolk direkt entscheiden.
Generell ist festzustellen, das der Föderalismus durch die Auflösung des übergroßen Landes Preußen 1947 einen ausgeglicheneren Charakter bekommen hat.
Zugleich hat sich die funktionale Trennung zwischen Bund und Ländern durch den im Lauf der Jahrzehnte immer deutlicher werdenden Vorrang der gesamtstaatlichen Gesetzgebung einerseits, die Mitwirkung der Länder daran über den Bundesrat andererseits als gewissermaßen hinkend erwiesen, weshalb zwischen 1991 und 2009 drei parlamentarische Föderalismus-Kommissionen eingerichtet worden sind.
Zusammen mit der Republik und dem Sozialstaat sowie – vorrangig – mit der Menschenwürde, dem Demokratieprinzip und der Rechtsstaatlichkeit gehört die Bundesstaatlichkeit zu der unveränderbaren, auch mit der für eine Neufassung einzelner Bestimmungen ansonsten erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Parlamentarier nicht zu verändernden Kernsubstanz der "freiheitlich demokratischen Grundordnung".
Das hat das Bundesverfassungsgericht, dessen starke Stellung als Schiedsrichter über die Auslegung der Verfassung und die Verfassungskonformität von Gesetzen ebenfalls eine Neuerung darstellt, in mehreren Urteilen über die Jahrzehnte festgelegt. Über die Rolle dieses obersten Gerichts lässt sich unter demokratietheoretischen wie -praktischen Gesichtspunkten durchaus diskutieren.
Neu und wichtig ist ferner die Benennung der unverzichtbaren Funktionen der politischen Parteien im Verfassungsgefüge. Umgekehrt unterwerfen Grundgesetz und dort vorgesehenes Parteiengesetz diese Akteure, also die Parteien, bestimmten Anforderungen, die nicht nur die Haltung zur "freiheitlich demokratischen Grundordnung" betreffen.
Vor allem dem Einsatz der einzigen sozialdemokratischen weiblichen Abgeordneten und deren Unterstützerinnen im Parteiapparat ist die Festschreibung der Gleichberechtigung der Geschlechter in Art. 3 zu verdanken; es sollte in Westdeutschland allerdings noch lange dauern, bis aus dieser programmatischen Aussage in verschiedenen Schritten praktische Realität wurde.
Was die Regierungsweise im engeren Sinn betrifft, so stehen zwei Veränderungen gegenüber der Weimarer Reichsverfassung im Mittelpunkt: Zunächst ist der nun nicht mehr volksgewählte Bundespräsident fast ausschließlich auf eine repräsentative Rolle beschränkt.
Und die dadurch schon gegebene Aufwertung der Position des Bundeskanzlers wird noch erheblich verstärkt durch dessen Wahl durch den Bundestag, die Richtlinienkompetenz im Kabinett und vor allem durch das nur konstruktiv, also nur durch Wahl einer anderen Person, mögliche Misstrauensvotum. Dieses ist erfolgreich nur einmal praktiziert worden: im Oktober 1982, beim Übergang der Kanzlerschaft Helmut Schmidts zu der Helmut Kohls durch Koalitionswechsel der FDP.
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Die Vorstellung, das Grundgesetz sei ein Ergebnis westalliierter Entscheidungen, ist insofern zutreffend, als insbesondere die USA spätestens seit Anfang 1948 den deutschen Weststaat wollten. Erarbeitet wurde dessen lange als provisorisch verstandene Verfassung in mehreren Stufen überparteilich von Deutschen in deutscher Verfassungstradition, in vielerlei Hinsicht insbesondere an die Weimarer Verfassung anknüpfend.
Dabei wurde, im Großen und Ganzen plausibel, versucht, einzelne Mängel des Werks der Weimarer Nationalversammlung von 1919 zu vermeiden. Der Rest liegt bei uns, dem Volk der Demokratie, dem Demos.
Dabei gilt es, nicht nur autoritäre, antipluralistische und regressive Auffassungen, wie sie vor allem Rechtsaußen zuhause sind, zurückzudrängen. Als schädlich erweist sich auch eine heute weit verbreitete Vorstellung von Freiheit, die fast ausschließlich auf die ungehinderte Entfaltung und Bewegungsfreiheit des Individuums gerichtet ist. Gerade die Demokratie braucht aber eine Grundeinstellung, die am Gemeinwohl orientiert ist.
Es ist offenkundig, dass das Zusammenleben in unserer Gesellschaft nicht allein durch die geschriebene Staatsverfassung bestimmt wird: Der seit viereinhalb Jahrzehnten, auch durch bewusste politische Entscheidungen, weltweit wieder entfesselte, finanzmarktgesteuerte Kapitalismus mit den typischen Merkmalen der Deregulierung, Haushaltskürzungen, Privatisierung des Öffentlichen und Steuersenkungen für die großen Unternehmen, hat nicht nur die soziale Polarisierung vorangetrieben.
Es hat in diesem Zusammenhang die geradezu obszöne Zusammenballung privaten Reichtums in der Hand der Superreichen ein demokratiegefährendes Ausmaß erreicht.
Die reichsten 45 Familien besitzen in unserem Land so viel die unteren 50 Prozent. Durch den immer mehr perfektionierten Lobbyismus, auch durch direkte und indirekte Korruption bedroht das Große Geld die wesentlichen Institutionen der parlamentarischen Demokratie.
Die im Grundgesetz ja aufgewerteten Parteien (wie auch andere große Verbände) haben aus sich selbst heraus seit jeher oligarchische Tendenzen entwickelt, die seit nun schon längerer Zeit mit Mitgliederschwund, Überalterung, Stärke- und Bedeutungsverlust einhergehen. Anders als in früheren Epochen ist der politische Protest, auch der soziale Protest, in Europa (und so auch in Deutschland) heute vorwiegend rechtspopulistisch konnotiert.
Den verbreiteten Unmut beantworten nicht wenige im Mitte-links- und im linken Spektrum mit moralisierenden Vorwürfen und mit obrigkeitlich-repressiven Phantasien, anstatt zunächst zu fragen, wo im Falschen der fehlgeleiteten Proteste etwas Richtiges (im Sinne von Beachtenswertes) verborgen ist. Die großen Demonstrationen gegen Rechtsaußen in letzter Zeit sind ein ermutigendes Zeichen.
Aber liegt nicht eine der wesentlichen Ursachen des übernationalen Rechtstrends bei den herrschenden Eliten (nicht nur den politischen) selbst, die kein überzeugendes und handhabbares Angebot für die Inangriffnahme der die Menschen bedrängenden Probleme unterbreiten?
Über die Hälfte der Deutschen meint, es ginge hierzulande eher ungerecht zu, und im Osten der Republik erlebt die Mehrheit die Bundesrepublik als Scheindemokratie, im Westen immerhin eine sehr große Minderheit. Dazu trägt zweifellos auch das immer noch erhebliche Demokratiedefizit der EU-Institutionen in ihrer Abgrenzung zu denen der Nationalstaaten bei. Das ließe sich bei entsprechendem politischen Willen ändern.
Auch mit den besten Institutionen und rechtlichen Regelungen, der klügsten Verfassung kann Demokratie nicht aus sich heraus funktionieren; darauf hat der kürzlich verstorbene Soziologe und Nestor der kritisch-politischen Erwachsenenbildung Oskar Negt hingewiesen1:
Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – nicht ein für allemal, so als könnte man sich einen gesicherten Regelbestand anlegen, der für ein ganzes Leben ausreicht, sondern immer wieder, in tagtäglicher Anstrengung und bis ins hohe Alter hinein.
Peter Brandt ist Historiker und war bis zu seinem Ruhestand Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er ist der älteste Sohn des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt. Der Vorliegende Beitrag erscheint in gedruckter Form auch in den perspektiven ds 1/2024 (Schüren-Verlag, Marburg).