Zur Wiedergeburt der Demokratie im Jahr 1949

Guter Text mit geschichtlichen Fallstricken: Das Grundgesetz. Bild: Mo Photography Berlin, Shutterstock.com

75 Jahre Grundgesetz: Warum das "GG" ein Legtimitätsproblem hat. Und woran die Weimarer Verfassung gescheitert ist. (Teil 1)

Am 23. Mai 2024 beging die Bundesrepublik Deutschland das 75. Jubiläum des Grundgesetzes und damit ihrer Staatsgründung. Aus der Szene der sog. Reichsbürger kann man hören, das Grundgesetz sei gar keine richtige Verfassung. Sofern das auf den Namen bezogen wird, ist es mindestens irreführend.

Peter Brandt ist Historiker und war bis zu seinem Ruhestand Professor für Neuere und Neueste Geschichte.

Die älteste gültige (wenn auch mehrfach ergänzte und geänderte) Verfassung Europas, die norwegische von 1814, heißt "Grunnloven" = Grundgesetz. Allerdings wurde in Westdeutschland 1948/49 der Ausdruck "Grundgesetz" bewusst gewählt, um etwas gegenüber einer Vollverfassung Niederrangigeres zu bezeichnen.

Sofern man bei unserem Grundgesetz darüber hinaus ein Legitimitätsproblem sehen könnte, liegt es an dessen Entstehungsgeschichte.

Verfassungen sind Grundordnungen des Staates, die im modernen Verständnis, also seit dem späteren 18. Jahrhundert, eine signifikante institutionelle Trennung zwischen der regierenden Exekutive, bis ins frühe 20. Jahrhundert überwiegend und teilweise bis heute in Europa mit monarchischer Spitze, und der gesetzgebenden (was dann auch das Haushaltsrecht betrifft) Legislative beinhaltet.

Die Funktionsweise des staatlich organisierten Gemeinwesens ist dabei fest und beständig an das geregelte Zusammenwirken von Regierung und Volksrepräsentation gebunden. Bei Letzterer spielte in den meisten Staaten lange eine aus privilegierten Gruppen zusammengesetzte Erste Kammer neben der eigentlichen Volkskammer, ihrerseits zunächst mit stark beschränktem Wahlrecht, eine wichtige Rolle.

Verfassungsstaaten entwickelten sich erst in einem längeren historischen Prozess und nicht ohne heftige gesellschaftlich-politische Auseinandersetzungen zu Demokratien, wobei die Parlamentarisierung der Regierungsweise, also die Abhängigkeit der Regierung von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, der Demokratisierung des Stimmrechts für Männer (das Frauenwahlrecht setzte sich erst im 20. Jahrhundert sukzessive durch) überwiegend vorausging, anders als in Deutschland, wo es umgekehrt war.

Hierzulande erfolgte die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts auf Reichsebene, nicht auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene, rund ein halbes Jahrhundert vor der Parlamentarisierung der Regierung, nämlich schon 1867/71.

Die Rolle der sozialistischen Arbeiterbewegung

Die wichtigste treibende Kraft in beiden Prozessen war in den Jahrzehnten um 1900 europaweit übrigens die sozialistische Arbeiterbewegung, die namentlich im Deutschen Kaiserreich für Demokratisierung im staatlichen wie gesellschaftlichen Bereich eintrat. In mehreren europäischen Staaten kämpfte die Arbeiterbewegung, auch in Massenstreiks, für die Erweiterung des Wahlrechts.

Dass das bundesdeutsche Grundgesetz nun 75 Jahre gilt und vermutlich noch Jahrzehnte weitergelten wird, ist – auch im internationalen Vergleich – bemerkenswert.

Von den beiden früheren gesamtdeutschen Verfassungen trat die Verfassung der Paulskirche, beschlossen am 28. März 1849, gar nicht erst in Kraft, und die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 fungierte, zuletzt mehr schlecht als recht, nur bis zum Winter 1932/33.

Pro forma wurde sie vom NS-Regime übrigens nie aufgehoben, aber schon im März 1933 durch ein Ermächtigungsgesetz, sprich: die Einführung einer Regierungsdiktatur, unwirksam gemacht.

Die deutsche Verfassungsgeschichte im modernen Sinn, also als Geschichte des Konstitutionalismus, beginnt, nach Vorläufern in der napoleonischen Zeit, mit den Konstitutionen verschiedener der nach 1815 beinahe selbstständigen deutschen Fürstentümer.

Die Verfassung des Großherzogtums Baden von 1818 galt als ein liberaler Pol, und der bedeutende Freiburger Professor und Parlamentarier Carl v. Rotteck formulierte gleichzeitig: "Ein Volk, das keine Verfassung hat, ist – im edlen Sinn des Wortes – gar kein Volk."

Die Verfassungsstaaten 1848/49

Erst im Zuge der Ereignisse von 1848/49 kam dann auch der, neben Österreich, mit Abstand größte deutsche Einzelstaat, das Königreich Preußen, zur Gruppe der Verfassungsstaaten, hinzu. Nach mehreren gegenreformerischen Änderungen bildete die preußische Verfassung innerhalb Deutschlands den konservativen Pol.

Da in diesen Jahrzehnten die Bewegung für politische Emanzipation, vor allem getragen vom Bildungsbürgertum, mehr und mehr auch von den breiten Bevölkerungsschichten, eng verknüpft war mit der Nationalbewegung, dem Bestreben, einen einheitlichen und im Innern freien deutschen Nationalstaat zu errichten, man sogar von einer annähernden Identität beider Bestrebungen sprechen kann, trat in der Revolution 1848, auch entstanden aus struktureller und konjunktureller Wirtschaftskrise im Übergang zum Kapitalismus und verschärfter Massenarmut, neben das Ziel der Liberalisierung der Verhältnisse sogleich das der Einigung Deutschlands.

Am 18. Mai 1848 kam in Frankfurt am Main erst mal eine nach einem annähernd allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht gewählte Deutsche Nationalversammlung zusammen. In den unterschiedlichen parlamentarischen Gruppen formierten sich Vorformen politischer Parteifraktionen; ebenso entstand an der gesellschaftlichen Basis ein ausgedehntes Publikationswesen und ein breites und differenziertes politisches Vereinswesen, mit der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung auch schon eine frühe sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Vereinigung. "Demokraten" nannten sich damals übrigens nur die relativ radikaleren, für uneingeschränkte Volkssouveränität eintretenden Gruppierungen.

Nach früherem US-amerikanischem und französischem Vorbild konzentrierte man sich 1848 in der Frankfurter Paulskirche zunächst auf die Erstellung eines umfassenden Grundrechte-Katalogs, über dessen Inhalt man sich vergleichsweise einig war. In diesen Monaten verschob sich in den großen Einzelstaaten Deutschlands aber schon das politisch-gesellschaftliche Kräfteverhältnis zugunsten gegenrevolutionärer Kräfte, die nicht nachhaltig entmachtet, sondern nur zwischenzeitlich geschwächt und gelähmt waren.

Frankfurter Nationalversammlung ohne Machtmittel

Die Frankfurter Nationalversammlung und ihre provisorische Reichsregierung hatten keine eigenen Machtmittel, und ihre gemäßigt-liberalen Fraktionen strebten eine "Vereinbarung", mit den monarchischen Einzelstaaten an, einseitige Maßnahmen kraft revolutionären Rechts lehnten sie ab.

Die schließlich im interfraktionellen Kompromiss verabschiedete "Verfassung des Deutschen Reiches" vom 28. März 1849 sollte einen Bundesstaat mit dem preußischen König als kaiserlichem Staatsoberhaupt verwirklichen; entstanden wäre eine im europäischen Vergleich ausgesprochen fortschrittliche konstitutionelle Monarchie mit dem wahrscheinlichen Machtschwergewicht im Parlament.

Als Friedrich Wilhelm IV. von Preußen es ablehnte, die Kaiserkrone aus der Hand der Volksvertreter entgegenzunehmen, war die Nationalversammlungsmehrheit am Ende ihres Lateins und gab auf. Preußische Truppen schlugen die zur Verteidigung der Reichsverfassung vor allem in Sachsen, in der Rheinpfalz und in Baden mit Waffengewalt sich erhebenden Republikaner und "Social-Demokraten" mit eigentlich weitergehenden Zielen blutig nieder.

Niederlage der Revolution uns der Frankfurter Verfassung

Trotz der vordergründigen Niederlage der Revolution samt der in Frankfurt beschlossenen Verfassung wurde in der Behördenorganisation, der Rechtspflege und der einzelstaatlichen Verfassungsentwicklung, der Judenemanzipation, der Vollendung der Agrarreformen und der Wirtschaftspolitik das Rad nicht einfach zurückgedreht.

Der von der Nationalversammlung 1848/49, also von den gewählten Vertretern der deutschen Gesamtnation, erhobene Anspruch auf Einheit in Freiheit ließ sich angesichts des gewaltigen Politisierungsschubs der Revolutionsmonate nicht mehr aus den Köpfen verbannen.

Und dass der als "Reichsgründer" von 1871 bezeichnete preußische Ministerpräsident seit 1862, Otto von Bismarck, mit der Einführung des demokratischen Wahlrechts von 1849 auf Reichsebene meinte, an die liberalen und demokratischen Bestrebungen in der Gesellschaft appellieren zu sollen, und dass das Kaiserreich von 1871 – bei allen obrigkeitsstaatlichen Einschränkungen – erstmals in der deutschen Geschichte einen nationalen Verfassungsstaat schuf, ist ohne die Ereignisse von 1848/49 schwer vorstellbar.

Die wirtschaftliche und wissenschaftliche Blütezeit Deutschlands

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit, da Deutschland zu einem wirtschaftlich und wissenschaftlich hochmodernen Industriegiganten und avancierten "Kulturstaat" heranwuchs. Es ist unter Historikern viel diskutiert worden, ob die staatliche Verfassung des Kaiserreichs ohne Kriegsniederlage und Novemberumsturz 1918 hätte demokratisch weiterentwickelt werden können.

Hier reicht es festzuhalten, dass zwar insbesondere ein Bedeutungszuwachs des Reichstags und der inzwischen fest etablierten Parteien nicht zu übersehen ist, ohne dass aber der Schritt zur parlamentarischen Regierungsweise erfolgte; das bewirkte – nach letzten Reformversuchen der Monarchie im Herbst 1918 angesichts der hoffnungslosen militärischen Lage – erst die Revolution 1918/19, die zuallererst ein Aufstand der Arbeiter und Soldaten gegen die Fortsetzung des offenkundig verlorenen Krieges war.

Es ist allgemein bekannt, dass die relative Einheit der mit der antimilitaristischen und auf Demokratisierung gerichteten Rebellion des November 1918 schon um die Jahreswende 1918/19 an internen Gegensätzen der Trägergruppen zerbrach.

Abrutschen in bürgerkriegsähnliche Zustände

Diese führten dann sogar zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, in denen direkt gegenrevolutionäre Kräfte wieder Einfluss gewinnen konnten.

Doch entsprechend dem schließlich gescheiterten Versuch von 1848/49 wählten die Deutschen im Januar 1919 eine verfassunggebende Nationalversammlung. Auch in Addition blieben die Mehrheitssozialdemokraten mit 37,9 Prozent der Stimmen und die wegen unterschiedlicher Haltungen zum Krieg seit 1917 verselbstständigten Unabhängigen Sozialdemokraten mit 7,6 Prozent der Stimmen trotz gegenüber der letzten vorausgegangenen Reichstagswahl beachtlicher Stimmengewinne unterhalb einer eigenen Mehrheit.

So bildete die SPD mit der katholischen Zentrumspartei und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei die sogenannte Weimarer Koalition; deren überragende Mehrheit ging allerdings schon bei der ersten regulären Reichstagswahl im Sommer 1920 verloren.

Hugo Preuß und die Weimarer Verfassung

Die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919, entworfen von dem linksliberalen Staatsrechtler Hugo Preuß, galt zu Recht als eine der fortschrittlichsten der damaligen Zeit, auch wenn große Teile der Arbeiterschaft weitergehende Ziele verfolgten.

Dabei sind neben der definitiven Abschaffung der Monarchie und der jetzt eindeutig parlamentsabhängigen Regierung das nun proportionale, auf Männer auch unter 25 Jahren und Frauen ausgedehnte Wahlrecht für alle staatlichen Vertretungskörperschaften, zudem die (wegen hoher Hürden in der Praxis weniger relevante) Möglichkeit direkter Volksgesetzgebung durch Plebiszit und auch die Stärkung der unitarischen Komponente im Staatsaufbau gegenüber der föderalen zu nennen.

Problematisch, wie sich dann vor allem in der Endphase der Republik zeigte, war die starke Stellung des volksgewählten Reichspräsidenten, der Teil der Exekutive war, mit seinem Notverordnungsrecht.

Der Grundrechtekatalog von 1919

Wie 1849 enthielt die Verfassung von 1919 einen umfangreichen Grundrechtekatalog, der – eher programmatisch – auch eine Reihe gemeinwohlorientierter und sozial akzentuierter Ziele republikanischer Gesellschaftspolitik beinhaltete.

Der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller vertrat einige Jahre später sogar die Auffassung, nicht ein Deut an diesem Verfassungstext müsste geändert werden, um über eine Parlamentsmehrheit eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einzuführen.

Die Historiker und die historisch arbeitenden Juristen sind heute ganz überwiegend überzeugt, dass die Weimarer Republik jedenfalls nicht an einer fehlerhaften Verfassung gescheitert sei und sie betonen stärker als vor Jahrzehnten, dass die Republik nicht von Anfang an zum Untergang verurteilt gewesen sei – trotz enormer Belastungen, angefangen mit einem tatsächlich diktierten, drückenden, inhaltlich über das ganze politische Spektrum abgelehnten Friedensvertrag und einer nicht erst in der weltweiten großen Krise ab Herbst 1929 schwierigen Wirtschaftslage.

Belastend war vor allem die gegenüber der demokratischen Verfassungsordnung skeptische bis klar ablehnende Haltung der Eliten in der Hochfinanz und in der (vor allem Schwer-)Industrie, dem Großgrundbesitz, dem Offizierskorps, der hohen Bürokratie, auch der beamteten (namentlich Gymnasial- und Hochschullehrer) und auch freiberuflichen Intelligenz.

Republik ohne Republikaner

Eine "Republik ohne Republikaner", wie man schon zeitgenössisch formulierte, war Deutschland 1919 bis 1932 nicht. Ereignisse wie der erfolgreiche Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 und die überparteilichen Massenproteste gegen die Ermordung von Matthias Erzberger und Walther Rathenau, bürgerlich-demokratischen Politikern, zeugen von einer aktiven Massenbasis der demokratischen Republik vor allem, aber nicht nur in den Anfangsjahren, wenngleich sich viele Republikaner auf dem linken Flügel die Republik anders wünschten als sie war.

Wir dürfen die Weimarer Republik nicht nur als Vorgeschichte des "Dritten Reiches" betrachten; sie ist ein wichtiger Teil der deutschen Verfassungs- und Demokratiegeschichte und gehört insofern auch zur demokratischen Vorgeschichte der Bundesrepublik.

Gespaltenen Linke und politischer Katholizismus

Es ist hier nicht der Ort, darzulegen, woran die Republik von Weimar letztlich zugrunde gegangen ist. Zum bereits Gesagten nur noch der Hinweis, dass zwei Wählerkategorien bis zum Schluss dem Werben der NSDAP gegenüber ziemlich unzugänglich blieben erstens die Anhänger der – untereinander verfeindeten – sozialistischen Arbeiterparteien SPD und KPD mit per Saldo 36 bis 37 Prozent der Stimmen bei Reichstagswahlen, allerdings bei einer seit 1930 anhaltenden Verschiebung nach links zu den Kommunisten (ohne dass diese auf Reichsebene jemals vor der SPD lagen).

Und zweitens der politische Katholizismus, also die Zentrumspartei und die Bayerische Volkspartei, mit zusammen etwa 15 Prozent, die sich spätestens seit 1930 aber deutlich von der Demokratie, wenngleich nicht vom Rechtsstaat, entfernten.

Die liberalen Parteien sind bis 1932 zugunsten der radikalfaschistischen Rechten hingegen regelrecht pulverisiert, die Rechtskonservativen stark reduziert worden. Und zusätzlich schöpfte die NSDAP stark aus der Mobilisierung bisheriger Nichtwähler.

Legitimitätsproblem des Grundgesetzes war Verfassern bewusst

Der eingangs gegebene Hinweis auf ein Legitimitätsproblem des Grundgesetzes, das von den Verfassungsvätern (samt einigen wenigen -müttern) auch empfunden wurde, bezieht sich auf sein Zustandekommen im Auftrag der westlichen Besatzungsmächte; diese sahen keine Möglichkeit einer die Sowjetzone einschließenden Lösung für Deutschland mehr und wollten sie auch nicht mehr sehen.

Das bedeutete, den ersten Schritt zur formellen Teilung Deutschlands zu machen. Und deshalb waren es vor allem die deutschen Politiker – und in erster Linie die sozialdemokratischen – die den provisorischen Charakter der westdeutschen Staatsgründung betonten und auch keine Nationalversammlung und keine Volksabstimmung über das Grundgesetz wünschten.

Die meisten der (in der Regel eher konservativen) deutschen Staatsrechtler vertreten heute die Meinung, dass dieser Entstehungsmangel des Grundgesetzes – weder über die Wahl einer speziellen verfassunggebenden Versammlung vorbereitet noch nachträglich durch Plebiszit bestätigt – über langjährigen Gebrauch, auch durch die 1955 noch begrenzte, aber 1990 dann komplette Erlangung der staatlichen Souveränität und durch die zunehmend breite Akzeptanz im Volk gewissermaßen geheilt worden sei.

Die gesamtdeutsche Dimension

Es ging bei den Grundgesetz-Diskussionen 1948/49 also nicht zuletzt auch um die gesamtdeutsche Dimension des Vorgangs durch Ausschluss der Ostzone, aber mit der Perspektive einer künftigen gemeinsamen Verfassungsgebung (Art. 146) bzw. der Möglichkeit des Beitritts weiterer deutscher Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23.

Die Gründungsverfassung der im Oktober 1949 proklamierten DDR war, enger als das Grundgesetz, an die Weimarer Verfassung angelehnt und im Wortlaut durchaus demokratisch – die diktatorische Praxis sah schon ganz anders aus.

Im Unterschied zum Grundgesetz galt die DDR-Verfassung von 1949 nicht geografisch begrenzt; laut ihrer Präambel hatte "das deutsche Volk" schlechthin sie sich gegeben.

Die deutsche Teilung

Hervorgegangen war sie aus der gesamtdeutsch gemeinten Volkskongress-Bewegung. In den 1950er- und abgeschwächt in den 60er-Jahren gab es also eine innerdeutsche Kontroverse, die sich auch in dem jeweiligen Verfassungstext niederschlug, darüber, welcher der beiden Staaten als deutscher Kernstaat in seiner Existenz die Interessen der ganzen deutschen Nation vertrat.

Erst um 1970 entdeckte die SED, dass es inzwischen zwei deutsche Nationen gäbe. Diese Doktrin antwortete auf die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Bonner Koalition, die mit ihrer Formel von zwei deutschen Staaten einer Nation an die frühere, in der zweiten DDR-Verfassung von 1968 noch einmal festgeschriebene Position der SED anzuknüpfen versuchte.

Die Verfassungsfrage als eine gemeindeutsche erhielt noch einmal praktische Relevanz, als 1989/90 der stürmische Wandel im ganzen Ostblock und namentlich die revolutionär-demokratische Volksbewegung im Osten Deutschlands zum Zusammenbruch der bestehenden Ordnung in der DDR führten und die Forderung nach einer schnellen und (vermeintlich) unkomplizierten Wiedervereinigung seit der Maueröffnung am 9. November 1989 immer lauter wurde.

Das Demokratieproblem nach 1990

Als die CDU-geführte Wahlallianz am 18. März 1990 die Wahlen in der DDR gewann, war die Grundentscheidung für die Beitrittslösung faktisch schon gefallen, wie sie dann im Einigungsvertrag geregelt wurde. Auch die in der Bundesrepublik-West bestimmenden Kräfte wollten keineswegs, dass die Grundfragen des staatlichen Zusammenlebens oder gar der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Ordnung Gegenstand einer breiten Debatte würden.

Ein seit Dezember 1989 vom Zentralen Runden Tisch, wo Vertreter der oppositionellen Bürgerrechtsgruppen und der etablierten Organisationen, namentlich der SED, zusammensaßen, erarbeiteter, gegenüber dem Grundgesetz gewissermaßen "linkerer" Verfassungsentwurf für die DDR, wurde von der neugewählten Volkskammer sogleich verworfen.

Er hätte bei weiterer Behandlung in einer gesamtdeutschen Verfassungsdebatte wohl irgendwie mitberücksichtigt werden müssen. Formal war die Beitrittslösung verfassungskonform; gemessen an den Beratungen und Beschlüssen von 1948/49 entsprach sie wohl nicht dem ursprünglichen "Geist" des Grundgesetzes.

Zurück zur Ausgangssituation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Der politische Neubau unter Kontrolle der Besatzungsmächte begann in den Gemeinden und Ländern, wo zunächst Verfassungen erarbeitet wurden, so z.B. schon 1946 im Land Hessen.

1946 in Hessen

Die Sozialdemokraten, diesbezüglich unterstützt von den noch nicht irrelevanten Kommunisten und anfangs im westdeutschen Durchschnitt etwa gleichstark wie die Christdemokraten, zunächst auch Teile der CDU, traten damals dafür ein, profunde antifaschistische und antikapitalistische Strukturreformen in die Länderverfassungen einzubringen: Einerseits wurde bis weit ins Bürgertum eine starke Verantwortung des Großkapitals für den Hitler-Faschismus gesehen; andererseits zweifelte man an der sozialen und ökonomischen Möglichkeit eines Wiederaufbaus unter den bestehenden Eigentumsverhältnissen.

Der spätere prosperierende und sozialstaatlich regulierte Kapitalismus mit seinem bislang ungeahnten Wohlstandszuwachs auch für die untere Hälfte der Bevölkerung lag noch außerhalb der Vorstellungskraft. Die in den ersten Jahren nach 1945 in westdeutschen Länderverfassungen verankerten Mitbestimmungs- und Sozialisierungsartikel, teilweise in Volksabstimmungen untermauert, wurden von der amerikanischen Militärregierung oder auf deren Veranlassung suspendiert und dann durch die überregionale Staatsbildung Westdeutschlands überholt.

Peter Brandt ist Historiker und war bis zu seinem Ruhestand Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er ist der älteste Sohn des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt.

Der Vorliegende Beitrag erscheint in gedruckter Form auch in den perspektiven ds 1/2024 (Schüren-Verlag, Marburg).