Demonstrativ zur Schau getragener Optimismus auf dem EU-Gipfel
Die Euro-Lok auf dem Weg zur Europa-Verfassung: Noch herrscht Uneinigkeit über das Ziel und viele Wegstrecken sind noch nicht gelegt
Es ist das Privileg von Politikern, auch und gerade dann Optimismus zu verbreiten, wenn die Verhältnisse bescheidenen oder gar keinen Anlass dazu bieten. So strahlten die Vertreter des EU-Gipfels in Thessaloniki beste Hoffnung aus, dass der von Giscard d'Estaing vorgelegte Verfassungsentwurf die Europäische Union zu einem politisch stärkeren Europa formen könnte.
In der offiziellen Schlussfolgerung heißt das: "Der Europäische Rat hat beschlossen, dass der Wortlaut des Entwurfs des Vertrags über die Verfassung eine gute Ausgangsbasis für den Beginn der Regierungskonferenz bildet."
Ob die gesamteuropäische "Basisarbeit" für die geplante Konferenz der Regierungschefs und Außenminister nun reicht, bis März nächsten Jahres die Schlussfassung für eine europäische Verfassung abzuliefern, bleibt abzuwarten. Kommt es dann im Mai nächsten Jahres in Rom zur Unterzeichnung der Mitgliedsstaaten? Außenminister Joschka Fischer, der Anwärter auf den neuen Posten eines europäischen Außenministers, erkennt jedenfalls eine "neue Dimension europäischer Politik". Doch auch die im Übrigen von den meisten Vertretern zur Schau gestellte Einigkeit reicht längst nicht aus, die Zweifel auszuräumen, dass die europäische Lokomotive noch den größeren Teil der Fahrtstrecke vor sich haben könnte (Europäischer Gleichgewichtssinn).
Viele Entscheidungen noch nicht getroffen
Die offiziellen Lokomotivfahrer sind sich aber selbst über das Ziel der Reise noch nicht im Klaren, weil einige Streckenabschnitte noch gar nicht gelegt sind. Denn hinter der harmonischen Gipfelmusik störten nicht nur die dissonanten Töne der Protestgruppen. Auch die Europa-Macher schwanken weiterhin zwischen föderalistischen und intergouvernementalen Konzepten, die den Mitgliedsstaaten weitgehend ihre Souveränität erhalten. Und schließlich geht es auch um den konkreten Einfluss auf dieses sich nach wie vor schwer zu definierende Machtgebilde Europa.
Österreich und Luxemburg hadern mit der Einrichtung eines ständigen Ratspräsidenten auf zweieinhalb Jahre, obwohl das verwaltungstechnisch gerade im Blick auf die Erweiterung der Gemeinschaft ein Gewinn wäre. Spanien und Polen sind insbesondere mit der neuen Stimmrechtsverteilung unzufrieden, die ihren Einfluss schwächen wird. Und in Großbritannien wird selbstverständlich mit nimmermüdem Elan die ewige Diskussion geführt, ob "Great Britain" seine Identität verliert, wenn zu viel Europa auf die Insel gelassen wird.
Der britische Außenminister Jack Straw beschwichtigt seine Landsleute: In Fragen der Verteidigung und Steuern werde man sich nicht an europäische Mehrheiten binden. Während britische Konservative in den geplanten Regelungen den Einbruch der Souveränität Großbritanniens erkennen, behauptet Straw, dass in vielerlei Hinsicht sogar die Rolle der Nationalstaaten gestärkt würde. Der Außenminister gibt sich gegenüber den Euroskeptikern europaoffensiv, redet diplomatisch von "positive patriotism", wohl nicht allzu weit von Habermas' blassem Euro-Verfassungspatriotismus entfernt (Europa: (ver)fassungslos? sowie Vision reloaded: Das spätaufgeklärte Europa der Philosophen).
Doch selbst Straw hat längst nicht die Zauber- und Beruhigungsformel für die Eurogegner im eigenen Lande gefunden, wenn er einerseits von Großbritanniens internationaler Rolle in militärischen Angelegenheiten spricht und andererseits mit fast klagendem Unterton in der Stimme über "a medium-sized country on the edge of continental Europe" reflektiert.
Knackpunkt Außen- und Steuerpolitik
Und selbst Schröder und Fischer, die Verfechter des europäischen Mehrheitsprinzips und Propagandisten einer "avantgardistischen" Lokomotive Kerneuropas, waren auch nicht ohne Vorbehalte gegen den neuen Leviathan europäischer Macht und Herrlichkeit angereist. Denn bei der Einwanderungs- und Asylpolitik will man nationale Vorgaben keineswegs der Majorität des Ministerrats unterwerfen. Immerhin wird das Prinzip qualifizierter Abstimmungen nach Darstellung von Giscard d'Estaing von 37 politischen Handlungsfeldern auf nunmehr 80 ausgedehnt. Der Abstimmungsmodus im Ministerrat, der politischen Machtzentrale der EU, sieht vor, dass künftig eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten notwendig ist, die zusammen drei Fünftel der EU-Bevölkerung ausmachen. Damit sollen die unproportionalen Regelungen des Nizza-Vertrags ab 1.November 2009 geändert werden, die etwa Spanien und Polen bislang üppige 27 Stimmen gegenüber den jeweils 29 Stimmen von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien einräumen.
In der Außen- und Steuerpolitik wird das Veto-Prinzip beibehalten, was EU-Kommissionspräsident Romano Prodi befürchten lässt, dass hier der Sperrriegel für eine starke europäische Union eingebaut sein könnte, wenn nächstes Jahr 25 Mitgliedsstaaten reichlich Gelegenheit zur Uneinigkeit finden könnten. Don Rumsfelds Schmährede über Alt- und Neueuropäer könnte dann das Leid-Motiv von schwer auflösbaren Machtbündnissen und Dauerstreitigkeiten innerhalb der EU vorgeben. Giscard d'Estaing hält dagegen Beschlüsse in der Außenpolitik mit einer qualifizierten Mehrheit für wenig praxisnah.
Doch hier liegt weiterhin die eigentliche Weichenstellung für ein politisch verfasstes Europa, wenn es dem amerikanischen Internationalismus erfolgreich Paroli bieten will. So mag sich also das Desaster einer Uneinigkeit in wesentlichen Fragen des globalen Engagements der EU, das kaum unabhängig von Amerikas schneidigen Vorgaben sein wird, auch in Zukunft wiederholen. Die Machtoption, in Zukunft auf dem Globus eine größere und gar eigenständige Rolle zu spielen (Die Festung EU will auch militärisch globaler Akteur werden), die Interessen Europas zu vertreten, könnte damit weiterhin Wunschdenken bleiben. Javier Solanas Vorschlag einer globalen Sicherheitsstrategie, die sowohl mit der UNO wie auch Washingtons nimmermüdem Zivilisationsrettungsauftrag kollidieren könnte, ist ohne Straffung der Entscheidungsstrukturen überhaupt nicht denkbar - so wenig die Frage damit beantwortet ist, ob nicht dann die Hysterie der Hexenjäger des Terrorismus in noch größerem Ausmaß als bisher die wirklich wichtigen Aufgaben Europas, insbesondere auf den Gebieten der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes, beeinträchtigen könnte.
Immerhin ein positives Zeichen ist die - allerdings noch erheblich entwicklungsfähige - Verankerung eines plebiszitären Moments im Verfassungsentwurf. Wenn mindestens eine Million EU-Bürger aus verschiedenen Staaten eine Petition einbringen, kann die EU-Kommission aufgefordert werden, legislativ tätig zu werden. Doch wenn die Europäische Union den Bürgern tatsächlich "näher" gebracht werden soll - wie es die Schlusserklärung verheißt - wird auch die Frage nicht dauerhaft zu verdrängen sein, wie ein zukünftiges europäisches Parlament aussehen könnte, das diesen Namen verdient.
In der harmonisierenden Schlusserklärung wird nun auf die Notwendigkeit "rein technischer Arbeiten" hingewiesen, die die Regierungskonferenz noch richten soll. Doch die Frage bleibt mehr als spannend, ob es sich bei diesen Arbeiten nicht de facto und de iure um die eigentlichen Entscheidungen über das Betriebssystem der Euro-Lok handeln könnte, die noch so manche Zwischenaufenthalte einlegen könnte, wenn ihr nicht unterwegs sogar die Kohle ausgehen sollte.