Demontage von Egon Bahr: Warum wir diese emotionale Mobilmachung ablehnen

Egon Bahr, 2010, Buchmesse Frankfurt. Bild: Markus Wissmann, Shutterstock.com

Bahrs Entspannungspolitik war richtig. Die Kritik an ihr basiert auf historischen Kapriolen und Fehldarstellungen. Eine Replik auf Heinrich August Winkler und Gerhard Baum.

Am 15. Juli 1963 hielt Egon Bahr, damals West-Berliner Senatspressesprecher, in der Evangelischen Akademie Tutzing eine Rede, in der die dortigen Ausführungen des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt zugespitzt wurden. Mit der Formel "Wandel durch Annäherung" ist sie zu Recht als programmatische Einleitung einer spezifischen deutschen "Neuen Ost- und Deutschlandpolitik" verstanden worden, angelegt als Teilelement einer neuartigen Entspannungspolitik der westlichen Allianz.

Vorbild John F. Kennedy

Diese war von John F. Kennedy in seiner Washingtoner Rede vom 10. Juni 1963 "A Strategy of Peace" angekündigt worden.

Der bekannte Historiker Heinrich August Winkler hat als politischer Publizist bereits in einem FAZ-Beitrag vom 10.7.2023 unter dem Titel "Der Tabubruch von Tutzing" eine neue Diskussion um Egon Bahr, der am 19. August 2015 verstorben war, initiieren wollen.

Winklers Polemik: Ostpolitik als Ursprung heutiger Krisen?

Winkler gilt zu Recht als bedeutender Historiker, agiert hier aber als politischer Publizist und das nicht ohne Polemik. Es geht ihm um vermeintliche Fehlentwicklungen der bundesdeutschen Russlandpolitik, die vorwiegend der Sozialdemokratie anzulasten seien. Jene haben in den Augen Winklers offenbar den bewaffneten Angriff der heutigen russischen Führung auf die Ukraine begünstigt.

Bahr vs. Merkel: Verantwortung für außenpolitische Krise

Dass zuvor Angela Merkel 16 Jahre das Kanzler-Amt innehatte – den größten Teil dieser Zeit im Bündnis mit der SPD – weist darauf hin, dass alle politischen und gesellschaftlichen Akteure Anlass hätten, ihre außenpolitische Rolle in der jüngeren Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber anders als Winkler und andere suggerieren, liegen die Ergebnisse einer solchen selbstkritischen Rückschau keineswegs auf der Hand.

Bahrs Wirken findet viel Anerkennung

Jedenfalls hat Egon Bahr anlässlich seines 100. Geburtstags noch einmal parteiübergreifend von herausragenden Politikern und Wissenschaftlern verschiedener Ausrichtung für sein Wirken große Anerkennung erhalten, so u. a. von Bundeskanzler Scholz, Bundespräsident Steinmeier und, zum wiederholten Male, von Henry Kissinger, nachzulesen in dem Buch "… aber eine Chance haben wir" (Dietz-Verlag, Bonn 2023).

Dort finden sich auch Beiträge von Edmund Stoiber, Antje Vollmer, Theo Sommer sowie ausländischen ehemaligen Politikern und Diplomaten aus Frankreich sowie Großbritannien.

Ostpolitik unter Beschuss: Bahrs Erbe in Gefahr?

Bahr hat wie andere "Elder Statesmen" vor einem neuen Ost-West-Konflikt gewarnt, die in mehreren Schritten erfolgte Nato-Osterweiterung problematisiert und lange auf die Defizite der europäischen Sicherheitsarchitektur hingewiesen.

Wenn man in der heutigen Situation aber Lösungen und ein Ende für diesen Zivilisationsbruch des Angriffskriegs Russland auf die souveräne Ukraine in Europa finden möchte, ist es nicht dienlich, sich lediglich einzelne Personen und Vorschläge zu bestimmten Zeiten herauszugreifen, anstatt eine ehrliche Gesamtanalyse vorzulegen.

Bahrs Einfluss auf die Entspannungspolitik

Winkler unterscheidet, durchaus üblich, eine erste Phase operativer "neuer Ost und Deutschlandpolitik" in den 1970er-Jahren, vorgedacht und vorbereitet in den 1960er-Jahren, von der "zweiten Phase" zwischen der Nachrüstungsdebatte und dem Ende der Regierung Schmidt sowie dem Umbruch im Osten 1989/90. Er verweist auf die enge Abstimmung bezüglich der Ostpolitik zwischen Bundeskanzler Brandt und Außenminister Scheel und später auch von Helmut Schmidt, an der auch Bahr wesentlichen Anteil hatte.

Deutsche Einheit stets im Visier

Kern dieser Entspannungspolitik war es stets, Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands zu erzielen und die Bedingungen für die deutsche Einheit zu verbessern. Horst Teltschik, Sicherheitsberater von Helmut Kohl, hat dies in seinem Beitrag im o.g. Buch unterstrichen und auf die parteiübergreifende Politik der Bundesrepublik im letzten Jahrhundert verwiesen. Henry Kissinger kommentierte:

Egons Beitrag zur Staatskunst war es, eine Vision für die Zukunft zu haben und die Willensstärke, einen harten und schwierigen Weg weiterzugehen.

Er konstatiert Bahrs Verhandlungsgeschick, konzeptionelle Fähigkeiten und große politische Erfolge (Verträge von Warschau, Moskau 1970 und der Grundlagenvertrag 1973), später bestätigt er, die sozialliberale Koalition habe viel erreicht.

Diese Phase der Entspannungspolitik ist historisch abgeschlossen und eine wesentliche Voraussetzung für die revolutionären Entwicklungen in den 1980/90er-Jahren Jahren. Egon Bahr hat sich selbstkritisch zur "Entspannungspolitik von oben" versus "von unten" geäußert und die Bedeutung der Bürgerrechtsbewegungen gewürdigt.

Ostpolitik-Reboot: Zurück zur friedlichen Verständigung?

Motiviert ist Winklers Beitrag insbesondere durch Reden, Artikel und offene Briefe, in denen deutsche Politiker, Künstler und Intellektuelle die Bundesregierung auffordern, zur bewährten Politik der friedlichen Verständigung mit Russland zurückzukehren, wie sie unter Brandt und Bahr betrieben worden seien. Zweifellos sind historische Situationen nicht einfach auf heute übertragbar. Sie müssen nüchtern und unter den veränderten Umständen gesehen werden.

In der Einleitung zu dem o.g. Buch schrieben wir:

Ein vom Zeitkontext abstrahierender, oberflächlicher (überdies häufig einseitiger) Moralismus erklärt indessen nichts, hindert vielmehr an einer nüchternen Einschätzung dessen, was ist, als Grundvoraussetzung reflektierten politischen Handelns.