Ukraine-Politik der SPD: Historiker gegen Scholz, Parteispitze gegen Historiker

Geschlossene Meinungsfront: Winkler, Özdemir. Bild: Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0

Geschichtsforscher wenden sich gegen Linie des Kanzlers. Dabei geht es auch um die historische Ostpolitik. Kommt es zur Zeitenwende in der SPD?

Die jüngste Ukraine-Politik der SPD steht im Mittelpunkt eines Brandbriefes von Historikern an die Parteispitze. Angeführt von dem renommierten Geschichtswissenschaftler Heinrich August Winkler richten fünf sozialdemokratische Professorinnen und Professoren deutliche Worte an den Parteivorstand und indirekt auch an den Bundeskanzler – und diese Worte sind alles andere als positiv.

Erfahren Sie mehr über den Brief und den Kontext:

Winklers Linie nicht neu

Für Winkler ist es nicht der erste Versuch, eine Debatte über die Ostpolitik der SPD anzustoßen, er versucht es seit Jahren. Bereits Mitte Juli 2023 hatte er in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung den wenige Jahre zuvor verstorbenen Egon Bahr massiv angegriffen.

Befürworter der Ostpolitik der SPD warfen ihm daraufhin vor, die Ebene der Wissenschaft verlassen zu haben und als politischer Polizist mit einer gewissen Aggressivität vorzugehen, die seiner publizistischen Tätigkeit durchaus nicht abträglich ist.

Der jüngste Vorstoß war für Winkler und die vier Mitunterzeichner von Erfolg gekrönt: Der Brief fand ein großes Echo in der überregionalen Presse und wird sogar im Ausland wahrgenommen.

Kritik und Zeitgeist

Er kommt zu einer Zeit, in der führende Nato-Vertreter einen Krieg mit Russland öffentlich nicht mehr ausschließen und der Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes Kritik am Ukraine-Kurs westlicher Staaten pauschal dem Vorwurf russischer Propaganda aussetzt.

In dem zweiseitigen Brief, den Telepolis parallel zu diesem Artikel dokumentiert, wird die Kommunikation des Bundeskanzlers und der SPD-Führung zu Waffenlieferungen an die Ukraine scharf kritisiert. Die Historiker bemängeln die aus ihrer Sicht bestehenden Inkonsistenzen, Willkürlichkeiten und sachlichen Fehler in den Argumenten und Begründungen der Parteispitze.

Schwächung deutscher Sicherheitspolitik?

Besonders hervorgehoben wird die vermeintliche Schwächung der deutschen Sicherheitspolitik und die vermeintliche Stärkung Russlands durch das Ziehen roter Linien ausschließlich für die deutsche Politik.

Heinrich August Winkler, seit 60 Jahren Mitglied der SPD, hatte bereits 2016 vor den territorialen Ambitionen Wladimir Putins gewarnt. Gemeinsam mit den anderen Historikern betont er, wie wichtig klare Linien und gemeinsames Handeln der westlichen Verbündeten sind, um Putin nicht zu ermutigen.

Debatte innerhalb der Sozialdemokratie

Der Brief reagiert auch auf die Diskussionen in der SPD über die Russlandpolitik. Die Historiker kritisieren die mangelnde Aufarbeitung von Fehlern in der Vergangenheit und das unkritische Festhalten an traditionellen Ansätzen, was die Partei unglaubwürdig und angreifbar mache.

Die deutliche Stellungnahme der renommierten Historiker hat die SPD überrascht. Nach Ostern ist ein gemeinsames Gespräch zwischen Parteimitgliedern und Historikern geplant.

Bundeskanzler Scholz hält trotz der öffentlichen Debatte und der Kritik von Experten an seiner Position fest und bezeichnete die Diskussionen als "lächerlich" und "peinlich". Die Zukunft der SPD-Ukraine-Politik bleibt ein kontrovers diskutiertes Thema.

Uneinigkeit in der Parteispitze

Zuletzt hatte die SPD-Spitze immer wieder mit Äußerungen zur Ukraine-Politik für Diskussionen gesorgt. Scholz stieß bei den Koalitionspartnern Grüne und FDP auf Kritik, als er sich gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine aussprach.

Zudem sorgte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mit dem Vorschlag für Aufsehen, den Krieg in der Ukraine "einzufrieren", um Verhandlungen zu ermöglichen. Diesem Vorschlag erteilte SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius eine klare Absage. Die Rede selbst wurde im Bundestag von einer erkennbaren Mehrheit der SPD-Fraktion mit Beifall bedacht.

Parteiinterne Kritik und Ruf nach Klarheit

Der SPD-Verteidigungspolitiker Andreas Schwarz sieht trotz der Kritik keinen Riss in seiner Partei. Unterschiedliche Meinungen zu einem komplexen Thema wie der Ukraine-Politik müssten in einer Demokratie und innerhalb einer Partei toleriert werden.

Allerdings räumt er ein, dass die Partei in einigen Punkten vielleicht zu gutgläubig gewesen sei und Deutschland in seine neue Führungsrolle noch hineinwachsen müsse.

Warnung vor Ermutigung Putins

Die Wissenschaftler warnen in ihrem Brandbrief davor, dass die Uneinigkeit in der SPD von Russlands Präsident Wladimir Putin als Ermutigung verstanden werden könnte. Schwarz stimmt dem zu und betont die Notwendigkeit einer geschlossenen Kommunikation gegenüber Russland.

Kritik an fehlender Aufarbeitung der Russlandpolitik

Die Wissenschaftler kritisieren in ihrem Brief auch, dass in der SPD eine ehrliche Aufarbeitung der Versäumnisse in der Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte fehle. Sie werfen der Partei vor, die Verstrickungen eigener Mitglieder mit Interessenvertretern Russlands und die fehlgeleitete Energiepolitik, die Deutschland in die Abhängigkeit von Moskau geführt habe, nicht ernsthaft problematisiert zu haben.

Umgang mit Expertise

Schließlich kritisiert die Gruppe den Umgang der SPD mit sicherheitspolitischen Experten und Wissenschaftlern, die sich auf Osteuropa oder das Völkerrecht spezialisiert haben.

Der Bundeskanzler und viele SPD-Spitzenpolitiker würden deren wertvolles Wissen ignorieren, statt es für ihre Entscheidungsfindung zu nutzen. Sie werfen der SPD vor, sich unglaubwürdig zu machen und einer gefährlichen Desinformationskultur den Boden zu bereiten.

Damit verschärft sich auch innerhalb der SPD der Ton über den richtigen Umgang mit Russland. Zuletzt hatte der Grünen-Bundesminister Cem Özdemir in ähnlichem Duktus dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeworfen, mit seinem Widerstand gegen die zollfreie Einfuhr ukrainischer Agrarprodukte in die EU Putins Propagandaarbeit zu betreiben.