Demontage von Egon Bahr: Warum wir diese emotionale Mobilmachung ablehnen
Seite 2: Geschichtspolitische Debatte: Wie gerecht ist die Kritik an Egon Bahr?
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Posthum Egon Bahrs Denken verantwortlich zu machen für die heutigen Probleme, ist eine revidierende, einseitige Geschichtspolitik, die wir ablehnen.
Genügend mit der ersten Ostpolitik vertraut (siehe sein Werk: Die Geschichte des Westens, München 2014) verweist Winkler nun auf die "zweite Phase der sozialdemokratischen Entspannungspolitik", in der er "eine nationale Verengung" konstatiert. Es wird daraus folgend die These abgeleitet, ein Friede sei angestrebt gewesen, den es durch eine systematische, wechselseitig kontrollierte Abrüstung in Ost und West zu sichern galt.
Daran ist weder etwas "deutsch-national", wie Winkler Bahr vorwirft, noch ist es ein Irrweg, wie die erfolgreiche Rüstungskontrollagenda von 1991 bis 2003 zeigt. Der folgende Niedergang der Rüstungskontrolle, spätestens ab 2013, beginnt auch mit der Unfähigkeit des Westens, eine funktionierende Russland- und Rüstungskontrollpolitik zu betreiben und stattdessen auf Nato-Erweiterung zu setzen.
Rüstungskontroll-Debatte: Bahrs Weitblick
Nicht Russland allein hat die Rüstungskontrollarchitektur demontiert, sondern dies geschah mit westlicher tätiger Mithilfe, insbesondere durch die US-Präsidenten G. W. Bush und D. Trump (Kündigung des ABM- und des INF-Vertrages 2002 und 2019).
Winklers Einschätzung von heute basiert auf einem wahrhaft selektiv-kühnen Sprung von fünfzig Jahren und sie kulminiert in der Hypothese:
Das Russland Putins hingegen ist eine revisionistische Macht, die vor Krieg nicht zurückschreckt, um so viel wie möglich vom Territorium der 1991 aufgelösten Sowjetunion zurückzugewinnen und von ihrem Einflussbereich wiederherzustellen.
Außer der unverkennbaren Tatsache der völkerrechtswidrigen Invasion Putins liefert Winklers Beitrag keine neuen Argumente oder Einsichten dazu. Eine abgewogene Analyse der Ereignisse und Akteure der letzten zehn Jahre, so wie man es von einem politischen Historiker verlangen müsste, wird nicht versucht. Auch eine Suche nach Fehlern der deutschen, europäischen und der Nato-Politik seit 2003 bleibt aus. Stattdessen wird Bahr vorgeworfen, dass er in national-staatlichen Dimensionen gedacht habe.
Russland: Wandel durch Annäherung gescheitert
Winkler wiederholt seine öfter vorgetragene Hypothese, die SPD habe in der zweiten Phase der Entspannungspolitik die zivilgesellschaftlichen Dissidentenbewegungen im östlichen Mitteleuropa weitgehend ignoriert und in "rechter Tradition" Sonderbeziehungen nur zu Regierungen aufgebaut.
In der Tat haben verschiedene Bundesregierungen parteiübergreifend versucht, durch verstärkte Zusammenarbeit auch einen innergesellschaftlichen Wandel in Russland herbeizuführen, wie andere Regierungen auch. Dies ist letztlich misslungen.
Winkler wirft Bahr vor, Valentin Falin in Moskau eindringlich vor sowjetischen Zugeständnissen in der Bündnisfrage gewarnt zu haben, insbesondere "Versicherungen des Westens, er werde sowjetischen Interessen Rechnung tragen, hätten nach der Unterzeichnung der entsprechenden Dokumente nur wenig Wert".
Dies interpretiert Winkler sogleich als "Gegenaußenpolitik". Hatte es nicht ähnliche Warnungen von George Kennan und Henry Kissinger gegeben und sind diese nicht durch die weiteren Entwicklungen bestätigt worden?
Warum fokussiert Winkler nur die SPD?
Winkler fordert nur die SPD-Führung auf, sich "endlich kritisch mit der zweiten Phase ihrer Ostpolitik" auseinanderzusetzen. Wieso nur die SPD und wo sind die Ansätze der anderen für Außenpolitik verantwortlichen Parteien und Sicherheitsberater?
Bahr, der seit 1976 keine Regierungsverantwortung mehr trug und als "Vordenker" sowie "Strategie- und Abrüstungsexperte" in den darauffolgenden Jahren viele Beiträge, seine Memoiren und Konzeptvorschläge vorgelegt hat, wird am Ende des Aufsatzes mit Verweis auf Veröffentlichungen (Interview in der Jungen Freiheit) in die rechte Ecke geschoben, noch schlimmer mit sogenannten Querdenkern in Verbindung gebracht; ihm werden "gravierende Fehleinschätzungen" und "Verirrungen" vorgeworfen.
Winklers dubioser Ratschlag
Winkler schließt mit dem dubiosen Ratschlag: "Von dem Dialektiker Egon Bahr lässt sich heute noch einiges lernen. Aber nur dann, wenn man ihn nicht undialektisch verklärt, sondern auch seine Verirrungen zur Kenntnis nimmt."
Der verdiente FDP-Politiker und Ex-Innenminister Gerhart Baum nutzt Winklers Aufsatz in einem FAZ-Leserbrief vom 17.7. 2023 für eine eigene Abrechnung mit Egon Bahr und dankt Winkler, er habe "die Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen von Egon Bahr in den verschiedenen Phasen der Ostpolitik noch einmal in aller Deutlichkeit sichtbar gemacht".
Gerhart Baums Gedächtnislücken
Nun wird alles in einen Topf geworfen, aus "Fehleinschätzungen" werden nun "Fehlentscheidungen". Der Titel des Beitrags "Ohne Scheel kein Kanzler Brandt" ist zutreffend, ebenso wie die Aussage "Bahr hat am Anfang eine kluge Strategie" entwickelt.
Schon ab hier aber verlässt Baum sein Gedächtnis: Am Anfang entwickelt? Bahr hat auch mit der Unterstützung des damaligen Außenministers Scheel entscheidende Verträge (Moskau, Warschau, Grundlagenvertrag) persönlich ausgehandelt.
Verhandlungen mit Moskau: Aktenlage lässt kaum Zweifel
Die zähen Verhandlungen mit Gromyko und Kossygin sind in Bahrs Memoiren detailliert geschildert und von Historikern (Vogtmeier, Niedhart etc.) ist die Aktenlage gut aufgearbeitet worden. Baum wirft Bahr seine zögernde bis ablehnende Haltung zu dem den Verträgen beigegebenen "Brief zur Deutschen Einheit" vor.
Mehr als kurios, denn Bahr hatte zusammen mit Falin ebendiesen Brief selbst entworfen. Offensichtlich verkehren sich bei Baum die Fakten, um ein Versagen Bahr’schen Denkens konstatieren zu können.
Unbelegte Vorwürfe von Gerhart Baum
Von Baum gerne aufgenommen wird ebenfalls die These von der "Missachtung der Freiheitsbewegungen in Osteuropa", auch Helmut Schmidt wird dafür verantwortlich gemacht. Jeder aufmerksame Zeitzeuge weiß aber, dass es auch auf der Regierungsebene ein Eintreten für Oppositionelle gegeben hat, nur eben nicht öffentlich anklagend. Baum war im übrigen Innenminister unter Helmut Schmidt.
Unbelegt ist Baums Vorwurf, Bahr habe bei der Helsinki-Konferenz 1975 Breschnews Forderung nachgeben wollen, die innerdeutsche Grenze als endgültig anzuerkennen. Baums Vorwürfe gehen ins Leere, denn Bahr war zu der Zeit der Helsinki-Konferenz 1975 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Bahr gegen nukleare Nachrüstung
Auch Baums Erinnerung, mit seiner späteren Kritik am Nato-Doppelbeschluss sei Bahr der sozialliberalen Koalition "in den Rücken gefallen", ist unzutreffend. Bahr hatte zuvor versucht, Lösungen für die angekündigte Mittelstreckenstationierung zu finden und sich erst 1982 aufgrund der zunehmenden Bedrohung durch die Neustationierung gegen die nukleare Nachrüstung ausgesprochen.
Zu allem Überfluss wird Baums Meinung zur Deutschen Einheit für Bahr als nachrangig eingestuft und ihm unterstellt, er habe auch noch den zentralen "Zwei-plus-Vier-Vertrag" zu verhindern versucht, Behauptungen, die Baum in keiner Weise belegt.
Übertreibungen und Fehlinterpretationen in der FAZ
Bei Winkler ist Bahr "deutsch-national", bei Baum "nachrangig national". Gehört es zum liberalen Denken, damalige alternative Positionen von Bahr, nämlich Vorschläge zur Auflösung der Blöcke zu machen, als Intrige darzustellen? Übertreibungen und Fehlinterpretationen dominieren diesen Leserbrief.
Nochmals: Bahr hat den "Brief zur deutschen Einheit" selbst initiiert, und jeder, der Bahrs konzeptionelle Arbeiten und Reden gelesen hat, weiß, dass die Deutsche Einheit stets zentrales Element seines Denkens war.
Kissingers Trauerrede für Bahr
Kissinger hat dies in seiner Trauerrede 2015 unterstrichen. Baum findet, dass es gut war, dass Bahr für den zweiten Teil der Ostpolitik keine Rolle mehr gespielt hat. Unverständlich, denn das gute Verhältnis von Bahr/Brandt zu Gorbatschow ist verbürgt.
Und sein Konzept zur "kooperativen Sicherheit" hatte für die folgenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge und die Gründung der KSZE/OSZE große Bedeutung. Baum kommt zu dem Ergebnis, die FDP sei die einzige Partei, die in diesem Prozess ihre Meinung nicht geändert habe.
Und was ist mit den Christdemokraten und der FDP?
Den Christdemokraten empfiehlt er jedenfalls nicht, ihre Russlandpolitik aufzuarbeiten. Und die FDP? Gab es keine Außenminister Möllemann, Kinkel oder Westerwelle und den Versuch des Ausgleichs mit Russland?
Wie soll man die Rolle von Genscher et al. bei den Zerfallskriegen um Jugoslawien einschätzen? War die Devise "Wandel durch Handel", die insbesondere die deutsche Wirtschaft favorisierte, nicht lange auf die Unterstützung der FDP gestoßen?
Unverkennbar ist, dass eine alleinige Fokussierung auf den Menschenrechtsdialog und die Unterstützung der Zivilgesellschaft nicht ausreicht, Vorgänge aus der Vergangenheit zu verstehen, noch Lösungen für heutige, außenpolitische Probleme zu finden. Entspannungspolitik ist eben nicht allein Menschenrechts- oder Handels- oder Ostpolitik.
Bahr sah die Staatenpolitik
Es trifft zu, dass Bahrs Denken nicht auf zivilgesellschaftliches Wirken, sondern auf die Staatenpolitik konzentriert war, etwas, das auch heute noch das zentrale Motiv außenpolitischen Handelns ist. Er hat später auch Defizite seiner Politik gesehen.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass bis heute Fragen von Allianzen, militärischer Aufrüstung, Bedrohung und Krieg zur Staatenpolitik gehören. Diese zentralen Elemente der auswärtigen Beziehungen spielen bei Winkler und Baum kaum eine Rolle.
Deren einseitige Betonung moralischer und zivilgesellschaftlicher Dimensionen verkennt manche Problemlage und liefert keine Beiträge einer vertiefenden Analyse, wie sie angesichts des furchtbaren Ukraine-Krieges nötig wäre. Politiker und ihre Positionen können selbstverständlich kritisch hinterfragt werden und sind nicht sakrosankt.
Fehler vor Ukraine-Krieg angehen – auch die des Westens
Dies verlangt in diesem Fall aber eine ehrliche und umfassende Herangehensweise, die neben gesellschaftlichen Faktoren auch die außenpolitische Dynamik einbezieht. Es müssen die Fehler, die zum Ukraine-Krieg führten, parteiübergreifend angegangen werden, auch wenn die Schuldfrage durch die völkerrechtswidrige Invasion in die Ukraine, befohlen von Präsident Putin, eindeutig beantwortbar ist.
Den o.g. Autoren geht es aber nicht darum, die kritische Begleitung von Geschichte, Defizite des europäischen Sicherheitssystems im 21. Jahrhundert oder mögliche Lösungen herauszuarbeiten, sondern um emotionale Mobilmachung und die Stärkung von angeblicher politischer und moralischer Richtigkeit.
Angesichts des Zusammenbruches des europäischen Sicherheitssystems braucht es aber die kritische Aufarbeitung des völkerrechtswidrigen Krieges, aber auch der Fehler des Westens, seiner Irrungen und Fehleinschätzungen.
Für den Vorstand des Willy-Brandt-Kreises:
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Peter Brandt
Götz Neuneck