Den Ukraine-Krieg vom Ende her denken
Seite 2: Reaktionäre Ideologeme und Realismus
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Es besteht darin, dass die russische Führung das Zurückdrängen Russlands (Nato-Osterweiterung, Engagement des Westens in der Ukraine) nicht länger widerstandslos hinnehmen will und auf frühere russische Verhandlungsbereitschaft vom Westen nicht eingegangen wurde (vgl. zur Vorgeschichte des Konflikts die informative und solide Darstellung von Jürgen Wagner).
Reaktionäre Ideologeme in den Köpfen der russischen Staatsführung sind das eine. Von großrussischen Visionen und demagogischen Versuchen, Akzeptanz für den Krieg zu mobilisieren, lässt sich aber nicht umstandslos auf die realen Motive und strategischen Ziele der russischen Seite schließen. Staatenlenker wollen sich nicht nachsagen lassen, sie seien nur kalte Technokraten und hätten weder Vision noch Mission.
Das politische Führungspersonal meint von Zeit zu Zeit, es brauche sinnstiftende und mobilisierende Worte an die Bevölkerung. Viele haben früher die Rhetorik von George W. Bush ("Ich bin ein Kriegspräsident, wenn ich Entscheidungen treffe, dann denke ich immer an den Krieg") sowie die von Ronald Reagan ("Die Sowjetunion – das Reich des Bösen") für gefährlich gehalten, ohne sie mit den realen Zielen der US-Politik zu verwechseln.
Von Madeleine Albright stammt übrigens der Satz "Aber wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann deshalb, weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation" (Interview 1998 mit dem US-Fernsehsender NBC).
Konsequenzlogische Stringenz und konkrete Lage
Der Einwand "Wer Putin jetzt Zugeständnisse macht, kann übermorgen sicher mit seiner nächsten Erpressung rechnen" beansprucht ein logisches Argument. In der Politik geht es aber um konkrete Lagen und Räume, nicht um konsequenzlogische Stringenz. Selbst der "üble Mensch" Putin macht keinen beliebigen Gebrauch von der Drohung mit dem Einsatz kleiner Atomwaffen.
Die russische Staatsführung weiß, dass ein Angriff auf Nato-Länder den Bündnisfall und damit den dritten Weltkrieg auslösen würde. Die USA haben klargestellt, dass dies für den Einsatz von kleinen Atomwaffen auf dem Boden der Ukraine nicht gilt. Bernie Sanders erklärt zu Recht:
Selbst wenn Russland nicht von einem korrupten autoritären Führer wie Wladimir Putin regiert würde, hätte Russland ebenso wie die Vereinigten Staaten ein Interesse an der Sicherheitspolitik seiner Nachbarn. Glaubt wirklich irgendjemand, dass die Vereinigten Staaten nichts zu sagen hätten, wenn beispielsweise Mexiko ein Militärbündnis mit einem US-Gegner eingehen würde? Den Ländern sollte es freistehen, ihre eigenen außenpolitischen Entscheidungen zu treffen, aber diese Entscheidungen mit Bedacht zu treffen, erfordert eine ernsthafte Abwägung der Kosten und Vorteile. Tatsache ist, dass die USA und die Ukraine, wenn sie eine tiefere Sicherheitsbeziehung eingehen, wahrscheinlich einige sehr ernste Kosten haben werden – für beide Länder.
Bernie Sanders
Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Er betont zu Recht die Notwendigkeit "kluger Realpolitik".
"Dazu gehört, zu akzeptieren, dass die Ukraine ein neutraler, demilitarisierter Staat sein wird. Und dazu gehört auch, anzuerkennen, dass die Ukraine nicht die volle Souveränität über ihr Staatsgebiet behält.Das heißt, dass die Bundesregierung die Krim- und die Donbass-Frage pragmatisch angehen müssen wird. Und zwar nicht, weil es eine gute Lösung ist, sondern weil es das Einfrieren des Konfliktes bedeutet. Später kann über eine Friedenslösung nachgedacht werden. Eine solche wird nur umzusetzen sein, wenn sich die Position in Moskau verändert" (Junge Welt, 30.4.2022, S. 6).
Gregor Gysi spricht am 6. Mai in einem Interview mit dem Deutschlandfunk von der Unterscheidung zwischen einer faktischen und einer juristischen Anerkennung.
Manchen reaktionären Staatsführungen in Osteuropa, die mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht viel im Sinn haben, kommt der Ukraine-Krieg wie gerufen. Endlich sind ihre Differenzen mit der EU kein Thema mehr. Besonders die polnische Regierung drängt andere Staaten zu einer militärischen Unterstützung der Ukraine, die den Krieg nur verlängert und eskaliert.
Mariana Sadovska hat den häufig anzutreffenden Fanatismus auf den Punkt gebracht. Die ukrainische Sängerin und Komponistin, die seit 2002 in Köln lebt, tat das nicht irgendwo, sondern auf einer Veranstaltung am 28.3. im Kanzleramt. Einige Minuten, nachdem dort Kanzler Scholz geredet hatte, sagte Sadovska:
"Natürlich haben wir große Angst, dass dadurch alles eskaliert und es zu einem Atomkrieg kommt und die ganze Welt untergeht. … Aber wir können doch nicht so einen Verbrecher wie Putin davonkommen lassen, nur weil er mit der Atombombe droht. … Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein!"
In den letzten Wochen ist in der deutschen Öffentlichkeit nur noch von Militär und nicht mehr von Diplomatie die Rede. Aber die Notwendigkeit der beschriebenen diplomatischen Lösung bleibt ebenso bitter wie absolut.