Der Amri-Komplex: Anatomie eines Terroranschlages

Seite 2: V-Personen, Quellen, Informanten - Nachrichtenmittler

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Wo derart viele Sicherheitsbehörden mitmischten, kann es nicht verwundern, dass an vielen Stellen verdeckte menschliche Quellen auftauchen. Überraschend ist allerdings, wie viele davon sich im Umfeld von Amri bewegten. Mindestens zehn unterscheidbare Quellen verschiedene Ämter konnten bisher identifiziert werden.

Das nordrhein-westfälische LKA hatte im Deutschsprachigen Islam-Kreis (DIK) um Abu Walaa mindestens zwei eingesetzt. Hinzu kam jener Informant des jordanischen Geheimdienstes in der Gruppe. In Berlin führte das LKA eingestandenermaßen drei Spitzel in der Islamisten- und der Drogenszene. Hinzu kommen zwei Spitzel, die für den Verfassungsschutz tätig waren. Mindestens zwei V-Personen arbeiteten in Berlin dem BKA zu, und mindestens eine Quelle hatte das BfV in der kleinen Fussilet-Moschee sitzen. Einige der V-Leute standen in engem Kontakt zu dem späteren mutmaßlichen Attentäter.

Und es gibt Hinweise auf weitere Quellen. Da man von den gesicherten aber nicht die Klarnamen kennt und nur in einem Falle der Deckname (VP 01 "Murat") bekannt ist, lässt sich nur schwer sagen, ob neu auftauchende Quellen über die zehn unterscheidbaren hinausgehen. Aus dem Untersuchungsausschuss im Bundestag erfährt man, dass sich in den Akten Hinweise auf weit über 20 staatliche Zuträger finden. Auch die Existenz von Informanten ausländischer Dienste muss in die Berechnung mit einfließen. Nicht selten teilen diese Dienste ihre Erkenntnisse mit den deutschen Organen, auch wenn nachrichtendienstliche Arbeit fremder Geheimdienste auf deutschem Boden verboten ist. Inoffiziell wird dieses Verbot längst unterlaufen.

Gab es in Amris Nähe tatsächlich eine Person, die Marokko Informationen zukommen ließ? Interessanterweise behauptete ein deutsches Magazin Anfang des Jahres, Bilel Ben Ammar habe für einen marokkanischen Geheimdienst gearbeitet. Sollte das stimmen, könnte es erklären, warum die Bundesregierung Ben Ammar am 1. Februar 2017 aus dem Mordermittlungsverfahren heraus abgeschoben hat. Die Verstrickung von Geheimdiensten in Terrorismus ist das letzte, was Regierungen gebrauchen können. Zugleich würde es Ben Ammars Tätigkeit als sogenannter "Nachrichtenmittler" in neuem Licht erscheinen lassen. Hat man ihn zur technischen Quelle gemacht, nicht weil man nichts gegen ihn in der Hand hatte, sondern um ihn zu schützen? War er in Wahrheit eine V-Person, die aus Gründen der - internen - Tarnung als "Nachrichtenmittler" firmierte?

Eine solche Frage beträfe automatisch auch den Ben Ammar-Freund Amri. Auch er wurde in der Funktion des "Nachrichtenmittlers" eingesetzt. War also auch Amri eine zu schützende Quelle? In einer Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses im Oktober 2018 kam es zu einer denkwürdigen Aussage eines ranghohen Vertreters des BfV, von der man nicht weiß, ob sie entlarvend war oder nur ein Versprecher. Die Abgeordneten wollten wissen, wann genau das Amt seine Quellen nach dem Anschlag zum mutmaßlichen Täter Amri befragt habe. Dessen Identität soll erst am Folgetag, dem 20. Dezember, festgestanden haben. Nun antwortete der BfV-Mann auf die Frage, wie schnell man die V-Leute zu Amri befragte, wörtlich: "In dem Moment, in dem die Quelle flüchtig ist." Er bezeichnete Amri als "Quelle". Der Satz war zwar einigen Zuhörern und Journalisten aufgefallen, nicht aber dem Zeugen, den Abgeordneten und den Vertretern der Regierung. Es gab keine Nachfrage oder Richtigstellung.

Wenn sich Amri im selben politisch-kriminellen Biotop bewegte wie die staatlichen Zuträger und aufgrund verschiedener Delikte ähnlich erpressbar war, fragt man sich, warum ausgerechnet er - aber auch Ben Ammar - nicht auf eine Kooperation mit den Behörden angesprochen und dafür gewonnen worden sein soll.

Und noch eine Frage stellt sich, die man im NSU-Komplex gelernt hat, wo Neonazi-Gruppierungen von V-Leuten angeführt wurden: Trifft diese Methode auch auf die nominelle Islamistenszene zu? Standen und stehen an der Spitze der verschiedenen Dschihadisten-Gruppen ebenfalls V-Leute?

Die politische Ebene

Die Abschiebung von Bilel Ben Ammar, dem mutmaßliche Mitwisser oder Mittäter des Anschlages vom Breitscheidplatz, wurde auf höchster politischer Ebene entschieden - durch das Bundesinnen- und das Bundesjustizministerium. Das ist eines der bedeutendsten Ergebnisse der Arbeit des Bundestagsuntersuchungsausschusses. Spätestens damit handelt es sich bei dem Anschlag weder um einen Polizeifall noch um einen ausschließlichen Geheimdienstfall, sondern um einen politischen Fall. Auch das hat er mit dem NSU-Skandal gemein.

Spuren, die zur politischen Ebene führen, gab es aber auch im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin, der vorrangig das Handeln der Berliner Verantwortlichkeiten beleuchten soll. Dort erklärte im November 2018 der Leiter des LKA, er habe im Februar 2016 in der sogenannten Mittwochsrunde beim Innensenator von Berlin den Gefährder Anis Amri zum Thema gemacht. In dieser mittwochs tagenden Runde wird die Sicherheitslage in der Stadt besprochen. Neben dem Innensenator, seinem Staatssekretär und Mitarbeitern seines Stabes nehmen daran unter anderem der Leiter des Verfassungsschutzes, der Polizeipräsident und der Leiter des LKA teil. Dem LKA-Chef wurde zwar von Seiten des Polizeipräsidenten, des Staatssekretärs und des Innensenators widersprochen, er hat seine Aussage aber nicht zurückgenommen.

Eher wird sie durch einen weiteren Vorgang, an dem der Innensenator von Berlin maßgeblich beteiligt war, wahrscheinlicher. Das Verbotsverfahren gegen den radikalen Verein der Fussilet-Moschee, das Ende 2015 begonnen worden war, lag danach über ein Jahr auf Eis. Das LfV Berlin wollte, dass mit dem Verbot noch gewartet werde, und der Innensenator entschied entsprechend und ließ die Einrichtung offen. Sie wurde erst nach dem Anschlag geschlossen. Die Fussilet-Moschee war ein Hotspot der gewaltbereiten Islamistenszene, Amri ging dort ein und aus, noch kurz vor dem Anschlag hatte er das Haus besucht.

Die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse

Als erstes Parlament richtete noch im Februar 2017 der Landtag von Nordrhein-Westfalen (NRW) einen Untersuchungsausschuss ein. Amri war in NRW als Asylsuchender registriert worden. Nach den Landtagswahlen vom Mai 2017 wurde der Ausschuss praktisch fortgesetzt. Er stieß auf eine bis dahin unbekannte Ermittlungskommission (EK) namens "Eiba", in der Amri vom LKA geführt worden sein soll.

Mittlerweile ist der Sachverhalt regelrecht dubios geworden, nachdem der "Eiba"-Leiter die Personalie Amri abgetan hat. Der habe keine Rolle gespielt. Warum das LKA Amri dann überhaupt in diese EK gesteckt hat, erscheint rätselhaft. Antworten könnten die Ermittlungsakten der EK liefern, die aber will der Ausschuss seltsamerweise gar nicht mehr beiziehen. Insgesamt kann man den Eindruck gewinnen, dass die Parlamentarier ihren Frieden mit dem Komplex Amri schließen möchten. Das öffentliche Interesse an dem Ausschuss geht gegen null, Presse ist meist gar nicht mehr vertreten.

Im Juli 2017 rang sich das Abgeordnetenhaus von Berlin ebenfalls zu einem Untersuchungsausschuss (PUA) durch. Das Parlament stand unter dem Eindruck der Recherchen eines Sonderermittlers, der Manipulationen der Amri-Akte im LKA aufgedeckt hatte. Mehrere Beamte hatten nach dem Anschlag ihre Erkenntnisse zu dem späteren mutmaßlichen Attentäter abgeschwächt und im Nachhinein unter falschem Datum in die Akten geschmuggelt.

Der Ausschuss arbeitete heraus, dass Amri im August 2016 nach einer Messerstecherei eigentlich hätte in Haft genommen werden müssen, was aber an der Generalstaatsanwaltschaft von Berlin scheiterte. Ein zweites bahnbrechendes Ergebnis ist die Offenlegung, dass das LKA mindestens drei V-Personen in der Nähe des Tunesiers führte.

Ein Dauerproblem bleibt die Frage der Öffentlichkeit der Sitzungen. Zu oft gibt das Gremium den Interessen der Behörden nach und schließt Zuhörer und Journalisten von den Befragungen aus. Zu einer Art Eklat kam es im April 2019, als zwei LKA-Beamte die Aussage im Abgeordnetenhaus komplett verweigerten. Es waren dieselben Männer, die die Aktenmanipulationen zu Amri zu verantworten hatten. Der Ausschuss wollte beim Landgericht ein Ordnungsgeld gegen die Zeugen beantragen. Mit welchem Ergebnis ist bisher nicht bekannt.

Dem Ausschuss in Berlin werden vom Bundesinnen- und vom Bundesjustizministerium entscheidende Unterlagen mit der Begründung vorenthalten, als Landesparlament habe es kein Anrecht darauf. Das betrifft unter anderem die Ermittlungsakten der Bundesbehörden BKA und Bundesanwaltschaft zum Anschlag selber. Damit wäre die Tat für die Berliner Abgeordneten nicht aufklärbar. Das könnten nur noch die Abgeordneten des Bundestagsausschusses. Mit einem Schachzug hat die Exekutive die Hälfte des Kontrollpotentials der Legislative vom Feld genommen.

Seit März 2018 arbeitet im Bundestag der bundesweit dritte Untersuchungsausschuss zum Anschlag vom Breitscheidplatz. Er soll sich vor allem mit den Bundesbehörden befassen und geriet von Anfang an zu einem politischen Schlachtfeld. Das Bundesinnenministerium (BMI) verweigert nicht nur die Vernehmung von V-Leuten des BfV, sondern selbst der V-Mann-Führer. Lange Zeit bestritt das BfV, letztlich erfolglos, dass es eine Quelle "im Umfeld" Amris besessen habe. Der Kunstgriff: Das BfV zählte die Fussilet-Moschee, in der sich die Quelle bewegte, nicht zum Umfeld des Tunesiers.

Im Untersuchungsausschuss des Bundestages sitzen auch Vertreter der Bundesregierung. Das BMI hatte eine Oberregierungsrätin geschickt, die x-mal gegen Fragen der Abgeordneten intervenierte und die Zeugenvernehmungen beeinflusste - bis sich herausstellte, dass die Frau vor ihrer Tätigkeit für das BMI im BfV und dort im Referat "Islamistischer Terrorismus" tätig war und damit selber eine potentielle Zeugin ist.

Auch vor offenen Falschaussagen schreckten Beamte in diesem Ausschuss nicht zurück, was belegt, wie kompromisslos die Auseinandersetzung von Seiten der Exekutive geführt wird. Man hat den Eindruck, sie hat aus NSU gelernt und will den Parlamenten von Anfang noch weniger Spielraum für ihre Aufklärungsarbeit geben.

Dennoch hat der Ausschuss entlarvt, dass das BfV eine herausragende Rolle in der Causa Amri-Breitscheidplatz spielt, was lange Zeit versucht wurde zu verstecken. Das Bundesamt führte eine eigene Akte zu dem Gefährder und überwachte ihn mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Eine Art Nebenprodukt der Ausschussarbeit ist, wie standardgemäß auch das BKA mit V-Leuten bei seinen Ermittlungen operiert.

Die bislang vielleicht revolutionärste Erkenntnis ist aber, dass die Abschiebung des Tatverdächtigen Bilel Ben Ammar auf höchster politischer Ebene in der Regierung entschieden wurde. Das macht die Affäre zum Politikum.

Mehrere Abgeordnete profitieren bei ihren Nachforschungen möglichweise davon, dass sie einen "NSU-Hintergrund" haben. Sie saßen als Mitglieder oder Berater in verschiedensten Untersuchungsausschüssen und haben dort die Winkelzüge und Verschleierungsbemühungen seitens der Sicherheitsbehörden bereits erfahren.

Weitere parlamentarische Untersuchungsausschüsse wären nötig, mindestens in Baden-Württemberg, um die Umstände der Einreise Amris im Juli 2015 sowie die Umstände der Ausreiseverweigerung im Juli 2016 zu untersuchen. Aber zum Beispiel auch in Niedersachsen, wo mit dem DIK-Abu Walaa-Kreis eine zentrale Formation des Anschlagsumfeldes existierte.