Der Angebotsschock, der ein Nachfrageschock ist

Seite 2: Was passiert 2023?

Die meisten Prognostiker haben sich auf eine Variante eingelassen, bei der die privaten Haushalte in Deutschland ihre Ersparnisse noch einmal deutlich reduzieren, von 230 auf etwa 190 Milliarden Euro. Das ist angesichts der sinkenden Realeinkommen der Bevölkerung allerdings nicht besonders realistisch.

Auch erwarten sie eine leichte Verbesserung bei der Leistungsbilanz um ca. 20 Milliarden Euro. In diesem Szenario muss der Staat, um die Position der Unternehmen auf dem Niveau von 2022 zu halten, mindestens 30 Milliarden Euro neue Schulden machen. Verringern die privaten Haushalte ihre Sparquote allerdings nicht, steigt die Summe, die vom Staat aufgebracht werden muss, auf 70 Milliarden Euro.

Wohlgemerkt, auch bei einem solchen Einsatz des Staates würden die Unternehmen auf einem Niveau gehalten, das sie in einer Rezession vermutlich als bedrohlich empfinden. Versuchen die Unternehmen durch eigene Ausgabenkürzungen und verringerte Investitionen ihre Situation zu verbessern, wird die Lage für die Gesamtwirtschaft deutlich schlechter ausfallen.

Weil zudem auch noch die Zinsen steigen, ist eine Belebung der Investitionstätigkeit, wie sie die Prognostiker und die Regierung in ihrer Projektion für 2023 unterstellen, vollkommen unplausibel.

Ein Einbruch der Investitionen ist das wesentlich wahrscheinlichere Resultat und damit die Aufgabe des Staates, erneut mit noch mehr neuen Schulden dagegenzuhalten. Von einer Rückkehr zur Schuldenbremse kann nur reden, wer nicht weiß, dass jeder Versuch, die staatlichen Defizite in diesem Jahr erheblich zu reduzieren, die Situation der Unternehmen unmittelbar und massiv weiter verschlechtert.

Man staunt, dass der Vorsitzende einer Partei, die gerne unternehmernah sein will, das nicht weiß.

Anhaltende Ungleichgewichte in der EWU

Es kann auch ganz anders kommen. Der deutliche Rückgang der Rohstoffpreise in den letzten Monaten kann dazu führen, dass sich der deutsche Leistungsbilanzüberschuss sehr schnell erholt.

Sinkt die Öl- und Gasrechnung und bricht die Weltkonjunktur nicht ein, kann sich der deutsche Überschuss sehr schnell wieder in Richtung 200 Milliarden Euro und mehr bewegen und die Nachfragelücke der privaten Haushalte weitgehend schließen.

Dann ist zwar der Finanzminister noch nicht aus dem Schneider, weil die Investitionstätigkeit der Unternehmen trotzdem einbrechen kann, aber er müsste weit weniger in die Verschuldung gehen.

Bei dieser "Lösung" ist aber gerade für den Bundesfinanzminister zu bedenken, dass Deutschland mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen weiterhin ein Ungleichgewicht in der Europäischen Währungsunion schafft, das den von allen Mitgliedsstaaten akzeptierten Vorgaben des sogenannten Europäischen Semesters eklatant widerspricht.

Würde Deutschland diesen Vorgaben entsprechen und das Ungleichgewicht deutlich verringern, müsste der deutsche Staat in jedem Jahr hohe staatliche Defizite hinnehmen, um eine permanente Schrumpfung der deutschen Wirtschaft zu verhindern.

Die Schuldenbremse in der deutschen Verfassung kann nur einhalten, wer permanent gegen europäisches Recht verstößt.

Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck ist Herausgeber des Online-Portals flassbeck-economics.com. Zuvor war er Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und Chef-Volkswirt bei der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung.

Vom Autor erscheint monatlich eine Kolumne zu Hintergründen wirtschaftlicher Entwicklungen und zur Wirtschaftspolitik.