Der Ausnahmezustand als neue Normalität

The Damned

Geometrie der Angst. (Teil 3)

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Was bisher geschah: Simon Wells, ein amerikanischer Tourist, lernt die junge Joan und ihren Bruder King kennen, den Anführer der örtlichen Teddy Boys. Verfolgt von King, finden Joan und Simon Zuflucht im Atelier der Bildhauerin Freya und geraten dann auf das Gelände einer staatlichen Forschungseinrichtung, in welcher der Wissenschaftler Bernard neun radioaktive Kinder in unterirdischen Katakomben auf eine Zeit nach dem Atomkrieg vorbereitet. Die Kinder warnen die Besucher, dass der "Schwarze Tod" kommen und sie holen wird, wenn Bernard sie auf den Monitoren seiner Überwachungskameras entdeckt.

Teil 1: Der untypischste aller Hammer-Filme, wiedergesehen im Schatten der Corona-Pandemie
Teil 2: Unter Friedhofsvögeln

Virus im politischen System

Wer in der Welt der Elfjährigen der Schwarze Tod ist, stellt sich heraus, wenn die subjektive Kamera im Aufzug von der Kommandozentrale nach unten fährt. Wir teilen die Perspektive des unheimlichen Eindringlings, der den Lift verlässt und die Katakomben betritt. Vor ihm liegt der Medienraum. Es gibt Bücher, eine Leinwand, und was aussieht wie eine Trockenhaube beim Friseur ist eine Vorrichtung zum Abhören von Tondokumenten. Für eine Szene, in der wir Elizabeth beim Lernen mit audiovisuellen Medien beobachten, hat Losey Lord Byrons "The Prisoner of Chillon" ausgesucht.

Byron schrieb das Gedicht über einen eingekerkerten Freiheitskämpfer, nachdem er und Percy Shelley bei einer Segeltour auf dem Genfer See das Verlies im Château de Chillon besucht hatten. Man kann es als Kommentar zu The Damned und zur Funktion der Kunst verstehen (die Kinder, die es hören, werden bald den Aufstand wagen), und weil das ein Film voller Anspielungen ist, darf man auch an Mary Shelley denken, die am Genfer See den berühmten Traum hatte, aus dem dann der Roman Frankenstein wurde. Jetzt aber ist der Medienraum menschenleer. Wir hören nur die schweren Schritte des Eindringlings.

Hier und da ist Spielzeug verstreut, eine Puppe und ein Teddybär, um uns daran zu erinnern, dass es kleine Kinder sind, mit denen Bernard, die Frankenstein-Figur des Films, seine Experimente macht. Neben einem Regal mit Büchern steht ein altertümlicher Globus. Der Eindringling kann der Versuchung nicht widerstehen, ihn anzufassen und zu drehen. Dabei gerät - weiter mit subjektiver Kamera aufgenommen - seine Hand ins Blickfeld. Sie steckt in einem Schutzhandschuh.

Der Eindringling geht an Alarmglocken und Überwachungskameras vorbei, am Chemielabor, in dem die Kinder ihre eigene Nahrung herstellen und am gedeckten Frühstückstisch. Das wirkt ein bisschen wie im Märchen, hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, und soll wohl auch so sein, um darauf hinzuweisen, dass man den kleinen Probanden ihre Kindheit gestohlen hat. Anstelle von Schneewittchen kommt der Schwarze Tod; Bernard ist die böse Hexe mit dem Zauberspiegel (dem Überwachungsmonitor).

Bei den Betten, in denen die Kinder schlafen, werden die subjektiven Kameraeinstellungen durch einen Gegenschuss abgelöst. Wir sehen Major Holland in einem Schutzanzug. Schnitt zurück auf eines der Kinder, das Gesicht von Angst verzerrt. In diesem Film sind die Garanten der Sicherheit die Monster. Major Holland ist der Schwarze Tod. "Hier ist die Parallele zwischen Bernard und King deutlich:", schreibt Georg Alexander im Losey-Band der blauen Filmbuchreihe des Hanser Verlags, "beide gebieten über jene zerstörerischen schwarzgekleideten Schutzstaffeln, die jeweils auf ihre Weise individuellen oder institutionellen Terror verbreiten."

Losey fehlte es schon aus biographischen Gründen am Verständnis für solche Institutionen, die andere überwachen, ausspionieren, ihrer Freiheit berauben. Gedanklich war er stark mit dem McCarthyismus beschäftigt, als er The Damned drehte, was er nur tat, weil seine Pläne für eine Rückkehr in die USA hinfällig geworden waren und ihn außer der Hammer niemand beschäftigen wollte. Die eigenen Erfahrungen hatten seinen Blick für gesellschaftliche Vorgänge geschärft, die scheinbar harmlos anfangen und sich dann verselbständigen.

Was Losey am meisten schockierte war die Bereitschaft seiner Landsleute, Bürgerrechte und demokratische Freiheiten über Bord zu werfen, um einer als existenzbedrohend wahrgenommenen Gefahr zu begegnen. Um bei der Infektionsmetaphorik zu bleiben: Loseys Überzeugung nach hatte das politische System der USA ein Virus befallen (der rabiate Antikommunismus, durch den das Recht auf freie Meinungsäußerung genauso beschnitten wurde wie die Versammlungsfreiheit), das nicht weniger lebensgefährlich war als eine körperliche Krankheit.

Adam und Eva des Atomzeitalters

Das Drehbuch zu The Damned hat ein paar Schwächen, ist aber insgesamt sehr gut konstruiert. Wenn King nachts in Freyas Atelier auftaucht ist damit zu rechnen, dass ihm Bernard bald folgen wird, der Parallelen wegen. Er kommt am nächsten Morgen. Freya berichtet, dass sie Besuch von "Romeo und Julia" (Simon und Joan) hatte und von einem "unglücklichen, gefährlichen Jungen" (King), der ihre Skulptur zerschlagen hat. Dann wirft sie Bernard ihren Frühstücksapfel zu. In einem Film, der so mit Bedeutung aufgeladen ist wie dieser, ist ein Apfel nicht nur ein Apfel.

Wir sehen - schon etwas in die Jahre gekommen - Adam und Eva (Freya und Bernard waren früher ein Liebespaar), halb sitzend und halb liegend auf dem Bett, in dem Romeo und Julia vorher Sex hatten. Zentral im Hintergrund ein gekreuzigter Jesus von Elisabeth Frink, die viele Aufträge von Kirchen erhielt. Das Netz der in Handlung und Dekors verwobenen Anspielungen auf die Religion wird dichter. Jesus starb am Kreuz, um uns von der Erbsünde zu befreien, nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis genascht hatten, mit den bekannten Konsequenzen, Kain und Abel inklusive.

Adam und Eva des Atomzeitalters (9 Bilder)

The Damned

Jetzt sitzt da der Wissenschaftler Bernard als Adam des Atomzeitalters und träumt davon, ein neues Menschengeschlecht in die Welt zu bringen - eine Welt, die atomar verseucht ist. The Damned ist auch als Satire ziemlich gut. Bernard, sagt Freya, sei zu einem Mann mit einer Aufgabe geworden. "Ich hatte das Gefühl, keine Wahl zu haben", sagt ihr Ex-Geliebter, mit dem sie früher in diesem Bett geschlafen hat. "Es ist zu spät, irgendetwas im Privatleben zu machen." "Zu spät? Warum?", fragt Freya. "Ich lebe mit einer Tatsache", antwortet Bernard. "Eine Kraft ist freigesetzt worden, die diese Steine zum Schmelzen bringen wird."

Und dann sein Mantra: "Wir müssen bereit sein, wenn die Zeit gekommen ist." "Du glaubst wirklich, dass es passieren wird, stimmt’s?", erwidert Freya ein wenig ratlos. "Sicher", sagt Bernard. "Das steht völlig außer Frage." Das ist einer der stillen Horrormomente in diesem Film und erklärt die religiöse Ikonographie. Losey geht es hier nicht um christliche Erbauung. In der Romanvorlage sind die Menschen durch atomare Strahlung zeugungsunfähig geworden. Die Ausnahme sind die radioaktiven Kinder. Auf sie kommt es also an, wenn die Geschichte der Menschheit, die - im Weltbild der Christen - mit Adam und Eva im Paradies beginnt, nicht ein baldiges Ende finden soll.

Dr Strangelove

Der Film ist radikaler und ersetzt die verlorene Fortpflanzungsfähigkeit durch einen Atomkrieg, der Bernards Überzeugung nach unausweichlich ist. Die von Bernard vertretene Form der Wissenschaft ist zur neuen Religion geworden. Kubricks Dr Strangelove endet mit einer schwarzhumorigen Variation darauf. Der an den Rollstuhl gefesselte Dr. Seltsam, der Prophet des nuklearen Armageddon, entwirft seinen Plan für das Überleben der Menschheit nach dem großen Knall und kann in Erwartung des freudigen Ereignisses wieder gehen, als habe Jesus ihn berührt und ein Wunder an ihm gewirkt.

An die Stelle von Skepsis, Selbstkritik und dauernder Korrektur im Lichte neuerer Erkenntnisse ist in The Damned der Glaube an etwas getreten, das ganz sicher kommen wird. Das Gruseligste daran ist, dass Bernard mit seinem Projekt nur Erfolg haben kann, wenn es vorher - ganz biblisch - die Apokalypse gibt. Nach dem Atomkrieg sollen die radioaktiven Kinder aus ihrem Bunker kommen und in einer atomar verseuchten Welt ein neues Menschengeschlecht begründen. Für den Rest der Bevölkerung ist das keine gute Nachricht. Darum muss das Unternehmen unbedingt geheim gehalten werden.

Kunst am Abgrund

Die Tunnelblick-Wissenschaft als Staatsreligion (mit Bernard als Hohepriester eines hinter Scheinrationalität verborgenen Todeskults) kontrastiert Losey mit der Poesie und mit der Kunst. Joans vor der Kinoauswertung entfernter Wolken-Dialog (siehe Teil 2) wird in der gekürzten Fassung auch deshalb schmerzlich vermisst, weil er die junge Frau genauer charakterisiert und eine Alternative aufzeigt. Joan hat ein sinnliches Verhältnis zu den Dingen, von Simons Boot bis zu Freyas Kunstwerken, die sie zärtlich streichelt, als wolle sie alles darauf abtasten, ob es wirklich existiert und welche Konsistenz es hat.

Da, wo Joan einen anderen Blick auf die Wirklichkeit hat, einen, durch den die fest gefügten Konturen eines geschlossenen Weltbilds unscharf werden (die Felsen der Isle of Portland scheinen sich in den Wolken aufzulösen), sieht Bernard nur eine zukünftige Zerstörung (die Atomkraft wird die Portland-Steine schmelzen lassen). Freya als Vertreterin der bildenden Kunst glaubt nicht an die Unausweichlichkeit eines Atomkriegs und geht hinaus auf die Klippe, um weiter an ihren Skulpturen zu arbeiten, mit denen sie der Welt den Spiegel vorhält. Das ist ihre Art, die Zukunft zu gestalten.

Kunst am Abgrund (10 Bilder)

The Damned

Für Losey ist die Kunst mindestens so systemrelevant wie die Lufthansa oder die TUI (eine Einsicht, die bei der sich nicht nur gegenüber den Geisteswissenschaften durch Ignoranz hervortuenden deutschen Bundesregierung noch nicht wirklich angekommen ist). Durch die räumliche Nähe - Freyas Atelier liegt über den Bunkern mit den festgehaltenen Kindern - stellt der Film eine Verbindung zwischen den Skulpturen und Bernards Projekt her. Es geht um Offenheit und Transparenz. Sie erzähle allen, die ihr zuhören wollen, von dem, was sie für ihre Aufgabe halte, sagt Freya; Bernard hingegen mache aus seiner Aufgabe ein Geheimnis.

Losey illustriert das mit einer Einstellung auf der Klippe. Freya arbeitet dort an einer ihrer Skulpturen. Exponierter könnte sie kaum sein. Wie aus dem Nichts erscheint Captain Gregory. Er trägt Zivil wie immer außerhalb des Edgecliff Establishment. Bernard raunt ihm etwas zu. Wie ein Verschwörer von der Bühne geht Gregory wieder ab. Ein Staatsdiener wie Bernard, kommentiert Freya mit einer der Szene angemessenen Theatralik, sei der einzige Diener, der Geheimnisse vor seinem Herrn habe. Wieder einer dieser Losey-Dialoge mit eingebautem Verfremdungseffekt (Brecht, dessen Leben des Galilei er 1947 inszeniert hatte, war für den Regisseur ein großes Vorbild).

Der Herr des Staatsdieners, das sind wir alle, das Volk. Bernard handelt am Souverän vorbei, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil diese nichts davon wissen soll, dass er für die Zeit nach dem Atomkrieg plant, statt ihn abwenden zu wollen. Was aus dem Mangel an Transparenz und einer falsch verstandenen Sicherheit entstehen kann, zeigt Freya mit einer Geste. Mit ausgestrecktem Arm reckt sie ihr Schnitzbeil in die Höhe. Mit diesem Beil kann man wie Freya ein Kunstwerk schaffen, man kann damit ein Kunstwerk zerstören wie King, und in der nach oben gereckten Hand wird es zum Symbol der Diktatur. Das in einem Rutenbündel steckende Beil war das Abzeichen von Mussolinis Faschistischer Partei.

Anhand der Bildkomposition - Freya, Bernard, die gerade in Arbeit befindliche Skulptur dazwischen - kann man sich auch wie Glenn Erickson die Frage stellen, ob sich der Staatsdiener, der wie Dr Strangelove ("Mein Führer! … Nein, Mr. President!") die Bombe umarmt, sich einst in Freya verliebt hat oder in ihre Kunst, weil die verkohlten Körper die Welt nach der nuklearen Katastrophe repräsentieren, um die sich sein ganzes Denken und Handeln dreht. Letzteres wäre ein noch größeres Missverständnis als jenes, das dazu führte, dass Losey für die Hammer diesen Film drehte.

Freya lässt keinen Zweifel daran, dass ihre Kunstwerke eine Mahnung sind, aus der Vergangenheit zu lernen (der Zweite Weltkrieg, Hitler-Deutschland) statt eine Zukunft vorwegzunehmen, wie Bernard sie für unabwendbar hält. Jemand habe ihr einmal gesagt, erzählt sie gleich am Anfang, dass ein Bürokrat, wenn er seinen Job behalten will, alles für streng geheim erklärt. Damit entfällt die Notwendigkeit, Maßnahmen zu begründen und öffentlich zu rechtfertigen. Das ist der Wegbereiter für die Diktatur. Die Kunst, die den Finger in die Wunde legt, ist systemrelevant für die Demokratie.

Das Starke-Bildungsgerechtigkeits-und-Schulbedarfspauschale-2,31-Euro-Teilhabegesetz

Ein Satz aus dem März 2020, von Gesundheitsminister Spahn: "Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen." Warum erst nach der Pandemie, was mit den "paar Monaten" wohl gemeint war? Weil dann "die Zeit gekommen ist"? Nicht in jedem Fall braucht man so lange zu warten. Das Recht auf Bildung musste hinter den Erfordernissen des Infektionsschutzes zurückstehen. Es stand so weit hinten, dass man es gar nicht mehr erkennen konnte, als die Schulen pauschal geschlossen wurden und der Staat den Eltern eine Aufgabe übertrug, die viele nur unter großen Mühen und andere gar nicht schultern konnten.

Von Bildungsgerechtigkeit kann keine Rede sein, wenn diese von der digitalen Teilhabe abhängt und viele ohnehin benachteiligte Kinder kein Laptop haben, um ein einfaches Beispiel zu nehmen. In einem System wie dem deutschen, in dem die Verantwortung immer hin und her geschoben wird und der schulische Erfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängt, wird sich die Kluft zwischen Arm und Reich durch die Maßnahmen zum Schutz der (körperlichen) Gesundheit weiter vergrößern. Man braucht keine neueren Forschungsergebnisse abzuwarten, um das zu wissen.

Das Starke-Bildungsgerechtigkeits-und-Schulbedarfspauschale-2,31-Euro-Teilhabegesetz (9 Bilder)

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Die Politik hat reagiert. Dank "Bildungspaket" und "Starke-Familien-Gesetz" erhielten armutsgefährdete Kinder, die Sozialleistungen beziehen, schon vor Corona pro Schuljahr eine Pauschale von 150 Euro für den "persönlichen Schulbedarf" (Bücher, Schreibmaterial usw.). Den Erfordernissen der neuen Zeit Rechnung tragend, sollen Kinder von sechs bis 13 Jahren nun zusätzliche 2,31 Euro monatlich bekommen, ab 2021 und "für Datenverarbeitungsgeräte sowie System- und Anwendungssoftware". 2,31 Euro monatlich. Wer 14 oder älter ist, geht leer aus.

So steht es in einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung. Es sind Vorhaben wie dieses, an denen man merkt, wo in der Corona-Krise die Prioritäten liegen. Bei der Bildungsgerechtigkeit für benachteiligte Kinder erkennbar nicht. Wie wäre es mit einem "Anti-Veralberungs-Gesetz", gern auch einem "Das-gute-Anti-Veralberungsgesetz"? Wer die berechtigten Anliegen hilfsbedürftiger Menschen nicht ernst nimmt wird mit Internetentzug nicht unter drei Monaten bestraft und muss einmal wöchentlich unsägliche Gesetzestexte abschreiben - händisch, weil die Anti-Veralberungs-Ministerin ihr oder sein Datenverarbeitungsgerät weggesperrt hat.

Bernard muss sich nicht mit einem Virus, sondern mit der atomaren Verseuchung herumschlagen, aber auch bei ihm gehören Quarantäne und Fernunterricht zu den Schutzmaßnahmen. Auf den ersten Blick wirkt sein Verhalten vorbildlich. Bildung wird bei Bernard ganz groß geschrieben. Schwer vorstellbar, dass er den Unterricht ausfallen lassen würde. Die Kinder teilen sich die gemeinsamen Lernmaterialien und technischen Hilfsmittel, die Startvoraussetzungen sind für alle gleich. Beim zweiten Blick dämmert es einem, dass Bernard eine radikale Form der sozialen Auslese betreibt. Schauen wir uns das also genauer an.

Königliche neue Welt

"Es war schwer für mich", sagt Losey im Interview mit Michel Ciment, "an die Idee zu glauben, dass der menschliche Organismus selbst radioaktiv sein und überleben konnte. Aber es war eine Gelegenheit, etwas über das britische System der Public Schools zu sagen und über die Kontrolle der Erziehung." Und über das Orwell’sche Doppelsprech, ließe sich hinzufügen. Bernard ist ein public servant (Staatsdiener), der das Licht der Öffentlichkeit (public) scheut und auf seine ganz eigene Weise interpretiert, wie er dieser zu dienen hat. Public Schools sind nur insofern "öffentlich", als - zumindest der Theorie nach - aufgenommen wird, wer die Gebühren bezahlen kann.

Die "öffentlichen" Schulen sind unabhängige, nicht direkt der Kontrolle des Staates unterworfene Privatschulen. Auf Internaten wie Eton oder Harrow lässt die Elite im Vereinigten Königreich ihren Nachwuchs erziehen, um "die erforderlichen Prinzipien der Führerschaft und der Tradition zu fördern und weiterzugeben", wie Dr Strangelove sagen würde. Tatsächlich leitet Bernard sein Projekt zum Überleben der Menschheit wie der nette, bei Bedarf auch strenge Direktor eines solchen Internats. Er bestimmt den Lehrplan und entscheidet, was die Kinder wissen dürfen und was nicht.

Königliche neue Welt (21 Bilder)

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Im Unterricht haben die Kinder gelernt, dass sie untereinander heiraten dürfen, weil sie nicht Bruder und Schwester sind. George beunruhigt bei der morgendlichen Fragestunde das Problem, dass es fünf Jungen und vier Mädchen sind, er oder einer der anderen Jungen also übrig bleiben wird, ohne Partnerin. "Deine Arithmetik ist fehlerfrei", lobt Direktor Bernard, "aber ich glaube nicht, dass du dir darüber schon Gedanken machen musst." Gedanken kann man sich nicht früh genug machen, sagt der Film, und Bernard selbst wird die Kinder bald zum Nachdenken auffordern, dies allerdings nur, wenn es ihm in den Kram passt.

Mit Georges Wortmeldung stellt Losey eine Frage in den Raum, die zu beantworten sein wird, sobald die Kinder im fortpflanzungsfähigen Alter sind: Wird die monogame Zweierbeziehung, mit Trauschein und Ehering, noch eine Zukunft haben, oder wird der Direktor Anleihen bei Heinrich Himmlers Germanenideologie machen, damit möglichst viele Nachkommen für die Herrenrasse gezeugt werden können? Die Antwort gab ein paar Jahre später Stanley Kubrick.

In Dr Strangeloves Zukunftsvision werden nach einer computergestützten Auswertung des Datenbestandes Amerikaner mit besonders erstrebenswertem (arischem) Genmaterial den Atomkrieg in unterirdischen Bergwerken überleben, ihre Nachkommen später an eine dann wieder bewohnbare Oberfläche zurückkehren. Das Verhältnis von Frauen zu Männern müsste 10:1 sein, um den Erfolg zu garantieren, meint Dr Strangelove. Für Spitzenfunktionäre aus Politik und Militär wird ein Sonderkontingent eingerichtet, weil sie sich mit der Weitergabe der "Prinzipien der Führerschaft und der Tradition" am besten auskennen. Der US-Präsident und der Chef des Generalstabs werden also mit in den Bergwerksschacht einfahren.

Losey und Kubrick haben verschiedene, zu ähnlichen Ergebnissen gelangende Herangehensweisen gewählt. Bernard ist keine satirisch zugespitzte Karikatur wie die Generale Buck Turgidson und Jack D. Ripper, sondern ein Idealist, der über Leichen geht. Das macht ihn so bedrohlich. Einstweilen betreibt er eine Art sozialer und bildungspolitischer Eugenik. Die Kinder, die kurz nach ihrer Geburt und nach dem Tod der Mütter in seine Obhut gegeben wurden, sprechen mit dem (erlernten) Akzent der englischen Oberschicht. Das hat mehr mit Gleichschaltung zu tun als mit einer gerechten Gesellschaft ohne Sozialgefälle.

Bernard war es wohl auch, der den Waisen ihre Namen gegeben hat: Victoria, Richard, Henry, Mary, Elizabeth, Charles, Anne, George, William. Das sind die Namen englischer Königinnen und Könige. Der Film spielt damit auf die Legende von König Artus an, der, so die Überlieferung, in einer unterirdischen Höhle schläft und wiederkehren wird, wenn England in größter Not ist (John Cowper Powys, dessen begeisterte Leser Losey und sein Designer Richard Macdonald waren, widmete sich dem Artus-Mythos in A Glastonbury Romance, bevor er Weymouth Sands schrieb).

In diesen Namen kommt die ganze Hybris von Bernard und seinem Projekt zum Ausdruck, und es wird verständlich, warum Losey keine Gelegenheit auslässt, um auf die royale Vergangenheit von Weymouth hinzuweisen, warum er die Drehorte danach auswählte. Für Bernard liegt im Atomkrieg auch eine Chance. Englands Zukunft soll königlich werden. Nach der Vernichtung allen menschlichen Lebens an der Oberfläche, so der Plan, wird eine neue, elitäre Gesellschaft entstehen, indem die Könige und Königinnen aus dem Bunker kommen und sich paaren.

Der Rest der Bevölkerung ist bei diesem Experiment, das alle Zuchtphantasien der Nazis in den Schatten stellt, verzichtbar. Repräsentiert wird das Ganze durch einen honorig wirkenden Wissenschaftler, einen älteren Herrn im Anzug, der von sich sagt, dem Staat zu dienen (nur: welchem Staat?) und dafür sein Privatleben zu opfern. In der Krise auf die Wissenschaft zu hören, sagt der Film, ist zu wenig, wenn sich diese Wissenschaft auf die Ofenrohrperspektive verengt. Es kommt auch auf die Folgen für die Gesellschaft an, und auf die Schäden am politischen System, die man für die Illusion von Sicherheit in Kauf nimmt.

Bangemachen gilt nicht

Demokratie und Rechtsstaat bleiben in The Damned auf der Strecke. Losey demonstriert den militaristischen Charakter des Unternehmens, ohne viele Worte dafür zu brauchen. Wie kleine Soldatinnen und Soldaten beim Appell laufen die Kinder (in Schuluniform) zu ihren Tischen, wenn die Glocke schrillt. Bernard verlangt Ruhe und Ordnung und dann die Kooperation der Schülerinnen und Schüler. Kooperation ist ein anderes Wort für Denunziation. Die Kinder sollen dem in paternalistischer Besorgnis handelnden Direktor verraten, wie viele Erwachsene sich bei ihnen befinden und sie ausliefern.

Begründung: Die "großen Leute" sind eine Gefahr für sie. Das Beschwören einer Gefahr ist seit jeher ein bewährtes Mittel, um an autoritäre Charaktere zu appellieren und deren Mitwirkung zu erlangen. Bernard wird wohl ein paar Extrastunden in Untertanenkunde einplanen müssen. Die Schülerinnen und Schüler sind unfolgsam. Unter den Tischen reichen sie eine Nachricht weiter, die einer der Jungen aufgeschrieben hat: "Sagt ihm nichts." Realistischerweise sollte das ein kleiner Zettel sein. Losey hat sich für Großbuchstaben auf einem Blatt Papier entschieden.

Bangemachen gilt nicht (16 Bilder)

The Damned

Das Blatt ist an einem Haltegriff befestigt wie das Transparent für eine Demonstration, die Bernard - unter Verweis auf die drohende Gefahr - sofort verbieten würde. Losey will das "Sagt ihm nichts" als politische Botschaft verstanden wissen. Deutlichkeit ist ihm wichtiger als ein dröger Realismus, dem ohnehin nie sein Interesse galt. Dabei ist er nicht das, was man heute einen "Corona-Leugner" nennen würde. Die Kinder sind das Produkt eines Atomunfalls und radioaktiv. Wer ungeschützten Kontakt mit ihnen hat, erkrankt oder stirbt. Das ist keine Erfindung von Bill Gates.

Die Botschaft ist eine andere. "Sie versuchen nur, uns Angst zu machen, Sir", sagt Victoria. "Wir glauben Ihnen nicht!" Losey hat eine extreme Großaufnahme für Victoria reserviert, als visuelles Ausrufezeichen. Das ist gegen jene Form von schwarzer Pädagogik gerichtet, wie sie etwa der österreichische Bundeskanzler an den Tag legte, als er am Beginn der Pandemie davor warnte, dass bald jeder im Familien- und Freundeskreis jemanden kennen werde, der dem Corona-Virus erlegen sei. Von sechsstelligen Opferzahlen in Österreich war die Rede, wenn man nicht entschlossen gegensteuere.

Jede Erziehungswissenschaftlerin kann einem sagen, dass man mit so etwas kurzfristige Erfolge erzielt, langfristig aber ein Problem kriegt, wenn sich das an die Wand gemalte Menetekel nicht mit der Wirklichkeit deckt. Unabhängig von der Frage, wie alternativlos oder nicht die Eingriffe in die Bürger- und Menschenrechte per Rechtsverordnung waren und sind, um das Virus einzudämmen: Nach der ersten Schockstarre des Publikums (auch der sehr braven Journalisten) genügten ein paar einfache Rechenbeispiele, um zu belegen, wie stark Sebastian Kurz übertrieben hatte.

In The Damned ist zu besichtigen, was aus der schwarzen Pädagogik werden kann. Was für Kurz die ritualisierte Pressekonferenz zur Verkündung neuer Schutzmaßnahmen (in Spitzenzeiten täglich von Montag bis Freitag, monatelang, nicht einmal Markus Söder konnte da mithalten), ist für Bernard die vormittägliche Fragestunde, auch mehr eine Verlautbarungsveranstaltung als die Einladung zur Kommunikation. Weil Bernard sie im Unklaren darüber lässt, was aus dem Kaninchen geworden ist, haben die Kinder ihre eigene Theorie gebildet.

Elizabeth spricht aus, was alle denken: "Sie haben das Kaninchen getötet, weil wir es geliebt haben! Sie haben ihm den Schwarzen Tod geschickt, weil wir es geliebt haben!" "Stimmt nicht", sagt Bernard. "Ich versuche, euch zu beschützen." Bisher hat das genügt, jetzt nicht mehr. "Das tun Sie nicht! Das tun Sie nicht!", skandieren die Kinder wie bei einer Protestversammlung gegen die Regierungspolitik. "Das tun Sie nicht!" Es geht nicht darum, ob jemand radioaktiv, an Corona erkrankt oder sonstwie infektiös ist. An keiner Stelle wird bestritten, dass Bernard eine sehr schwierige Aufgabe hat.

Der Protest gilt den Methoden, mit denen er die Aufgabe lösen will. Keine Kooperation mit Leuten, die einem Angst machen wollen, statt aufzuklären und nachvollziehbare Begründungen zu liefern, sagt der Film. In Loseys Fall war es die Angst vor Atomkrieg und kommunistischer Unterwanderung, die vielen seiner amerikanischen Landsleute das Hirn so sehr erweicht hatte, dass sie alles mitmachten, Abweichler denunzierten oder zumindest brav den Mund hielten, während andere zur Tat schritten und Leuten wie ihm die berufliche Existenz zerstörten, ohne Rücksicht auf von der Verfassung garantierte Bürgerrechte.

Sicherheitsindex

The Damned möchte ich all jenen ans Herz legen, die in der Corona-Krise dafür sind, das Demonstrationsrecht aufzuheben - so lange, "bis die Zeit gekommen ist", Verbote wieder zurück zu nehmen -, weil da auch Figuren ihr Geschäft betreiben, die an den Führer glauben, an die jüdische Weltverschwörung oder an das Sperma von Aliens in Medikamenten, oder weil Abstandsregeln und Maskenpflicht ignoriert werden. Wir haben eine Polizei, die dafür da ist, für das Einhalten von Regeln zu sorgen und sicherzustellen, dass demonstriert werden kann, auch wenn Bürger auf die Straße gehen, die das Regierungshandeln ablehnen und möglicherweise einen Sprung in der Schüssel haben.

Wenn plötzlich Reichsbürger, Nazis und seltsame Heilpraktiker die Berichterstattung dominieren, könnte das ein Indiz für das Versagen einer kritischen Öffentlichkeit sein, die sich zu lange in die häusliche Quarantäne zurückgezogen und geschwiegen hat. Warum haben andere europäische Länder den Unterricht für die Kinder sehr viel besser organisiert als wir? Warum gelten für Kulturveranstaltungen strengere Regeln als für Baumärkte und Wirtshäuser? Warum waren die großen Kirchen so lammfromm, als die Religionsfreiheit beschnitten wurde?

Warum wird ein Gesundheitsminister, dessen Haus die Auftragsvergabe bei der heimischen Maskenproduktion vermurkst und dabei sehr viel Geld versenkt hat, als potenzieller Finanzminister gehandelt, ausweislich seines tatkräftigen Agierens in der Krise? Meiner Wahrnehmung nach war die kritische Öffentlichkeit schon mal kritischer als in der Corona-Pandemie. Wer aber auf sachliche Kritik verzichtet, weil man in der Krise zusammenstehen und solidarisch sein muss (nicht solidarisch mit den Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern oder den Werten der Europäischen Union, nur solidarisch eben), braucht sich nicht zu wundern, wenn andere den frei gewordenen Platz einnehmen.

Vom bereits erwähnten Werner Heisenberg und seiner Unschärferelation ist zu lernen, dass sich das Beobachtete durch den Akt des Beobachtens verändert. Für Wissenschaftler ist das genauso bedenkenswert wie für Reporter. Fernsehteams müssen nicht reflexartig die Kamera draufhalten, wenn ein Reichsbürger, der weiß, wie man sich medientauglich inszeniert, die Fahne ausrollt. Warum nicht mal die Transparente der Geisteswissenschaftler zeigen, die demonstrieren gehen, um auf ihre schwierige Lage hinzuweisen, und auf die Langzeitfolgen einer Politik, die sich um so etwas nicht auch noch kümmern kann?

Mit jeder Talkshow steigt meine Bewunderung für Politiker und Journalisten, die da sitzen und genau wissen, was das für Leute sind, die auf einer Demo mit tausenden von Teilnehmern waren. Mir ist diese scharfe Beobachtungsgabe versagt geblieben, weshalb ich nur eine sehr heterogene Ansammlung von Menschen sehe, angetrieben von allen möglichen (und manchmal unmöglichen) Beweggründen. Offenbar ist es aber so, dass sich vier Gruppen identifizieren lassen: Rechtsradikale, Linksradikale (im Fernsehen ist man um Ausgewogenheit bemüht), Spinner und nützliche Idioten.

Die nützlichen Idioten lassen sich vor den Karren der Radikalen spannen. Jemandem mit der Vergangenheit von Joseph Losey würde angesichts dieses doch arg schematischen Befundes die Haare zu Berge stehen. Die FBI-Akten der McCarthy-Ära sind voller Informationen über Menschen, die sich auf einer schwarzen Liste wiederfanden, weil sie auf einer Veranstaltung für Bürgerrechte demonstriert hatten, an der auch (tatsächliche oder mutmaßliche) Mitglieder der KP teilgenommen hatten oder, noch schlimmer, die von "Kommunisten" (im McCarthyismus ein sehr dehnbarer Begriff) organisiert worden war. Das Anliegen trat da hinter der Frage zurück, in wessen Nähe man gesehen worden war.

Neun der "Hollywood Ten": Robert Adrian Scott, Edward Dmytryk, Samuel Ornitz, Lester Cole, Herbert Biberman, Albert Maltz, Alvah Bessie, John Howard Lawson und Ring Lardner Jr. / Bild: UCLA Library / public domain

Natürlich ist es ein Unterschied, ob man mit einem faktischen Berufsverbot belegt oder in einer Quasselsendung mit gespieltem Informationsanspruch pauschal als Schwachmat verunglimpft wird, weil man sich um seinen Laden sorgt, um die Zukunft der Kinder oder um die Verfassung der Gesellschaft, und diese Besorgnis auf die Straße trägt, weil man den Eindruck hat, sonst nicht gehört zu werden. Der Mechanismus aber, mit dem man zum Mitläufer abgestempelt wird, scheint mir ganz ähnlich zu sein. Schuldig per Assoziation.

Losey erhielt eine eigene Karteikarte als gefährlicher Subversiver in J. Edgar Hoovers "Sicherheitsindex", nachdem er im Oktober 1947 eine Kundgebung organisiert hatte, bei der Geld zur Unterstützung der 19 vom Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten vorgeladenen Filmschaffenden gesammelt wurde (zehn von den 19 wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie sich auf den ersten Zusatzartikel zur Verfassung beriefen und die Aussage verweigerten). Bert Brecht wurde am 30. Oktober vom Ausschuss befragt. Losey begleitete ihn in einem Akt echter Solidarität nach Washington. Zu dem Zeitpunkt gehörte dazu schon viel Mut.

Geschwächtes Immunsystem

Wer das Demonstrationsrecht (und andere für eine Demokratie fundamentale Rechte) zur Disposition stellt, bis die Gefahr für den Staat, die Gesundheit oder auch nur die Wahlchancen eines Politikers gebannt ist, könnte sich unversehens in einem von Kameras überwachten Bunker wiederfinden, mit einem Flachbildschirm, von dem aus Bernard zu den Kasernierten spricht, Informationshäppchen verteilt und die Kinder zum Mittagessen schickt, wenn eine von den infantilisierten Bürgerinnen eine Frage stellt, die er nicht beantworten will oder nicht beantworten kann. Das Mantra vom "auf die Wissenschaft hören" würde dann einen ganz anderen Klang kriegen.

Der Witz daran ist, dass unter solchen Bedingungen auch "die Wissenschaft" nicht funktionieren kann. The Damned hält dafür eine jene Szenen bereit, in der sich das Ungeheuerliche in scheinbar harmlosen Dialogen verbirgt, weil das ein Film ist, der uns auffordert, mitzudenken und permanent zu hinterfragen, was da vor sich geht. Leider müsse er ihn mit einem ernsten Problem behelligen, sagt Dr. Talbot in Bernards Büro. "Versuchen Sie, sich auf die praktische Seite zu beschränken", antwortet Bernard, "und versuchen Sie nicht, mir die wissenschaftlichen Details zu erklären".

Geschwächtes Immunsystem (14 Bilder)

The Damned

Einfach soll es sein und so, dass man das, was man einmal für richtig erkannt hat, nicht mehr in Frage stellen muss, weil das Berücksichtigen von Details nur Zweifel schürt, die man in der Praxis nicht brauchen kann. Das ist das Gegenteil von Wissenschaft, vorgetragen von dem Wissenschaftler, auf den der Minister hört, weil der Minister zunächst einmal Politiker ist und also in einem Metier tätig, in dem Zweifel nicht erwünscht sind. Das kann tödlich sein. Bei Talbots "Details" geht es darum, dass es früher einmal elf Kinder waren, nicht neun.

Zwei der Kinder starben, nachdem ihr Immunsystem kollabierte. Jetzt ist es bei der kleinen Mary soweit. Bernard lässt dem Mädchen eine Injektion verabreichen. Man ahnt, dass das auf Dauer wenig nützen wird. Es sind die Lebensumstände, die dem Immunsystem zu schaffen machen. Die fehlende Wärme (Zuneigung), das Eingeschlossensein ohne den direkten Kontakt zu anderen Menschen machen krank. Der Fernunterricht kann das so wenig kompensieren wie das Medikament, das Mary gespritzt wird.

Die Gegenmaßnahmen der Kinder gegen die permanente Überwachung sind auf eine rührende Weise hilflos. William hat ein System ausgetüftelt, wie er von den Kameraaugen nicht gesehen wird, indem er sich von einem toten Winkel zum anderen bewegt. Dann nimmt uns Losey mit in den Kontrollraum. Bernard freut sich gönnerhaft über den Einfallsreichtum seines Schülers, während Simon auf einem der Monitore durchs Bild huscht. Williams System klappt nur bei kleinen Menschen. Schlechte Aussichten für eine Zukunft, in der die Kinder so groß wie ihre erwachsenen Besucher sein werden.

"Das ist eine Krise!"

Wenn die Schüler nicht kooperieren, also die Bereitschaft zum Gehorsam vermissen lassen, muss Direktor Bernard, der für sie - wie Big Brother - nur als Gestalt auf einem Großbildschirm existiert, andere Saiten aufziehen. Hinter ihm fällt bedrohlich der Schatten von Freyas "Friedhofsvogel" auf die Wand, um noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Mann ein Agent des Todes ist, nicht des Lebens. Zugleich drückt der Vogel (in Verbindung mit der Kunst) "die Sehnsucht des Menschen nach der Freiheit" aus, wie Paul Mayersberg 1963 in der Zeitschrift Movie schrieb: "nicht die illusorische Freiheit des Davonsegelns, sondern eine Freiheit von der Angst vor Unterdrückung, eine Freiheit des Geistes".

Für die Kinder ist es ein schwerer Schlag zu erfahren, dass Bernard von ihrem Höhlenversteck weiß und es nur geduldet hat. Jetzt droht er, es ihnen wegzunehmen (es ebenfalls mit Kameras auszustatten), wenn sie nicht artig sind. Unter Bernards Tweedjackett stecken Major Holland und Captain Gregory in Personalunion. Gregory, zur Erinnerung, ist der Offizier, der als Gentleman "über Loyalität gebieten" will, statt als "brutaler Kerl" (Holland) Gehorsam zu erzwingen (siehe Teil 1). Was Gregory Loyalität nennt, heißt bei Bernard Kooperation.

"Das ist eine Krise!" (14 Bilder)

The Damned

Etwas, das Losey an seiner englischen Wahlheimat gar nicht leiden konnte, war die "Old School Tie"- Gesellschaft, wie er sie nannte, also die Netzwerke von Leuten, die mit der Krawatte signalisierten, dass sie eine der teuren Privatschulen absolviert hatten und zu einer sich gegenseitig begünstigenden Elite gehörten. Die richtige Schulkrawatte bringt selbst angesichts des drohenden Weltuntergangs noch Vorteile. Bernard weiß, wem er welche Aufgabe zuzuteilen hat. Gregory wird losgeschickt, um mit der angelernten Kultiviertheit des früheren Internatsschülers ein Interesse an Freyas Kunst zu heucheln und sie auszuspionieren.

James "Gentleman Jim" Villiers legt die Rolle leicht blasiert an, spricht mit dem Upper-Class-Akzent der Privilegierten, auf die er sich spezialisiert hatte und bleibt stets gut angezogen. Wenn er überprüft, ob der Schließmechanismus beim geheimen Zugang zu den Katakomben funktioniert, könnte er einer von den reichen Müßiggängern in Loseys The Go-Between auf einer Landpartie sein. Major Holland dagegen, von niedrigerer sozialer Herkunft als Captain Gregory, muss als "Frontkämpfer" - wie das unterbezahlte Personal englischer Krankenhäuser und Pflegeheime in der Corona-Pandemie genannt wird - den Schutzanzug überziehen und zu den radioaktiven Kindern in den Bunker gehen.

Weil die Kinder "trotzig" sind, statt mitzumachen, schickt Bernard den Major und zwei Soldaten in die Katakomben, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die unerwünschten Besucher herauszuholen. Im Klassenzimmer bricht unterdessen die Revolution aus. Die Kinder bewerfen die Überwachungskameras mit Gegenständen und verhüllen die Objektive. "Stillsitzen", ermahnt sie der Direktor per Lautsprecher. "Mit dieser Art von Destruktivität erreicht ihr gar nichts. Das ist eine Krise. Versucht jetzt, ruhig zu sein. Denkt, denkt. Am Ende werdet ihr tun müssen, was ich sage."

Denkt nach, aber tut es bitte so, dass dabei herauskommt, was ich von euch erwarte. Denn am Schluss, das sage ich euch gleich, wird euch nichts anderes übrig bleiben. Ein Schuft, wer dabei an gewisse Politiker denkt, die sich per Bildschirm an den mündigen Bürger wenden und dabei den Erziehungsbeauftragten geben, der bei Zuwiderhandlungen mit dem Rohrstock droht. Bayerns Ministerpräsident bekämpft das Coronavirus lieber von der Staatskanzlei aus, als den Landtag einzubeziehen, dessen Abgeordnete gewählt wurden, um die Regierung zu kontrollieren. Das ist schade.

Wäre es anders gewesen, müsste man sich jetzt nicht fragen, was durchdachte Strategie war und was eine aus dem krisenhaften Augenblick heraus geborene Sponti-Aktion. Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml jedenfalls kann dummerweise nicht mehr rekonstruieren, auf Basis welcher wissenschaftlichen Erkenntnisse Verordnungen zum Infektionsschutz erlassen wurden. Es gab sie wohl, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, "welche bei der Meinungs- und Willensbildung der Staatsregierung [. . .] Berücksichtigung fanden", aber offenbar waren es so viele, "dass eine aktenmäßige Erfassung nicht im Einzelnen erfolgen" konnte.

So steht es in einem Schreiben des Ministeriums an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, bei dem die Anwältin Jessica Hamed eine Normenkontrollklage gegen die bayerischen Anti-Corona-Verordnungen angestrengt hat. Klar ist, dass Grundrechte massiv eingeschränkt wurden. Wie es zur diesbezüglichen "Meinungs- und Willensbildung" kam, ist ohne schriftliche Unterlagen nicht mehr nachvollziehbar. Macht nichts. Sind ja nur von der Verfassung garantierte Grundrechte. Gesundheitsschutz ist wichtiger. Und der feste Wille des Ministerpräsidenten angesichts steigender Infektionszahlen. O-Ton Markus Söder: "Wir müssen jetzt die Zügel wieder anziehen."

Sprache ist verräterisch. Bitte untertänigst darauf hinweisen zu dürfen, hochverehrter Herr Ministerpräsident, dass Staatsbürger keine Pferde sind, die man an die Kandare nimmt. Halten zu Gnaden: Der Pappi-Ton, in den Sie Ihre Drohung kleiden, macht es nicht besser. Überzeugen dauert freilich etwas länger als bevormunden, und dafür hat man in der Krise leider keine Zeit, auch wenn die Krise seit acht Monaten andauert, oder eigentlich noch länger (sogar Trump wusste schon im Januar Bescheid). In der Krise muss sofort gehandelt werden. Über Fehler und Versäumnisse kann man später reden. Wenn die Zeit dafür gekommen ist.

"Ihr versteht nicht, was passiert", sagt Bernard zu den Kindern. Er selbst, auf dessen eingeschränkte Wahrnehmung Losey immer wieder hinweist, beginnend mit der ersten Begegnung im Hotel Gloucester, sieht in einer ironischen Wendung prompt nicht mehr, was in den Katakomben passiert. Mit den Kameras verliert er quasi sein Augenlicht (wie Gloucester in Shakespeares King Lear). Die Monitore im Kontrollraum werden blind. So schnell können einem in der Krise die Zügel aus der Hand genommen werden, wenn man zu sehr auf autoritäre Maßnahmen, Intransparenz und Paternalismus setzt.

Zeitalter der sinnvollen Gewalt

Bernard, in seiner Forschungseinrichtung eben noch allmächtig, ist auf die Rolle des Zuhörers reduziert, als in den Katakomben Schüsse fallen. Hier kulminiert, was am Anfang vorbereitet wird. In Weymouth überfallen King und die Teds Simon Wells und nehmen ihm sein Geld weg. Die Beute verballern sie am Schießstand einer Spielhalle an der Strandpromenade. Bei der nächsten Begegnung mit Simon tauchen ihre Köpfe hinter der Brüstung einer Brücke auf, als wären sie selbst die Ziele.

Die Teds, will uns das sagen, fühlen sich stark, wenn sie Zivilisten terrorisieren und sind doch selbst nur Schießbudenfiguren in einer Welt, in der Bernard über Leben und Tod gebietet, weil der Zweck die Mittel heiligt und der Staat "auf die Wissenschaft hört" (in Gestalt eines einzelnen Mannes, dessen Fachgebiet die Apokalypse und der leider betriebsblind ist). Die wirkliche Bedrohung ist woanders, bei Bernard und seinen Leuten, die mit Kings Bande durch Kleidung (schwarze Motorradkluft, schwarze Schutzausrüstung) und Accessoires (Kings Regenschirm, Bernards Stock) assoziativ verbunden sind.

Zeitalter der sinnvollen Gewalt (13 Bilder)

The Damned

Bis zum dritten Akt des Films scheint es, als seien die einen die Lehrlinge, die anderen die Profis. Das ändert sich, wenn Holland mit seinen Begleitern nach unten in die Katakomben fährt. Beim Verlassen des Aufzugs werden die Männer in den schwarzen Schutzanzügen von einem Teddybären erwartet (als Preis in der Schießbude ein Klassiker). Der Teddy sitzt da in einem Puppenstubensessel, neben zwei Brettspielen. Man sieht der Einstellung die Freude an, mit der Losey und Macdonald sie vorbereitet haben. Eigentlich müssten die Bewaffneten hier leichtes Spiel haben. Doch der Teddy ist eine Warnung.

Mit Überwachungskameras würde Bernard seine Büttel dirigieren wie Schachfiguren. Ohne technische Hilfsmittel sind die Chancen nicht mehr so ungleich verteilt. King, der Chef der Teddy Boys, schlägt einen der Soldaten nieder und nimmt ihm die Maschinenpistole ab. Die Schießbudenfigur schießt jetzt zurück. Losey schneidet eine Einstellung mit Joan und den Kindern in der Spieleecke dazwischen. Die Köpfe der Kinder sind nun nebeneinander aufgereiht wie vorher, auf der Brücke, die der Teds. So wird eine neue assoziative Verbindung etabliert, zwischen den Teds und Bernards Gefangenen.

Die Kinder sehen mit weit aufgerissenen Augen, was passiert. Das ist ein Bild des Entsetzens. King fängt an zu weinen, nachdem er einen der Soldaten erschossen hat. Ihre Reaktion auf die Gewalt stärkt die Verbindung zwischen den Außenseitern der Gesellschaft, zwischen dem Halbstarken und den radioaktiven Kindern. Bernard und seine Leute hingegen haben ein eher technokratisches Verhältnis zur Gewalt. Unemotional eingesetzt, ist sie nur ein Mittel zum Erreichen eines Zieles.

"Das Zeitalter der sinnlosen Gewalt hat auch uns eingeholt", sagt Bernard im Hotel Gloucester, nach dem Überfall der Teddy Boys auf Simon Wells. Dann zeigt The Damned, wie es ist, im Zeitalter der sinnvollen Gewalt zu leben, oder was vom Staat und seinem Vorzeige-Wissenschaftler als solche ausgegeben wird. Losey hatte schon in früheren Filmen bewiesen, dass er Actionsequenzen inszenieren konnte. Durch genaue Vorbereitung wie hier machte er sie vielschichtiger und damit interessanter.

Schwul = pädophil = Kommunist

Simon überwältigt Major Holland und nimmt ihm den Geigerzähler weg. Im Film wird nun Bernards Geheimnis gelüftet. Der Geigerzähler schlägt aus, wenn Simon sich den Kindern nähert. Simon und Joan beginnt zu dämmern, was mit den Kindern los ist. Simon flüchtet sich in die Hoffnung, dass es die Kleider sein könnten und fordert die Kinder auf, sich auszuziehen. Am nackten Oberkörper eines der Jungen tickt der Geigerzähler noch lauter als zuvor. Das ist nicht sehr realistisch, dafür aber wirkungsvoll.

Den Zensoren vom BBFC fielen zu der Szene, einer der schlimmsten in The Damned, in erster Linie Sex und Perversion ein. "Falls die Kinder wie Heranwachsende aussehen", kommentierte Audrey Field das von ihr begutachtete Drehbuch, "wollen wir jedenfalls von den Mädchen keine Einstellungen von vorne oder von der Seite, nicht in dieser Art von Kontext." Der Kontext ist die atomare Verstrahlung der Kinder, und auch die der Erwachsenen, die nach dem ersten Schock begreifen, was der tickende Geigerzähler für sie bedeutet.

Nicht für das BBFC. Für Frau Field war der Kontext, dass die Volltrottel, die als Publikum für diesen Film in Frage kamen, womöglich auch ins Kino gehen würden, um die knospenden Brüste kleiner Mädchen zu sehen und darin eine sexuelle Befriedigung zu finden. Das musste verhindert werden. Ob zwischen der von den Zensoren entdeckten kommunistischen Propaganda und der Pädophilie ein direkter Zusammenhang besteht, wird in den Akten des BBFC nicht weiter vertieft. Losey dürfte das bekannt vorgekommen sein.

Schwul = pädophil = Kommunist (11 Bilder)

The Damned

In McCarthys Amerika, das er verlassen hatte, galt die mit der Pädophilie in einen Topf geworfene Homosexualität als Indikator für eine kommunistische Gesinnung, und nicht nur das. Weil sich Schwule in einem Staat, der die Homosexualität unter Strafe stellte, verstecken mussten, sie also notgedrungen Erfahrung mit Heimlichtuerei hatten, galten sie als prädestiniert dafür, die fünfte Kolonne Moskaus zu bilden und den Umsturz vorzubereiten. Oft genug ist die Wahrheit von heute der Unsinn von morgen. Zumal bei Maßnahmen zur Sicherheit des Staates ist darum Vorsicht angebracht.

Leider wurde Friedrich Merz nicht zum Kommunismus befragt, als er bei "Bild live" erklärte, nichts gegen einen schwulen Kanzler zu haben, dass für ihn der Spaß aber da aufhöre, wo Pädophile kleine Kinder missbrauchen: "Über die Frage der sexuellen Orientierung, das geht die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft - an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht - ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion." Wenn Herr Merz nicht mag, könnte sich in diesem Kontext vielleicht Julia Klöckner zum Kommunismus äußern?

Frau Klöckner sprang ihrem Parteifreund bei und wies Unterstellungen zurück, dass dieser die Homosexualität mit der Pädophilie gleichgesetzt habe. Wenn bei Schwulen dieser Eindruck entstand, weil Merz zur Homosexualität die Pädophilie einfiel, als sei das eine nicht mehr tolerable Sonderform davon, sind sie selber schuld. Frau Klöckner ist die Ministerin mit der Pflicht zum Gassigehen. Aus gegebenem Anlass noch ein Formulierungstipp für den bayerischen Ministerpräsidenten: Das mit "die Zügel wieder anziehen" war nicht so geschickt. Wie wäre es mit "an die Leine nehmen", wenn die nächste Rechtsverordnung fällig wird, weil die Untertanen zu viel Auslauf haben?

Wer Verständnis hat muss nichts verstehen

Frau Field sorgte sich umsonst. Als hätte sie ihr Gutachten gelesen, weist Victoria Simon darauf hin, dass die Kinder ihre Uniformen nicht ablegen können. Das schickt sich nicht. Nur die Jungen ziehen ihr Unterhemd aus, dann ist die Aktion beendet. The Damned ist doch kein Film für Pädophile, so wenig wie für Volltrottel. Major Holland sagt, was der Kontext ist: "Die Kinder selbst sind radioaktiv." Simons entgeisterte Frage, was er und Bernard hier machen, beantwortet er mit einem Satz, der zum Standardrepertoire seines Chefs gehört: "Man kann von Ihnen nicht erwarten, dass Sie das verstehen."

Eben. Leuten, die sowieso nichts verstehen, muss man auch nichts erklären. Bernard allerdings ist geschickter als der eher simpel gestrickte, an das Kommandieren gewöhnte Major. Als guter Rhetoriker weiß er, wie hilfreich der Zeitfaktor ist. Die Uhr im Edgecliff Establishment zeigt fünf vor zwölf. In der Krise "schlägt die Stunde der Exekutive" (sehr beliebt auch in der Corona-Pandemie), die rasch handeln muss, um Schlimmeres zu verhüten. Verstehen wird durch Verständnis ersetzt - Verständnis dafür, dass jetzt nicht lange debattiert werden kann (eventuell sogar in einem Parlament, mit Opposition), sondern dass man das auf später verschieben muss, "wenn die Zeit dafür gekommen ist" (Bernard).

Wer Verständnis hat muss nichts verstehen (22 Bilder)

The Damned

Losey führt vor, wie man sich nicht anstellen sollte, wenn man unverständige Leute zur Kooperation (Loyalität, Solidarität) bewegen möchte. Simon will die Kinder aus ihrem Verlies befreien. Holland versucht, ihm Angst zu machen: "Das können Sie nicht tun, sie sind gefährlich." Das ist die Wahrheit, aber ohne irgendeine Begründung kommt der Major damit nicht gegen die Kinder an, die Simon anflehen, sie nach draußen zu bringen, in die Freiheit. Es nützt auch nichts, wenn Holland sein "Das können Sie nicht tun!" wiederholt und - aus Verzweiflung über die Ignoranz dieses Amerikaners, dem nichts erklärt wurde (so wenig wie den Kindern) - den Blick zu Boden senkt.

Losey fasst die Erbärmlichkeit dieser Art von Kommunikation in einem sprechenden Bild zusammen: Bernard sitzt sinnierend vor einem Monitor, auf dem nichts zu sehen ist. Vorher hat er noch seine Quarantäne-Truppe losgeschickt, um die Entflohenen wieder einzufangen. In Erinnerung bleibt die Einstellung, in der die Kinder, geblendet vom Licht der Sonne, aus der Höhle ins Freie stolpern. Shirley Anne Field mag schauspielerisch nicht immer ganz auf der Höhe sein, darf jetzt aber mit der kleinen Mary auf der Klippe sitzen und ihr zeigen, was sie bisher verpasst hat.

"Schau nur", sagt Joan mit Blick auf die Weite des Meeres. "Das ist die Welt." Der Gegenentwurf zu Bernards verengter Perspektive ist es auch. Um Mary die Angst vor der Größe der Welt zu nehmen gibt Joan ihr etwas Kleines, eine Blume. Bevor die Szene in den Kitsch abgleiten kann taucht aus dem Hintergrund einer von Bernards schwarzen Männern im Schutzanzug auf und trägt Mary davon. "Der Schwarze Tod kommt", schreien die Kinder und machen dadurch Freya auf sich aufmerksam, die ihnen so wenig helfen kann wie Sid, der zur Sicherung des Infektionsschutzes niedergeschlagen wird.

Die Kinder werden zurück in den Bunker gebracht. Bei dieser Verschleppungsaktion verrutscht der Rock eines der Mädchen und man sieht die Unterhose. Von Protesten des BBFC ist nichts bekannt. Wahrscheinlich stimmte jetzt der Kontext. Die Staatsmacht hat wieder die Oberhand. "Das sind Kinder, Bernard!", erinnert Freya ihren Ex-Geliebten, der sie ignoriert und Gregory darauf hinweist, dass Henry mit King entkommen ist, in Freyas Jaguar. Das ist eine der vielen feinen Ironien dieses Films.

Henrys Namenspatron, Heinrich VIII., war bekanntlich der König, der sogar den Bruch mit dem Papst in Rom in Kauf nahm und sich mit wechselnden Ehefrauen abmühte, um zur Sicherung der Dynastie einen (männlichen) Thronfolger zu zeugen. Ein bleibender Erfolg war ihm nicht vergönnt. Sein einziger legitimer Sohn starb mit 15 Jahren. Nach dem Tod von Heinrichs Töchtern Mary und Elizabeth (beide ebenfalls in Bernards Kindergruppe vertreten) war die Dynastie der Tudors nicht mehr existent.

In The Damned büchst der kleine Henry mit King aus, der die eigene Schwester begehrt und sich in gewalttätige Ersatzhandlungen flüchtet, um die verbotene Liebe zu Joan zu unterdrücken. Für Bernards Projekt, die Schaffung eines neuen Menschengeschlechts, ist das kein gutes Omen.

Der Mann, der alle Antworten kennt

Simon erkennt in Bernard den Mann wieder, dem er im Hotel Gloucester begegnet ist: "Ich habe Sie schon mal gesehen. Sie sind der Mann, der alles über die Gewalt weiß, stimmt’s? Sie sind der Mann, der alle Antworten kennt, stimmt’s? Warum tun Sie das? Was soll das alles?" Bernards Schweigen bringt Simon in Rage. "Antworten Sie mir!", brüllt er den Staatsdiener an. "Antworten Sie mir endlich!" Stärker als die Dialoge sind die Bilder. Losey zeigt Bernard aus extremer Untersicht. Er steht auf dem (unfruchtbaren) Felsen wie eine der Führerfiguren im Diktatorenkino. Ein Symbol der Repression.

Anstelle einer Antwort gibt Bernard Joan und Simon die Erlaubnis, zu ihrem Boot zu gehen und wegzufahren. Atomar verstrahlt, werden sie nicht mehr lange genug leben, um anderen zu erzählen, was sie in den Katakomben unter dem Edgecliff Establishment gesehen haben. Aus Bernards ursprünglichem Idealismus ist der pure Zynismus geworden. Als Zuschauer hat man kaum Zeit, sich darüber klar zu werden, wie brutal das ist. Durch die Entwicklung dazu gezwungen, muss Bernard sich Freya gegenüber doch noch erklären. Losey und sein Drehbuchautor Evan Jones machen daraus einen Horrortrip durch das geschlossene Denksystem dieses Wissenschaftlers.

Der Mann, der alle Antworten kennt (12 Bilder)

The Damned

Bernard erzählt, was es mit den Kindern auf sich hat und drückt sein Bedauern darüber aus, dass es bisher nicht gelungen ist, die Umstände zu reproduzieren, unter denen sie geboren wurden. Wäre es anders, gibt er unumwunden zu, würde er sofort zur Tat schreiten und weitere Kinder atomar verseuchen, um mehr Versuchskaninchen für sein Projekt zu haben. Das legt die Vermutung nahe, dass irgendwo auf dem Gelände dieser Forschungseinrichtung die Leichen der Probanden zwischengelagert sind, die Bernards bisherige Experimente nicht überlebt haben.

Menschenversuche sind für diesen Staatsdiener kein Tabu, zumal es einen internationalen Wettlauf um "den Schlüssel zum Überleben" (Bernard) gibt, den die Briten zufällig gefunden haben. In der Krise sucht man sein Heil im Nationalismus. Von den reflexartigen "Mein Land zuerst"-Reaktionen auf die Corona-Pandemie ist das nicht allzu weit entfernt, auch wenn es in den Sonntagsreden mancher verantwortlicher Politiker ganz anders klang und Experten mit guten Argumenten zur grenzüberschreitenden Kooperation aufriefen. Das "auf die Wissenschaft hören" war da doch eher selektiv.

Am Schluss seiner Ausführungen zitiert Bernard - auch eher selektiv, die Sanftmütigen lässt er weg - eine der zentralen Stellen der christlichen Heilslehre, die Bergpredigt (Matthäus 5:5). Seine Kinder, sagt er, seien der vergrabene Samen des Lebens. Wenn die Zeit gekommen sei würden sie hinausgehen, um die Erde in Besitz zu nehmen ("inherit the Earth"). Freya ist entsetzt und will nichts mehr davon hören. "Welche Erde, Bernard?", fragt sie. "Welche Erde wirst du ihnen hinterlassen? Nach allem, was der Mensch geschaffen hat und was er noch zu schaffen vor sich hat? Ist das das Ausmaß deines Traumes? Neun eiskalte Kinder in der Asche des Universums freizusetzen?"

Das ist sehr theatralisch, funktioniert aber recht gut, weil Viveca Lindfors die Verzweiflung Freyas glaubhaft über die Rampe bringt und ein Spannungsverhältnis entsteht, indem das Pathos der Künstlerin der unterkühlten Sachlichkeit des Wissenschaftlers gegenübergestellt wird. Bernard ist die Fleisch gewordene Alternativlosigkeit. Der Atomkrieg und die nukleare Verseuchung der Erde sind unvermeidlich, also geht es nur noch darum, sich darauf vorzubereiten. Sein Traum braucht die Apokalypse, weil sein Projekt nur erfolgreich sein kann, wenn vorher die uns bekannte Welt untergeht.

Bernard ist der Agent der Destruktivität und des Repressiven. Den Kindern ist er ein fürsorglicher Vater, aber er behandelt sie wie Objekte und Gefangene. Sein Projekt ist streng geheim, es findet in einer unterirdischen, vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgenen Welt der Bunker und Höhlen statt. Freya dagegen, die Vertreterin der Kreativität und des Expressiven, könnte exponierter kaum sein als auf dieser Klippe, auf der sie ihre Kunstwerke schafft. Bernard ist der Meister der Abgeschlossenheit und der Gefängnismauern (auch im Denken), Freya hat sich der Offenheit verschrieben.

Wissenschaft als die neue Religion

Ein Zitat des Physikers und Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker, sehr beliebt bei Verschwörungstheorien zugeneigten Gegnern der Corona-Politik. Bei Demos wird es gern auf Transparenten mitgetragen: "Zum Zweck der Machterhaltung wird man die Weltbevölkerung auf ein Minimum reduzieren. Dies geschieht mittels künstlich erzeugter Krankheiten." Weizsäcker, möchte man als Verschwörungsgläubiger meinen, war ein Prophet. Allerdings kann man sich schwer vorstellen, dass er solche Sätze geschrieben hat, wenn man eines seiner Bücher gelesen hat. Das Zitat ist erfunden. Warum nicht mal ein echtes nehmen?

1961, als Losey The Damned drehte, hatte Weizsäcker soeben eine erste Reihe von Vorlesungen abgeschlossen und mit einer zweiten begonnen, die er von 1959 bis 1961 an der Universität von Glasgow hielt. Im Rahmen der Gifford Lectures beschäftigte er sich mit der Rolle der Wissenschaft im Atomzeitalter. Unter anderen Vorzeichen, heute aber wieder sehr aktuell, zeigte er sich besorgt über eine Entwicklung, die seiner Wahrnehmung nach dazu führte, dass der Glaube an die Stelle des Zweifels und der permanenten Selbstkorrektur trat.

Wissenschaft als die neue Religion (9 Bilder)

The Damned

"Der Glaube an die Wissenschaft", lautet der am häufigsten zitierte Satz, "spielt die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit." Im Vereinigten Königreich wurde das nicht erst mit Erscheinen der Vorlesungen in Buchform (1964 unter dem Titel The Relevance of Science, deutsch als Die Tragweite der Wissenschaft) breit diskutiert, weil die Gifford Lectures ein fester Bestandteil des geistigen Lebens waren und Weizsäcker sich an die Vorgabe des Stifters gehalten hatte, sich einer einfachen, gut verständlichen Sprache zu bedienen. Lord Gifford, ein schottischer Richter, hatte sich Veranstaltungen zur Bildung und Erbauung breiter Schichten der Gesellschaft gewünscht, keinen akademischen Diskurs im Elfenbeinturm.

Egal, ob Losey und Jones die Debatte verfolgt hatten oder nicht, als sie das Drehbuch schrieben: Bernard ist der Wissenschaftler, vor dem Weizsäcker damals warnte. Erst stellt er sein Projekt durch ein Bibelzitat in einen religiösen Zusammenhang, dann fordert er Freya auf, an die unbedingte Richtigkeit seiner Sicht der Dinge zu glauben und sich ihm und seinen Leuten anzuschließen wie einer Sekte oder einem Geheimbund, und schließlich verlangt er von ihr, ein Schweigegelübde abzulegen, weil sie, nun im Besitz seines Geheimnisses, sonst sterben muss wie eine Ketzerin, die sich dem rechten Glauben verweigert.

Freya als Repräsentantin der Offenheit und des Expressiven kann nicht anders, als Bernards Ansinnen zurückzuweisen. Statt seiner Glaubensgemeinschaft beizutreten fordert sie ihn auf, ihr nicht die Zeit zu stehlen, die ihr noch bleibt. Auf der Klippe arbeitet sie weiter an der Skulptur eines ihrer Vogelmänner. Dazu hört man Seevögel und das Rauschen der anbrandenden Wellen. Während Bernard das Leben in einen Bunker sperren will und seinen im Grunde destruktiven Traum vom Neuanfang nach der atomaren Zerstörung träumt, ist Freya Teil der Elemente und bis zum letzten Atemzug kreativ. Die Künstlerin ist eine starke Frauenfigur, wie man sie damals im Kino äußerst selten sah.

Tod einer Künstlerin

Am Ende der Einstellung mischen sich Motorengeräusche in den Klang der Vögel und der Brandung. Der schon sehr kranke King und Henry rasen in Freyas Jaguar in Richtung Weymouth, verfolgt von zwei Helikoptern. Unterwegs werden sie gestoppt. Männer in Schutzanzügen bringen Henry zurück in die Bunkeranlage. King kann nach einem Handgemenge die Fahrt fortsetzen. Eskortiert von einem der Hubschrauber, rast er von der Brücke beim Royal Victoria Hotel in den Tod (vgl. Teil 1). Der Helikopter dreht ab, und wir sehen Simons Boot, die Dolce Vita, aus der Vogelperspektive.

"Wir können nochmal von vorn anfangen", sagt Simon zu Joan. "Wir können zurückgehen an den Anfang." Über ihnen fliegt der Helikopter, der ihr Sterben überwacht. Was den beiden nicht vergönnt ist, zurückzugehen an den Anfang, kann der Film. Wie zu Beginn bringt uns die Kamera auch am Ende vom Meer zurück zum Land. Bernard steht auf Portland Bill, der schnabelartigen Felsformation, und schießt auf Freya, die bis zum letzten Atemzug an ihrer Vogelmann-Skulptur arbeitet. Tödlich getroffen, fällt sie zu Boden. Freyas Sterbeszene endet mit einer Einstellung aus der Vogelperspektive, von einem die Leiche umkreisenden Helikopter aus.

Tod einer Künstlerin (23 Bilder)

The Damned

Kurz vor dem Kinostart erzählte Losey in der Zeitschrift Movie, dass Freya in seiner Fassung von einer anonymen Macht getötet worden sei, ganz unpersönlich. Man habe nur den Hubschrauber gesehen und die aus ihm abgegebenen Schüsse gehört. Die Columbia habe ohne sein Einverständnis und ohne seine Mitwirkung eine nachträglich gedrehte Einstellung mit dem mit einer Pistole bewaffneten Bernard eingefügt, der Freya jetzt tötet. Den Produzenten habe er deshalb angekündigt, jede Kopie mit dem schießenden Bernard, der er habhaft werden könne, höchstpersönlich in Stücke zu reißen.

Auf die amerikanischen Partner der Hammer hatte Losey ohnehin eine Wut, weil er sie dafür verantwortlich machte, dass The Damned erst mit großer Verspätung anlief und so vermarktet wurde (als zweite Hälfte eines Double Feature mit Michael Carreras’ eher langweiligem Psychothriller The Maniac), dass er keine Chance hatte, das von ihm intendierte, nicht auf leicht zu kategorisierende Genrefilme festgelegte Publikum zu erreichen. Die Einstellung mit dem schießenden Bernard sieht tatsächlich so aus, als sei sie nachträglich im Studio gedreht und ziemlich ungeschickt eingefügt worden.

Bernard mit Pistole wirkt wie ein die Flugaufnahme unterbrechender Fremdkörper und wie ein handwerklicher Fehler, der Reginald Mills, Loseys eigens mitgebrachten Cutter, kaum unterlaufen wäre. Andererseits schreibt der gründlich recherchierende Wayne Kinsey in seinem Buch Hammer Films. The Bray Studio Years, dass die Hammer den Hubschrauber wollte, der Freya im Vorbeifliegen erschießt. Losey, so Kinsey, habe erfolgreich bei der Columbia interveniert; die Hammer sei dann gezwungen worden, es so zu lassen, wie Losey es haben wollte, mit Bernard und der Pistole.

Die Evidenz der Bilder spricht mehr für Loseys Version. Das schließt nicht völlig aus, dass doch er es war, der sich ursprünglich für den schießenden Bernard entschied, dass er ihn gegen die Wünsche der Hammer durchsetzte und dass er es sich in der langen Zeit bis zum Kinostart im Mai 1963 anders überlegte. Sehr wahrscheinlich ist es nicht. 1969 drehte er mit Figures in a Landscape einen Film, in dem Hubschrauber mit gesichtslosen Piloten, als Symbol einer entindividualisierten Macht, hinter zwei Männern her sind. Das wird bis zum Schluss konsequent durchgehalten, ohne Rücksicht auf kommerzielle Erwägungen.

Freiheit der Kunst und der eigenen Meinung

Wie auch immer es bei The Damned genau gewesen sein mag: Die sinistren Hubschrauber, mit ihren Besatzungen in schwarzen Schutzanzügen, gehören zu den eindringlichsten Bildern des Films. Das Fliegen, üblicherweise mit Freiheit assoziiert, wird durch sie zum Teil einer Gefängniswelt. Die Helikopter sind Raubvögel, die Jagd auf Abweichler machen, auf Leute, die sich Bernard, dem Hohepriester einer zur Religion gewordenen Wissenschaft, nicht anschließen wollen und den Glauben an seinen Kult verweigern. Der Gegenentwurf ist Freya, die Schöpferin der Vogelmenschen.

Losey besteht im Interview mit Michel Ciment darauf, dass Elisabeth Frinks Mensch-Vogel-Hybriden Wesen ohne funktionstüchtige Flügel sind, deutet aber auch an, dass es nicht nur physische Käfige sind, denen es zu entfliehen gilt, sondern mehr noch solche des Geistes: "Freya, die Künstlerin, repräsentierte die Notwendigkeit und das Recht, wenn man dieses ausüben kann, sich selbst eine Meinung zu bilden, jeden Fall für sich zu beurteilen, was eine Art von Freiheit darstellt." Sie ist bereit, diese Freiheit mit dem Leben zu bezahlen. Das ist bei aller Theatralik dann doch ganz unpathetisch, mehr existentielle Notwendigkeit als Heldentat.

Freiheit der Kunst und der eigenen Meinung (10 Bilder)

The Damned

Was bleibt ist Elisabeth Frinks am Abgrund stehender "Bird Man", den (leeren) Blick hinaus aufs Meer gerichtet: "eine Skulptur", wie es im Drehbuch heißt, "welche die Beseeltheit des Menschen und seine Blindheit zum Ausdruck bringt". Ein Schnitt führt uns nach unten, zum Fuß der Klippe. Wir sehen die Portland-Felsen und hören die Stimmen der Kinder, die zurück in ihrem Quarantäne-Verlies sind und um Hilfe schreien. Die Kamera schwenkt nach rechts, dann folgt eine Einstellung mit den Esplanaden von Weymouth, wieder vom Meer aus gesehen wie am Anfang.

"Hilft uns denn niemand!", schreien die Kinder. "Hilfe! Bitte helft uns!" Niemand von den Urlaubern an der Strandpromenade kriegt es mit, oder vielleicht - das ist das eigentlich Beunruhigende - hat man sich in Weymouth schon so an die Schreie gewöhnt, dass man sie nicht mehr zur Kenntnis nimmt. In der Mitte des Bildes steht der Jubilee Clock Tower auf seinem Portlandsockel, der Uhrturm, bei dem Joan Simon anspricht und in eine Geschichte hineinzieht, die sie beide nicht überleben werden. "Sie werden nie wieder Kontakt zu einem anderen menschlichen Wesen haben", sagt Bernard zu Freya, bevor er die Bildhauerin tötet, weil sie sich seinem Apokalypsekult nicht anschließen will.

"Und wenn sie sterben", so Bernard weiter, "wird das Boot vernichtet." Nicht nur hier wird deutlich, warum Alexander Knox einer von Loseys Lieblingsschauspielern war. Knox sagt solche Sätze mit der Gnadenlosigkeit eines scheinbar der Rationalität verpflichteten Wissenschaftlers, der für sich erkannt hat, was das einzig Wahre und Richtige ist und der keine anderen Meinungen mehr zulässt und keine Zweifel am eingeschlagenen Weg, keine Skepsis, die für die Wissenschaft unentbehrlich ist. Das macht ihn zum Mad Scientist, ohne dass man es gleich erkennen würde.

Knox spielt Bernard mit kontrolliertem Understatement und ohne die Manierismen, die man von solchen Figuren erwartet. Das ist ganz im Sinne des Films, den Losey drehen wollte. Ein exaltierter, am Rande des Nervenzusammenbruchs stehender Wissenschaftler, der wie Frankenstein "It’s alive!", brüllt, wäre in die falsche Geschichte geraten. The Damned zeigt eine Gesellschaft, in der "der Ausnahmezustand zur neuen Normalität geworden" ist, um den Satz von Finanzminister Scholz aus dem März dieses Jahres zu zitieren, der vielfach nachgebetet und zur Zielvorgabe erklärt wurde, statt dass ihm energisch widersprochen worden wäre, weil der Ausnahmezustand das Gegenteil von Normalität ist.

Plötzliche Heimsuchung

Meine alte Penguin-Ausgabe von Daniel Defoes A Journal of the Plague Year enthält eine Einleitung von Anthony Burgess, dem Autor von A Clockwork Orange. Defoes Ziel, so Burgess, sei ein allegorisches: die Pest als Krankheit, mehr noch aber als eine Figur für eine tyrannische Besatzungsmacht. Von Defoe habe H. G. Wells gelernt, wie man eine Stadt unter der Anspannung einer plötzlichen Heimsuchung porträtiert (die Invasion vom Mars in The War of the Worlds).

"Wenn die post-Wellsianische Science Fiction ihre kollektiven Schrecken präsentiert - entweder in Worten oder im Film -, ist Defoe irgendwo im Hintergrund zu finden", schreibt Burgess. "Robinson Crusoe und das Journal sind die Prototypen aller von der Phantasie geschaffenen Werke, die den Menschen zeigen, individuell und kollektiv, wie er mit dem Entsetzlichen und dem Unerwarteten konfrontiert ist." Meistens wird das vom Beginn des Schreckens aus erzählt: die ersten Pesttoten, die Ankunft der Marsianer, das Herannahen des Kometen in Burgess' (sehr komischem) Weltuntergangsroman The End of the World News.

In Bernards Szenario ist es nicht viel anders. Der Atomkrieg wird kommen, und es gilt, sich darauf vorzubereiten. Bernard reklamiert für sich, das Unplanbare planen, die biologische Verwundbarkeit des Menschen überwinden und die Zukunft bestimmen zu können. In Zeiten der allgemeinen Verunsicherung und der Angst vor dem Tod, dessen Existenz man sonst gern verdrängt, ist so etwas sehr verführerisch. Man muss Bernard dabei nicht folgen. Losey tut es nicht. Bei ihm ist die "tyrannische Macht" eine eminent politische und damit ein Fall für Bürgerrechtler, nicht für Virologen und Epidemiologen oder - auf den Film bezogen - Nuklearforscher und Strahlenmediziner.

Einige Kritiker haben an The Damned bemängelt, dass da eine Welt behauptet wird, die unter ständigen Atomunfällen leidet (300 in den vergangenen 15 Jahren, sagt Bernard) und sich auf einen Nuklearkrieg zubewegt, man davon aber gar nichts sieht: keine Übungen des Zivilschutzes, kein Militär auf den Straßen, keine Strahlenopfer, keine mutierten Riesenameisen (Them!) und Riesenspinnen (Tarantula), kein Godzilla, der vor Weymouth aus dem Meer auftaucht. Gerade darin steckt der Horror. The Damned erzählt nicht den Anfang, sondern das Ende der von Burgess skizzierten Geschichte.

Dafür braucht man keine Riesenmonster. Alles hat sich so eingespielt, dass das Leben in einem Urlaubsort wie Weymouth seinen gewohnten Gang gehen kann. Für die Sicherheit ist das von Bernard befehligte Militär zuständig, nicht die Polizei. Dem Straßenbild sieht man das nicht an. Bobbys regeln weiter den Verkehr. Soldaten tragen Zivil, wenn sie das Edgecliff Establishment verlassen. Der Ausnahmezustand ist so sehr zur Normalität geworden, dass man ihn gar nicht mehr bemerkt, solange Menschen nicht von Helikoptern gejagt werden, in denen Männer in Schutzanzügen sitzen. Das ist ein autoritärer Albtraum.

Naturalismus-Anhänger werden einwenden, dass man die Hilfeschreie der Kinder in Weymouth nicht hören kann, weil ihr Gefängnis auf Portland Bill zu weit weg ist und sie hinter dicken Felswänden festgehalten werden. The Damned ist kein naturalistischer Film, sondern politische Science Fiction. Wenn Losey die Totale mit den Esplanaden von Weymouth mit den Hilferufen von Bernards Probanden kombiniert, steht das sinnbildlich für eine Gesellschaft, in der Ungeheuerliches passiert und dieses Ungeheuerliche kaum mehr wahrgenommen wird, weil man sich so sehr daran gewöhnt hat.

Alles im Zeichen der Sicherheit. Die bittere Ironie daran ist, dass diese mutmaßliche Sicherheit, falls Bernards Plan aufgeht, für die gesamte Bevölkerung in den Tod führen wird, mit Ausnahme von neun radioaktiven Kindern, oder wie viele davon noch übrig sein werden, "wenn die Zeit gekommen ist", der Atomkrieg also die Erde verwüstet hat. Besser, man verlässt sich nicht auf den starken Mann, der alle Antworten kennt und überlegt sich vorher, auf welche Wissenschaft man hören will. Es könnte sonst böse ins Auge gehen.

Deutschland 2030

Bernard hat die Macht über Leben und Tod. Einen wie ihn hat die Corona-Pandemie nicht hervorgebracht. Es wäre auch verfehlt, in einem Film von 1961 nach präzisen Übereinstimmungen mit der Gegenwart zu suchen. Andererseits erzählt The Damned vom Ende einer unheilvollen Entwicklung, die nicht gleich damit angefangen hat, dass Dissidentinnen wie Freya totgeschossen und unliebsame Zeugen von Hubschraubern ins Meer gejagt werden, ohne dass ein Polizeibeamter eingreift, weil die Polizei nicht mehr zuständig ist. Es gibt niemanden, der Bernard und seinen Leuten Einhalt gebieten würde. Widerstand kommt nur von einem Touristen, einer Künstlerin und einer Bikergang.

Wir leben nicht in einer Gesundheitsdiktatur. Weder Bill Gates noch George Soros haben die Weltherrschaft übernommen. Der Mitgliederschwund der großen Kirchen hat eingesetzt, ohne dass ein aus der DNS von Aliens gewonnener Impfstoff gespritzt werden musste, der gegen den Glauben an Gott immunisiert. Markus Söder hat sich mit Angela Merkel zu einer überinszenierten Veranstaltung im Königsschloss getroffen, ohne anschließend den Thron eines absolutistischen Herrschers zu besteigen.

Trotzdem haben die vergangenen Pandemiemonate bereits ausreichend Material geliefert, aus dem man das Drehbuch für einen Film über ein wenig erfreuliches Deutschland machen könnte, sagen wir ein Deutschland des Jahres 2030. Sobald es einen Impstoff gibt, wird es eine große logistische Herausforderung sein, diesen zu verteilen. Die Vorbereitungen laufen schon jetzt auf Hochtouren. Von vergleichbaren Bemühungen, die wachsende Zahl der Impfgegner mit Argumenten zu überzeugen, ist mir nichts bekannt. Das ist grob fahrlässig. Wo bleibt die sich an mündige Bürger richtende Informationskampagne?

Spätestens jetzt wäre die Zeit dafür gekommen, damit nicht wieder zu Ad-hoc-Maßnahmen gegriffen werden muss, wenn sie verstrichen ist. Was passiert, wenn die "Herdenimmunität" (unglückliches Wort) nicht erreicht wird, weil sich nicht genug Leute freiwillig impfen lassen? Werden dann aus Politikern, die keine Impfpflicht einführen wollen, Getriebene, denen nichts anderes übrig bleibt, weil bei einer dieser vom Fernsehen veröffentlichten Meinungsumfragen herausgekommen ist, dass das Volk eine solche mehrheitlich verlangt und der Gesundheitsschutz sie erfordert?

Man ist nicht gleich ein Impfgegner, ein "Covidiot" oder ein Rechtsradikaler, wenn man eine Impfpflicht skeptisch sieht. Eine solche Pflicht macht den Staat zum Souverän über unsere Körper. In meinem Science-Fiction-Film über das Deutschland des Jahres 2030 wäre darum Platz für Protagonisten wie Jens Spahn (Pressekonferenzen zur Präsentation neuer Maßnahmen, vorzugsweise in den Parlamentsferien) und Dr. Lauterbach (Fernsehsprechstunde bei Markus Lanz). Diese beiden Koalitionspolitiker würde ich als Vorbilder für meine Filmfiguren wählen, weil sie sich schon bei der Organspende für einen maximal invasiven Staat stark machten - um Leben zu retten, versteht sich.

Die sehr kontrovers geführte Debatte über das Gesetz zur Organspende war eine Sternstunde des Deutschen Bundestages, die einem derzeit weit entrückt erscheint. Mein Film-Spahn dürfte endlich den vom Original propagierten Immunitätsausweis einführen und eine sauteure Warn-App verpflichtend machen. Jeder Bürger, der noch kein Smartphone hat, müsste eines kaufen, weil die App sonst nicht funktioniert. Apple würde dafür versprechen, dem Finanzminister Steuern zu überweisen. Die Trump’schen 750 Dollar jährlich wären angemessen.

Infektionsschutzgesetz aus Gummi

Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Maskenpflicht. Einschränkung des Rechts auf Bildung. Einschränkung des Rechts auf freie Berufsausübung. Einschränkung der Religionsfreiheit. Die Corona-Krise, sagte Angela Merkel im März, sei die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Bei dem, was dann folgte, handelte es sich aber auch um die größten Eingriffe in die Grundrechte, die es in der Geschichte der BRD je gab. Dieser Befund ist davon unabhängig, ob man für oder gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist und ob solche Maßnahmen in anderen Ländern mit autoritäreren Methoden durchgesetzt wurden oder nicht.

Eingriffe dieses Ausmaßes müssen klar geregelt sein und auf einem rechtlich soliden Fundament stehen. Das geltende Infektionsschutzgesetz, das es ermöglicht, Gesetze durch Verordnungen zu ersetzen, genügt diesen Anforderungen nicht. In der Schule hatte ich einen Kollegstufenkurs, der "Wirtschaft/Recht" hieß (erst Wirtschaft, dann Recht). In diesem Kurs habe ich von der Existenz von etwas erfahren, das mein Lehrer, Herr Kasparbauer, "Gummiparagraph" nannte. Gummiparagraphen sind Paragraphen, die so ungenau formuliert sind, dass sie dehnbar sind und man sie leicht passend machen kann, wenn das gerade nötig ist. Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) ist ein einziger großer Gummiparagraph.

Ruth Bader Ginsburg, die kürzlich verstorbene Richterin am Supreme Court der USA, besuchte als junge Frau die legendären Vorlesungen von Vladimir Nabokov über die europäische Literatur an der Cornell University. Nabokov, erinnerte sie sich 2016 in einem Beitrag für die New York Times, "veränderte die Art, wie ich las und die Art, wie ich schrieb. Worte konnten Bilder malen, lernte ich von ihm. Das rechte Wort zu wählen, und die richtige Anordnung der Worte, illustrierte er, konnte beim Vermitteln eines Bildes oder einer Idee einen enormen Unterschied ausmachen."

Nabokov, so Ginsburg, habe ihre Arbeit als Juristin nachhaltig geprägt. Ich will nicht verlangen, Vorlesungen zur Literaturgeschichte in das Jurastudium aufzunehmen. Man darf sich aber wünschen, dass Gesetzestexte wie dieses IfSG-Monstrum von Leuten geschrieben würden, die über ein Minimum an historischem Bewusstsein verfügen, gepaart mit einem Minimum an sprachlicher Sensibilität. Nachdem auf 30 von 60 Seiten 19-mal das Wort "Ermächtigung" vorgekommen war und 27-mal das Wort "Verordnungsermächtigung" (einmal in Verbindung mit "Gesundheitsschädlingen"), habe ich mit dem Zählen aufgehört.

Durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 gelang es Adolf Hitler, das Parlament auszuschalten und die Verfassung auszuhebeln. Juden wurden zu "Schädlingen am Volkskörper" erklärt und mit Schädlingsbekämpfungsmitteln ermordet. Die laut IfSG per Verordnungsermächtigung zu bekämpfenden Schädlinge sind Krätzmilben und Kopfläuse, keine Juden. Trotzdem: Worte malen Bilder und machen den Unterschied aus. Vielleicht doch mal in Nabokovs Vorlesungen reinschauen und dann andere, historisch nicht vorbelastete Formulierungen suchen?

Wie wäre es mit einer Rechtsverordnung zur Sprachhygiene? Auch aus rhetorisch-taktischen Gründen wäre das nicht unklug. Man stelle sich vor, Saskia Esken (die Erfinderin der "Covidioten") empört sich in einer Talkshow über die "Mitläufer" bei den Anti-Corona-Demos, die - bisher mehr anekdotisch als mit Fakten belegt - von Neonazis gekapert werden. Ihr sitzt einer von den "nützlichen Idioten", ein "Querdenker" oder gar ein Rechtsradikaler gegenüber, der dieses Infektionsschutzgesetz tatsächlich gelesen hat und dreht den Spieß ganz einfach um, weil er noch weiß, mit welchem Vokabular die Nazis operierten. Das könnte peinlich werden.

Wie lange kann eine freiheitliche Gesellschaft, in der zum Infektionsschutz Grundrechte eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt werden, eine freiheitliche Gesellschaft bleiben? Zu welchem Zweck dürfen Freiheitsrechte suspendiert werden, welche Fristen gibt es, wie muss das inhaltlich begründet werden? Wer denkt, dass solche Fragen auf 60 Seiten IfSG klar geregelt sind, der irrt. Durch den als Reaktion auf die Pandemie neu in das Gesetz aufgenommenen § 5 wurde keine Abhilfe geschaffen. Er gibt nur dem Bund mehr Kompetenzen.

"Der Deutsche Bundestag stellt eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest", steht da. "Der Deutsche Bundestag hebt die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder auf, wenn die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht mehr vorliegen. Die Aufhebung ist im Bundesgesetzblatt bekannt zu machen." Wenn der Bundesminister es anordnet, müssen sich "Personen, die in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen oder eingereist sind und die wahrscheinlich einem erhöhten Infektionsrisiko für bestimmte bedrohliche übertragbareKrankheiten ausgesetzt waren" einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, der zuständigen Behörde Identität, Reiseroute und Kontaktdaten mitteilen etc.

So weit, so gummiartig. Ich persönlich bin der Meinung, dass einen auch dieses Juristendeutsch krank machen kann. Wahrscheinlich ist es ansteckend. Im Sinne des Gesundheitsschutzes habe ich den Versuch eingestellt, zu verstehen, welche der vom Minister erlassenen Verordnungen bis spätestens 1. April 2021 außer Kraft treten, oder auch bis zum 1. April 2022 (siehe § 5, Absatz 4). Ohnehin lehrt die Erfahrung, dass solche Sicherheitsgesetze wie in einem Ritual erst befristet und die Fristen dann verlängert werden. Das macht den rauen Charme dieser Gesetze aus.

Nummernbürger im Datencockpit

Sind Gesetze zum Schutz vor Gefahren erst in der Welt, wird man sie nicht mehr los. So war das mit den Gesetzen zum Schutz vor der RAF (1977 bis 1979) und zum Schutz vor islamistischen Terroristen (2001). Rasterfahndung, Telefonüberwachung, Absenken der Schwelle für Wohnungsdurchsuchungen, erweiterte Ermittlungsbefugnisse für Geheimdienste ohne richterliche Kontrolle wie bei der Polizei fingen als Ausnahmeregelungen zum Abwehren einer akuten Notlage an, wurden zur Prävention beibehalten, dann gewöhnte man sich daran.

Der Anlass, aus dem sie verabschiedet wurden, ist irgendwann verschwunden, aber die Gesetze sind noch da und werden in neuen Zusammenhängen zur Anwendung gebracht, für die sie ursprünglich nicht gedacht waren. Immer sind Überwachung und Datensammeln mit dabei. Die Gesetze haben nicht wirklich ein Verfallsdatum, wohl aber die mit ihnen abgegebenen Versprechen. 2007 wurde die "steuerliche Identifikationsnummer" eingeführt, zur "Modernisierung des Steuersystems". Damit einher ging das Versprechen, dass die jedem im Melderegister erfassten Bürger zugeteilte Nummer ausschließlich zu steuerlichen Zwecken genutzt wird und zu sonst gar nichts.

The Damned

Im Corona-Herbst des Jahres 2020 plant die Bundesregierung, aus der Steuer-ID eine "Bürger-Identifikationsnummer" zu machen. Weil das mit der "Modernisierung" 2007 so gut geklappt hat, wird es 2020 neu aufgelegt. Dieses Mal ist die "Modernisierung" der Verwaltung dran, mit dem "Registermodernisierungsgesetz" zur "Entlastung der Bürgerinnen und Bürger". Die "Steuer-Identifikationsnummer wird als zentrales und übergreifendes Ordnungsmerkmal in die Verwaltungsregister eingeführt", wie es im Behördendeutsch heißt. Verwechslungen seien dann ausgeschlossen.

Datenmissbrauch gibt es nicht. Bürgerinnen und Bürger kontrollieren den Datentransfer vom neuen "Datencockpit" aus. "Datencockpit statt Zettelwirtschaft", sagt Innenminister Seehofer. J. Edgar Hoover, der bedauernswerte FBI-Chef, musste sich noch mit Karteikarten abmühen. Hätte er schon vom Datencockpit aus arbeiten können, hätten seine Agenten Joseph Losey die Vorladung des Ausschusses für unamerikanische Aktivitäten an die richtige Adresse zugestellt. Als "unfreundlichem Zeugen" hätte man ihm den Reisepass abnehmen können, bevor er sich nach Europa absetzte, weil man da ein freierer Mensch sein durfte.

A propos Reisedokumente. Zwecks Umsetzung der EU-Verordnung 2019/1157 zur "Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise" wurde ein Gesetz zur "Stärkung der Sicherheit" auf den Weg gebracht. Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, als man verdächtigt werden musste, ein Verbrechen begangen zu haben, damit einem die Fingerabdrücke abgenommen werden konnten. Mit Krimis, in denen das so war, bin ich aufgewachsen. Dann waren die Flüchtlinge dran. Ab 2. August 2022, so der Zeitplan, werden wir alle wie Verdächtige behandelt.

Seit 2007 muss man einen Fingerabdruck abgeben, wenn man einen Reisepass möchte. Mit dem Gesetz "zum Aufbau einer echten Sicherheitsunion" wird die Fingerabdruckspflicht auf den Personalausweis ausgeweitet (rechter und linker Zeigefinger). Der ist auch verpflichtend, ab dem 16. Lebensjahr. Fingerabdrücken und Bürgernummer ist gemeinsam, dass sie sich nicht ändern. Man bleibt ein Leben lang kontrollierbar. Sollten die dem Gesundheitsminister in der Corona-Krise zugestanden Verordnungsermächtigungen im August 2022 doch nicht außer Kraft gesetzt sein, werden sich Mittel und Wege finden lassen, ihn ins Datencockpit zu lassen, damit er die Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen besser überwachen kann.

The Prisoner

Leider ist zu befürchten, dass sich in den Regierungsparteien, die diese Kontrollgesetze vor der nächsten Bundestagswahl noch verabschieden werden, kein Patrick McGoohan der Politik finden wird. McGoohan begehrte einst gegen einen Staat auf, der seine Bürger zur Nummer macht ("I am not a number! I’m a free man!") und versuchte unermüdlich, aus dem von Nummer 2 überwachten Village, einem Urlaubsort am Strand wie Weymouth, zu entkommen. Sollte ich jemals Zweifel gehabt haben, dass The Prisoner die beste Serie ist, die je gedreht wurde, wären sie durch die aktuellen Gesetzgebungsvorhaben verschwunden. Ein schwacher Trost.

Viel zu verzeihen

Wir werden einander viel zu verzeihen haben, sprach Minister Spahn. Fangen wir also damit an. Als das Beschämendste an den bisher ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist mir in Erinnerung geblieben, wie mit alten und hilfsbedürftigen, in Heimen untergebrachten Menschen umgegangen wurde. Auch das peinlich berührte Schweigen, von dem das begleitet wurde, war kein Ruhmesblatt für unsere Gesellschaft. Inzwischen scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass viele Maßnahmen überzogen, Heimbewohnerinnen oft unnötig allein waren.

Viel zu verzeihen (8 Bilder)

The Damned

Das Bekämpfen der Einsamkeit und ihrer seelischen Folgen stand nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste. Am schlimmsten traf es diejenigen, die sowieso schon am ärmsten dran sind: die Demenzkranken, die durch Kontaktsperren ihre Bezugspersonen verloren. Das psychische Leid, das daraus entstand, kann man nur erahnen. Bei den vielen Statistiken zu Toten, Infizierten und Genesenen vermisse ich Angaben dazu, wie viele Menschen allein sterben mussten, obwohl es andere Möglichkeiten gegeben hätte, abseits einer oft willkürlichen und in Einzelfällen - wie vielen Einzelfällen? - übertriebenen Regelwut.

Sterbenden wurde vorgeschrieben, wie sie die letzten Stunden ihres Lebens zu verbringen hatten, und wer dabei sein durfte. Das ist dann doch nicht mehr so weit entfernt von The Damned. Loseys Film liefert die Bilder (und Töne) dazu. Die wieder in die Quarantäneeinrichtung gesperrten Kinder haben ein letztes Mal um Hilfe gerufen. Auch James Bernards ein Gefühl der Einsamkeit hervorrufende Musik ist von der Tonspur verschwunden. Zu hören ist nur noch der Helikopter; der Helikopter, in dem die Männer in den schwarzen Schutzanzügen sitzen.

Auf der Leinwand erscheinen die Schlusstitel des Films, im Hintergrund die Dolce Vita. Es ist die Wiederholung einer Szene, die wir kurz zuvor gesehen haben. Joan und Simon, inzwischen selbst radioaktiv, aber nicht immun gegen die zerstörerische Kraft der Strahlung wie die Kinder, wollen über den Ärmelkanal nach Frankreich fahren. Der Helikopter begleitet sie, als anonyme Überwachungsinstanz. Dann ändert die Dolce Vita die Richtung, macht eine Kehrtwendung und fährt ziellos vor der Küste von Weymouth und Portland Bill herum. Simon und Joan sind zu schwach, um das Boot noch steuern zu können. Die Männer in den Schutzanzügen sehen ihnen aus sicherer Entfernung beim Sterben zu. Das ist beklemmend.

The Damned auf DVD und Blu-ray

Die - soweit heute noch verifizierbar - ungekürzte Fassung von The Damned ist erstmals in der Hammer Films: Icons of Suspense Collection (Sony, Region 1) auf DVD erschienen, zusammen mit fünf weiteren Hammer-Filmen: The Snorkel, Never Take Candy from a Stranger, Stop Me Before I Kill!, Cash On Demand und The Maniac (auch als Maniac verliehen) von Michael Carreras. Als Einzelausgabe gibt es dieselbe Version bei Sony Großbritannien (Region 2) auf DVD und - als Sie sind verdammt, deutsche Synchronfassung inklusive - bei Koch Media/Explosive Media auf DVD und Blu-ray, mit Booklet (Text von Glenn Erickson, offenbar nur in der ersten Auflage) und britischem Kinotrailer.

Die in jeder Hinsicht beste Ausgabe von The Damned (nur Blu-ray) ist in Faces of Fear enthalten, der vierten (von bisher fünf) Hammer-Boxen des britischen Labels Indicator, zusammen mit The Revenge of Frankenstein, The Two Faces of Dr Jekyll und Taste of Fear. Das bereits sehr umfangreiche Bonusmaterial zu den anderen drei Filmen wird bei The Damned noch übertroffen. Zusätzlich zur ungekürzten Losey-Version (96 Minuten) gibt es die gekürzte britische Kinofassung (87 Minuten), auf zwei separaten Blu-rays.

Der eher unspezifische, selten zum Bild passende Audiokommentar von Kat Ellinger und Samm Deighan (so etwas mag man, oder man mag es nicht) wird durch den Rest des Bonusmaterials mehr als wettgemacht: Informatives Booklet; 27-minütige Dokumentation; Portrait von Viveca Lindfors; Interviews mit Shirley Anne Field, Evan Jones, einigen der damaligen Kinderdarsteller sowie Filmemacher Gavrik Losey (Joseph Losey Sohn); David Huckvale (Biograph von James Bernard) zur Filmmusik; Reflexionen des wie immer sehr hörenswerten Filmhistorikers Neil Sinyard; Joe Dantes Trailer from Hell; und anderes mehr.

Als Einzelausgabe wird The Damned erscheinen, sobald die auf 6000 Exemplare limitierte Box vergriffen ist. So war das schon mit den Titeln der ersten, mittlerweile ausverkauften Hammer-Sammlung, Storm Warning! (Maniac, The Gorgon, The Curse of the Mummy’s Tomb, Fanatic). Dem Indicator-Label ist es zu verdanken, dass man sein eigenes Programm gestalten und The Damned außer in der Langfassung auch so sehen kann, wie der Film 1963 in britischen Kinos lief: gekürzt und im Double Feature mit (The) Maniac.

Wer Filme liebt, sich nicht von Streaming-Diensten abhängig machen will und nie ausreichend Englisch gelernt hat, sollte das tunlichst nachholen. Als Faustregel gilt: In England und/oder den USA findet man das bessere Angebot. Was DVDs und Blu-rays angeht ist Deutschland - von löblichen Ausnahmen wie der Edition Filmmuseum einmal abgesehen - ein Entwicklungsland. Wahrscheinlich wird es die bisher vergeblich totgesagten und sehr lebendigen Trägermedien irgendwann tatsächlich nicht mehr geben, bevor sich daran etwas ändert.

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