Der Einsatz von Uranwaffen in den jüngsten Kriegen des Westens

20-mm-Uranmunition. Bild: U.S. Navy / Public Domain

Ein Bericht über die Verwendung dieser verheimlichten Munition und deren Folgen und über Siegwart-Horst Günther, einem deutschen Arzt, der den Mut gehabt hat, darüber als Erster aufzuklären (Teil 1).

Bei Uranwaffen handelt es sich bekanntlich nicht um Atomwaffen (Nuklearwaffen), sondern um strahlende Granaten und Geschosse aus abgereichertem Uran (englisch: depleted uranium, abgekürzt: DU), also um DU-Munition.

Im Zusammenhang mit dem letzten militärischen Unterstützungspaket der USA für die Ukraine gebe es Hinweise, dass darin möglicherweise auch uranhaltige Munition für die neuen westlichen Panzer, die demnächst auf dem ukrainischen Schlachtfeld erscheinen sollen, enthalten sei, sagt der Militärexperte und Oberst a.D. der Bundeswehr, Jürgen Hübschen, der seit vielen Jahren einen informativen und kritischen sicherheitspolitischen Blog betreibt.

So sei davon auszugehen, dass bei dem US-amerikanischen Kampfpanzer M1 Abrams Geschosse aus abgereichertem Uran die gängige Munition ist. Auch der britische Kampfpanzer Challenger 2 kann Uranmunition verschießen.

Während über diese Möglichkeit des erneuten Einsatzes von Uranwaffen im medialen Mainstream Schweigen herrscht, wurde darüber vor einigen Tagen in den Nachdenkseiten1 und im Overton-Magazin2 informiert.

In diesen beiden Artikeln schreibt Jürgen Hübschen über den bisherigen Einsatz von uranhaltiger Munition in den jüngsten Kriegen des Westens, über den speziellen Verwendungszweck der uranhaltigen Geschosse und die mit einem solchen Einsatz verbundenen Risiken für die Soldaten auf beiden Seiten des Schlachtfelds, aber auch für die dortige Zivilbevölkerung. Diese Informationen sollten uns zutiefst beunruhigen.

Deshalb möchte ich im ersten Teil dieses Beitrags einen Text von mir, der 2017 in den Nachdenkseiten erschienen ist3 und leider wieder höchst aktuell werden könnte, in überarbeiteter Form mit einigen Ergänzungen meinen geschätzten Leserinnen und Lesern zur Kenntnis bringen.

Die US-Intervention 2003 in den Irak basierte auf einer Lüge

Viele politisch interessierte Zeitgenossen kennen die Bilder aus dem Weltsicherheitsrat der Uno, die aus dem Jahre 2003 kurz vor dem zweiten Irakkrieg stammen und zeigen, wie der US-amerikanische Außenminister Collin Powell mit einem kleinen durchsichtigen Röhrchen in der Hand, das er zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her bewegt, demonstriert, dass der Beweis unwiderruflich erbracht sei: Der Irak ist im Besitz von Massenvernichtungswaffen.

Das war die Begründung und Rechtfertigung für den bald darauf folgenden völkerrechtswidrigen zweiten Angriffskrieg gegen den Irak, der dieses Land zerstört und neben etwa einer Million toter Zivilisten eine verelendete Bevölkerung mit vielen hunderttausend verwundeten und kranken Menschen zurückgelassen hat.4 Heute wissen wir, dass diese Begründung eine ungeheuerliche Lüge war.

Was Collin Paul darüber hinaus verschwiegen hat und die meisten Zeitgenossen bis heute nicht erfahren haben, weil es in den Leitmedien seit langer Zeit kein Thema mehr ist: Schon im ersten Irakkrieg 1990/91 (zweiter Golfkrieg) haben die USA und ihre Alliierten zum ersten Mal Uranwaffen in Form von vielen Tonnen Bomben und Granaten aus abgereichertem Uran eingesetzt. Jürgen Hübschen gibt an, dass von Experten geschätzt wird, dass in diesem Krieg 320 Tonnen DU-Munition eingesetzt worden sind.5

DU ist ein Abfallprodukt der Atomindustrie bei der Herstellung atomarer Brennstäbe aus Uran 235 und enthält noch circa 60 Prozent der Radioaktivität des ursprünglichen Uranerzes auf Grund seines Gehaltes an Uran 238, einem langsam zerfallenden Alpha-Strahler mit einer Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren.

Der Einsatz von Uranwaffen wurde von den USA und Großbritannien aber zunächst geleugnet, bis der ehemalige US-Justizminister Ramsay Clark 1997 die verbrecherischen Praktiken des Pentagons mit seiner Streitschrift mit dem Titel "Metal of Dishonor" (wörtlich übersetzt: Metall der Unehre, damit ist abgereichertes Uran gemeint) offengelegt hat.6

Im zweiten Irakkrieg 2003, dem dritten Golfkrieg, sollen es dann etwa 2.000 Tonnen Uranmunition gewesen sein, die gegen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, Bunker und Bauwerke aus Stahlbeton abgeschossen worden sind.7

Das hat zu den Folgen geführt, die von Frieder Wagner in seinen beiden erschütternden Dokumentarfilmen, Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra8 und Deadly Dust- Todesstaub: Uranmunition und die Folgen9, so eindringlich aufgezeigt worden sind.

Uranwaffen – seit 2001 ein Tabu-Thema in Deutschland

Claus Biegert, freiberuflicher Autor, Rundfunkjournalist und Filmemacher, hat in einem lesenswerten Buchbeitrag beschrieben, wie das Thema Uranwaffen aus den Medien verschwand.10

Im Januar 2001 hat der Journalist Siegesmund von Ilsemann, langjähriger Militärexperte des Spiegel, die letzte Veröffentlichung zu diesem Thema geschrieben, die zu einer großen Mediendebatte führte. Der damalige Verteidigungsminister Scharping geriet unter Druck, weil Vorwürfe erhoben wurden, dass DU-Munition auch im Krieg gegen Serbien und im Kosovo 1999 eingesetzt worden war.

Scharping rechtfertigte den Einsatz und erklärte: "Uran wird als Metall, nicht als strahlendes Material verwendet. Deshalb haben auch alle Untersuchungen ergeben, dass die Strahlung aus diesem Uran unterhalb der natürlichen Umwelteinflüsse liegt."

Claus Biegert hat diese Erklärung des Ministers trefflich kommentiert: "Uran, das nicht strahlen soll, strahlt auch nicht! Der Minister als Magier".11

Minister Scharping stellte darauf einen Arbeitsstab zusammen, der die Ungefährlichkeit der Uranmunition bestätigen sollte. Zum Leiter wurde Theo Sommer, der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber der "Zeit", ernannt. Weitere Mitglieder waren ein Redakteur der FAZ, ein Vertreter der "Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik" und eine Reihe hoher Militärs. Auf Wissenschaftler glaubte man verzichten zu können.

Der Arbeitsstab kam zu dem gewünschten Ergebnis, das dann im Sommer 2001 in der Zeit in einem Artikel von Gero von Randow mit dem Titel "Die Blamage der Alarmisten" veröffentlicht wurde. Seitdem wird das Thema in den überregionalen Leitmedien und der Regionalpresse in Deutschland bis auf seltene Ausnahmen nicht mehr aufgegriffen.12

Eine Erklärung dafür sei, meint Claus Biegert, dass mächtige Institutionen kein Interesse an einer Diskussion des Themas haben, denn das internationale Recht sieht vor: Für die Beseitigung von Kriegsmaterial, vergifteten Böden und Wasser sind die Verursacher verantwortlich.

Für zivile Opfer müssten sie sich vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Und eine Ächtung der Uranwaffen schmälere nicht nur die Gewinne der Waffen- und Transportindustrie, sondern sie werfe auch Fragen der Entschädigung auf, die nicht vorgesehen waren.

Was sagt die Wissenschaft zum Thema Uranwaffen?

Journalisten, die sich mit der Tabu-Erklärung des Themas Uranwaffen nicht abfinden wollen, müssen immer wieder erleben, dass ihnen vorgeworfen wird, sie würden einer "Verschwörungstheorie" aufsitzen.

Das ist ja ein Totschlagargument und bedeutet, dass die so Beschuldigten entweder naiv sind oder keine Ahnung von der Materie haben. Dem Journalisten Claus Biegert, dem Filmemacher Frieder Wagner und auch dem Arzt Siegwart-Horst Günther ist es so ergangen. Deshalb wollen wir uns an einem Beispiel ansehen, was heute die Wissenschaft zum Thema Uranwaffen zu sagen hat.

Zu diesem Thema liegt seit 2012 ein umfangreicher Report der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) vor, der in Zusammenarbeit mit der ICBUW (International Coalition to Ban Uranium Weapons) Deutschland erarbeitet wurde.13

Dieser Report mit dem Titel "Die gesundheitlichen Folgen von Uranmunition. Die gesellschaftliche Debatte um den Einsatz einer umstrittenen Waffe" macht deutlich, dass ein Verbot von Uranwaffen aus ärztlicher und politischer Sicht die einzige Konsequenz aus den zahlreichen vorgestellten und kritisch bewerteten wissenschaftlichen Forschungen, Feldstudien und Rechtsexpertisen über dieses Thema sein kann, um weiteres Leid von Zivilbevölkerungen und Militärpersonal zu verhindern und die Verseuchung unserer Umwelt über Millionen Jahre so gering wie möglich zu halten.

In der Zusammenfassung heißt es, dass der Report unter anderem belegt:

  • Uranmunition unterscheidet in ihrer Mittel- und Langzeitwirkung nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten.
  • Inkorporiertes DU wirkt als Schwermetall chemotoxisch und als radioaktive Substanz radiotoxisch. Die chemischen und die Strahleneffekte ergeben einen Wirkungscocktail, bei dem oft nicht eindeutig zugeordnet werden kann, ob die Ursachen von der giftigen Wirkung des Schwermetalls oder von der Alpha-Strahlung des Urans herrühren. Fest steht allerdings: Die beiden Schadwirkungen- Chemo- und Radiotoxizität- verhalten sich synergistisch, das heißt, sie verstärken im menschlichen Körper gegenseitig ihre spezifischen Zerstörungs- und Veränderungskräfte.
  • Uranwaffen schädigen den Körper in vielfältiger Weise und gefährden nicht nur die exponierten Personen, sondern auch ihre später gezeugten Kinder. Die häufigsten Gesundheitsschäden sind: Chromosomenschäden (Mutagenität und Karzinogenität), Schädigung der Nieren und des Nervensystems, angeborene Fehlbildungen, transgenerationelle Effekte, das heißt, schädigende Effekte können auch die Kindeskinder betreffen, und Fertilitätsstörungen. Die Gefahr, an Krebs zu erkranken, nimmt bei mit DU- exponierten Personen hoch signifikant zu.
  • Abgereichertes Uran, das im Skelett gespeichert und in den Lymphknoten oder in der Lunge angesammelt wurde, verbleibt über Jahre bis Jahrzehnte im Körper. In den Körper eingedrungene DU-Splitter geben ihre giftigen Wirkstoffe und Strahlen lebenslang ab.
  • Weil DU beim Aufprall teilweise zu einem Aerosol umgewandelt wird, sind die Umweltfolgen mannigfaltig. Durch Wind und Wiederaufwirbelungen, zum Beispiel beim Pflügen, verteilt sich das Aerosol auf einer größeren Fläche. Bei einer Treffergenauigkeit der uranhaltigen Waffen von ca. zehn Prozent liegen viele Geschosse unerkannt bis zu einem Meter tief unter der Erde. Je nach Bodenbeschaffenheit wird die toxische Wirkung entweder "verkapselt" oder es sind – im Gegenteil – weitere Erdschichten oder das Grundwasser von Kontamination bedroht. Wetterbedingte Erosionen sind langfristig eine zusätzliche Gefahr.
  • Die Dekontamination muss großflächig erfolgen. Sie ist schwierig, aufwendig und teuer und gelingt in der Regel nicht vollständig.

Der Report stellt für die betroffenen Staaten wie Nationen auf dem Balkan oder im Irak, aber auch für die Verwenderstaaten und die Weltgemeinschaft weiter unter anderem fest:

  • Die betroffenen Staaten müssen von den kriegführenden Parteien schnell umfassende Informationen über den Einsatz von DU-Munition erhalten und die betroffene Bevölkerung muss über die Risiken von DU-Munition informiert und im praktischen Umgang mit verseuchten Materialien geschult werden.
  • Die Verursacherstaaten und die Weltgemeinschaft sind in der Pflicht, die Gefahren für die Zivilbevölkerung und ihre Leiden so gering wie möglich zu halten, dies schließe auch fiskalische, das heißt, die Staatkasse betreffende Verantwortung für die Verwenderstaaten nachdrücklich ein.
  • Um das Ausmaß der gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von DU-Munition einschätzen zu können, sind unabhängige epidemiologische Forschungen notwendig, die in erster Linie von den Verwenderstaaten zu finanzieren sind.
  • Weiterhin ist der Aufbau eines Fehlbildungs- und Krebsregisters von großer Bedeutung, da ohne solche Register die Vergleichsgrößen für wissenschaftliche Studien in den betroffenen Regionen fehlen.

Im vorliegenden Report wird auch das Völkerrecht daraufhin untersucht, ob die bestehenden zwischenstaatlichen Verträge beziehungsweise das Gewohnheitsrecht ein Verbot von DU-Munition ermöglichen. Obwohl sich viele Uno-Mitglieder für ein Verbot einsetzen, sind uranhaltige Waffen derzeit ja leider noch nicht explizit verboten.

Das ist bekanntlich bei den Atomwaffen inzwischen anders: 2017 haben 122 Staaten der Uno den Atomwaffenverbotsvertrag verabschiedet, für den ICAN, ein internationales Bündnis von Nichtregierungsorganisationen, das sich viele Jahre für die Abschaffung aller Atomwaffen durch einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag eingesetzt hat, 2017 den Friedensnobelpreis erhielt. Auch die IPPNW ist Teil dieses Bündnisses.

Inzwischen haben über 50 Staaten diesen Vertrag ratifiziert, sodass er 2021 in Kraft getreten ist. Kürzlich fand in Wien die erste weltweite Staaten-Konferenz zum UN-Atomwaffenverbot statt, an der Deutschland mit einem Beobachterstatus vertreten war. An dieser Konferenz hat auch eine Vertreterin unserer IPPNW-Gruppe in Kiel teilgenommen.14

Nach Meinung der Autoren des hier zur Rede stehenden IPPNW- Reports aus 2012 über die gesundheitlichen Folgen von Uranwaffen könnte jedoch schon heute auf Grund der Bestimmungen des Humanitären Völkerrechts und speziell des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen für ein Verbot von Uranwaffen argumentiert werden, denn das Zusatzprotokoll verbietet Angriffe "..bei denen Kampfmethoden oder -mittel angewendet werden, deren Wirkungen nicht entsprechend den Vorschriften dieses Protokolls begrenzt werden können".

Grundsätzlich verboten ist eine Kriegsführung, die nicht zwischen Kombattanten und Zivilpersonen unterscheidet beziehungsweise die Umwelt schädigt. Mit dieser Argumentation setzt sich seit Jahren der Berliner Völkerrechtler Prof. Mohr, einer der Autoren des Reports, für ein Verbot von Uranwaffen ein.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch noch, dass auf nationaler Ebene Gerichte sowohl in Italien als auch in Großbritannien in der jüngeren Vergangenheit Soldaten beziehungsweise deren Angehörigen Entschädigungen dafür zugesprochen haben, dass die Soldaten im Einsatz abgereichertem Uran ausgesetzt gewesen waren.

In den USA dagegen verharrt die Rechtsprechung auf dem Stand, dass grundsätzlich keine Entschädigung für im Militärdienst erlittene Gesundheitsschäden gewährt wird.

Zum Abschluss dieses Kapitels soll noch auf eine epidemiologische Studie hingewiesen werden, die im Jahre 2010 in der in Basel herausgegebenen renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift "International Journal of Environmental Research and Public Health" erschienen ist. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Region von Falludscha im Irak, die 2004 sehr umkämpft gewesen ist, eine höhere Rate an Krebs, Leukämie und Kindersterblichkeit aufweist als Hiroshima und Nagasaki im ersten Jahr nach dem Atombombenabwurf.15

Wer war Siegwart-Horst Günther?

Siegwart-Horst Günther war ein deutscher Arzt, der Zusammenhänge zwischen der im Irakkrieg verwendeten Uranmunition von Seiten der USA und ihrer Alliierten und dem gehäuften Auftreten von Leukämien, Krebserkrankungen und Missbildungen bei Säuglingen und Kleinkindern schon 1991 vermutet und als Erster bewiesen hat, dass die zurückgeblieben Geschosshülsen auf den Schlachtfeldern, mit denen die Kinder spielten, aus abgereichertem Uran bestanden und radioaktiv strahlten.

Prof. Günther verstarb nach langer und schwerer Krankheit im Januar 2015 in einem Alten- und Pflegeheim in meiner Heimatstadt Husum an der Nordsee mit fast 90 Jahren. In der regionalen Zeitung erschien von einem Freundeskreis eine Traueranzeige. Ansonsten wurde sein Tod von den Hauptmedien nicht zur Kenntnis genommen. Es ist eine Schande, dass der Tod dieses außergewöhnlichen und bedeutenden Menschen den regionalen und überregionalen Medien damals keine Redaktionszeile wert gewesen ist.

Er hat uns aber zum Glück ein Buch hinterlassen, das spannend und lesenswert ist und autobiographische Skizzen von der Zeit seiner Kindheit und Jugend bis in die Zeit nach dem zweiten Irakkrieg Anfang der 2000er Jahre enthält.16

Und es gibt die zwei oben erwähnten erschütternden Dokumentarfilme von Frieder Wagner, die auf YouTube leicht aufgerufen werden können, so dass man jederzeit auf dem Monitor oder der Leinwand Prof. Günther erleben kann.17

Siegwart-Horst Günther wurde 1925 in einem Dorf in der Nähe von Halle an der Saale geboren. Die Mutter war aus Polen gebürtig und stammte aus einer polnisch- jüdischen Familie. Wegen ihrer jüdischen Herkunft gab es familiäre Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, die auch das weitere Leben des Jungen geprägt haben. Der Vater, Lehrer an einer einklassigen Dorfschule, war streng konservativ und nationalistisch eingestellt. Seit 1931 waren beide Eltern in der NSDAP, ab 1935 begann eine Parteikarriere des Vaters, der stellvertretender Gauleiter von Halle wurde.

1931 erfolgte die Einschulung und 1935 der Wechsel an die Oberrealschule in Halle. Wegen Schulproblemen wechselte er dann 1939 an die Dr. Karl-Peters-Schule, die "Reichskolonialschule", nach Berlin-Pankow, wo er bei seiner Tante lebte. Er hatte dort eine glückliche Zeit bis zu seinem Abitur 1941. Hier wurde auch sein Interesse für fremde Länder geweckt.

1942 absolvierte er den Reichsarbeitsdienst, meldete sich anschließend als Kriegsfreiwilliger und wurde als junger Offizier an der Ostfront eingesetzt, wo er mehrfach schwer verwundet wurde. Nach seiner Wiederherstellung kam er als Kurier zwischen dem Bendlerblock in Berlin und dem deutschen Militärkommando in Paris zum Einsatz. Im Bendlerblock war damals der Sitz der militärischen Widerstandsgruppe, die das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 durchgeführt hatte.

Nach dem fehlgeschlagenen Attentat wurde Günther verhaftet, mehrere Wochen im Gestapo-Gefängnis inhaftiert und danach in das KZ Buchenwald eingewiesen, wo er wegen seines schlechten Gesundheitszustands die Befreiung im April 1945 vom Krankenrevier aus erlebte.

Unmittelbar nach der Entlassung aus dem KZ als "Muselmane" (54 kg bei 1,86 m Körpergröße) begann er in der Hungerzeit nach 1945 sein Medizinstudium in Jena und legte dort 1949/50 das Staatsexamen ab.

1951 arbeitete er nachmittags als Assistenzarzt in der Universitäts-Frauenklinik in Jena und vormittags als Lehrbeauftragter im dortigen Physiologischen Institut und zusätzlich an einer tierexperimentellen Arbeit zum Thema Sterilität. 1953 erfolgte die Promotion. 1954 wechselte er an das Physiologische Institut der Humbold-Universität in Berlin als Dozent und Vertreter des Institutsleiters, der in den Westen gegangen war. Im selben Jahr erfolgte die Habilitation. 1957 wurde er im Fach Physiologie zum jüngsten Medizinprofessor der DDR ernannt.

Im selben Jahr erhielt er einen Ruf an das Physiologische Institut der Universität Kairo und begann dort eine dreijährige umfangreiche Lehr- und Forschungstätigkeit über weibliche Sterilität und die weit verbreitete tropische Infektionskrankheit Bilharziose. 1960 bis 1963 war er als ordentlicher Professor für Pathophysiologie und Tropenmedizin an der Universität Damaskus tätig.

1963 bis 1965 hat er in Lambarene/Gabun bei Albert Schweizer gearbeitet und Forschungsarbeiten über Lepra, Malaria und Elephantiasis durchgeführt. In seinem Buch findet sich eine aufschlussreiche Schilderung der damaligen Verhältnisse im Urwaldkrankenhaus in Lambarene, wo er eine sehr intensive und beglückende Zeit verbracht hat.

1966 bis Anfang der 1970er Jahre hat er Studien- und Forschungsaufenthalte in London im Institut für Tropenmedizin und in Glasgow in der Klinik für Dermatologie absolviert.

Seine damaligen Arbeiten auf dermatologischem Gebiet über die Heilwirkung der Vitamin-A-Säure bei Psoriasis und Lichen ruber planus, einer relativ häufigen Hauterkrankung, wurden für so innovativ eingeschätzt, dass sie für den Nobelpreis eingereicht wurden. Diesen erhielt Prof. Günther aber seiner Meinung nach deshalb nicht, weil er Ostdeutscher war.

Anfang der 1970er Jahre erfolgte eine erneute Tätigkeit in Kairo im Institut für Tropenmedizin, wo er weiter über die Bilharziose forschte und über dieses auch im Nahen und Mittleren Osten sehr weit verbreitete Krankheitsbild ein einschlägiges Buch schrieb.

Ende der 1970er und Anfang der 80er Jahre war er als Chefarzt einer Dermatologischen Klinik in St. Peter-Ording in Schleswig-Holstein tätig. 1982 wurde er mit der ärztlichen Leitung eines Behandlungszentrums für Psoriasis am Toten Meer in Israel betraut. 1984 wurde ihm dort jedoch gekündigt, weil er aus einer Nazi-Familie stamme.

Zu dieser Zeit musste seine Frau in St. Peter-Ording, die dort als niedergelassene Ärztin tätig war, von Rechtsradikalen Beschimpfungen und Angriffe erleiden. So wurde sie zum Beispiel als "Judenhure" beschimpft und es wurde ein Davidstern auf ihr Praxisschild gemalt, so dass die Patienten ausblieben.

Die tragische Konsequenz war: Seine Frau war dem Druck nicht gewachsen, trennte sich schließlich von ihm und zog mit ihren beiden gemeinsamen Kindern nach Süddeutschland. Nach diesen und einer Reihe weiteren Schicksalsschlägen kehrte Prof. Günther Ende der 1980er Jahre in die DDR zurück.

Im Oktober 1990 wurde Prof. Günther zu einer neuerlichen ärztlichen und Vortragstätigkeit in den Irak eingeladen. Besonders nach dem ersten Irakkrieg 1991/92 machte er dort viele Reisen in Städte wie Bagdad, Basra und Falludscha. Dabei stellte er fest, dass in den Krankenhäusern, die er besuchte, bei Kindern vermehrt akute Leukämien und Krebserkrankungen auftraten, aber auch Missbildungen, die er vorher noch nicht gesehen hatte und die ihn an Tschernobyl erinnerten.18

Er brachte diese Erkrankungen und Gesundheitschäden mit Geschossen und Geschosshülsen in Verbindung, die auf den Schlachtfeldern verstreut herumlagen und mit denen die Kinder oft spielten und sie zum Beispiel als Puppen anmalten.

Um diese Fragen zu klären, schmuggelte er mehrere dieser Geschosse im Diplomatengepäck nach Deutschland und ließ sie in verschiedenen Instituten in Berlin analysieren. Dabei stellte sich heraus, dass die Geschosse aus strahlendem Uran bestanden.

Das bekam er schriftlich und hatte damit einen Beweis, dass es sich bei den von ihm beobachteten gehäuften schweren Erkrankungen und Missbildungen bei den Kindern im Irak um strahlungsbedingte Schäden handeln könnte. Aber anstatt, dass ihm für diese Entdeckung vom deutschen Staat gedankt wurde, musste er sich wegen der illegalen Einführung von gefährlichen Stoffen vor Gericht verantworten und wurde zu einer Geldstrafe von 3.000 DM verurteilt.

In den Jahren darauf folgte eine rege Vortragstätigkeit mit Radio- und Fernseh- Interviews weltweit, auch in der Uno, um dieses Kriegsverbrechen bekannt zu machen. Außerdem organisierte er verschiedene Hilfsprojekte für die Menschen im Irak. Er erhielt weltweite Anerkennung für dieses Engagement und wurde mit vielen Preisen und Ehrentiteln ausgezeichnet. So erhielt er 2007 in Salzburg bei der 10. Preisverleihung des "Nuclear Free Future Awards" diesen Preis in der Kategorie "Aufklärung". In seiner Dankesrede sagte er19:

Als ich 1991, nach dem 1.Golfkrieg entdeckte, dass die Alliierten in diesem für mich völkerrechtswidrigen Krieg Urangeschosse eingesetzt hatten, mit allen ihnen schon damals bekannten schrecklichen Konsequenzen, war ich wegen dieser Ungeheuerlichkeit zutiefst empört.

Krieg ist sowieso eine furchtbare Sache und sollte heute obsolet sein, aber der Einsatz dieser Munition und Bomben aus abgereichertem Uran, ist eine Menschen und Umwelt verachtende Ungeheuerlichkeit.

Sie wissen vielleicht, dass meine Zeit mit Albert Schweitzer mich tief geprägt hat. Sein Credo: "Ehrfurcht vor dem Leben" wurde auch mein Leitmotiv als Mediziner und Mensch.

Und ich muss Ihnen sagen: Ich war nie ein sonderlich politischer Mensch, mich interessierten Menschen immer mehr als politisches Pokern. Die Ehrfurcht vor dem Leben ist bei mir erheblich größer, als vor Ämtern oder Institutionen. Ich komme daher mit dem Vorwurf gut zurecht, in meiner Naivität und Unbedarftheit, wäre ich für die eine Seite ein nützlicher Idiot und für die andere Seite ein störrischer Quälgeist. Ich bin Arzt, meine Damen und Herren, mehr nicht!

2003 erfolgte ein weiterer Besuch des Irak, aber auch von Serbien und dem Kosovo, zusammen mit dem Dokumentarfilmer Frieder Wagner. Daraus sind die beiden oben schon vorgestellten Filme entstanden.20

Fazit und Schlussfolgerungen

Erst durch einen Zufall habe ich einige Monate nach seinem Tode von Prof. Günther gehört und ihn deshalb nicht mehr persönlich kennen lernen können. Ich führe diesen Umstand auf das Tabu zurück, das in den Medien über das Thema Uranwaffen im Allgemeinen und das Wirken von Prof. Günther im Besonderen bis heute besteht.

Den vorliegenden Informationen, wozu vor allem sein Buch21 und die oben genannten Filme von Frieder Wagner beitragen, ist für mich jedoch zu entnehmen, dass Prof. Günther ein selbstloser, mitfühlender und mutiger Mensch und ein vorbildlicher Arzt und Wissenschaftler war, der sich um die Gesundheit der Menschen verdient gemacht hat.

Als langjähriges Mitglied der IPPNW bin ich für die Herausgabe des von Kolleginnen, Kollegen und Wissenschaftlern meiner Organisation erarbeiteten und herausgegebenen Reports über die gesundheitlichen Folgen der Uranmunition, aus dem ich in diesem Artikel ausführlich zitiert habe, sehr dankbar.

Es handelt sich um eine beachtenswerte wissenschaftliche Leistung, die eine wichtige aufklärende Funktion erfüllt hat und für die es bis heute keinen Ersatz gibt.

Ich würde mir aber wünschen, dass die IPPNW nicht weiter zu den Verdiensten von Siegwart-Horst Günther schweigt und ihm posthum die Ehre erweist, die er verdient hat, damit er auch bei allen Menschen in Deutschland, die sich für die Bewahrung des Friedens einsetzen, in würdiger Erinnerung bleibt.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de