Der Fall Sami A. und der Streit zwischen Justiz und Politik
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Kommentar zu den Hegemoniekämpfen im Staatsapparat
Eine Gerichtspräsidentin, die der Politik vorwirft, die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet zu haben - so etwas hat man in den letzten Monaten in Europa vor allem aus Polen und Ungarn gehört.
Politiker der Bundesregierung und ihnen nahestehende Medien gerieren sich dann immer als Hüter des Rechtsstaates oder der "europäischen Werte", um die Regierungen zu sanktionieren. Nun erhebt die Gerichtspräsidentin von NRW Ricarda Brandts in mehreren Interviews Vorwürfe, die Justiz stände auch in Deutschland unter Druck der Politik.
Es knistert im Gebälk des Staatsapparates
Es geht wieder mal um den Fall des tunesischen Islamisten Sami A., der seit Wochen Politik und Medien in Deutschland beschäftigt(vgl. Die Gerichtsposse, Das Besondere am Fall Sami A. und Die Abschiebung des Sami A. verhöhnt den Rechtsstaat sowie Viel Lärm um Sami(r) A.). Der Fall wurde zu einem Machtkampf zwischen unterschiedlichen Fraktionen der Staatsapparate.
Der Fall des Sami A. wirft Fragen zu Demokratie und Rechtsstaat - insbesondere zu Gewaltenteilung und effektivem Rechtsschutz - auf. Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet. In der Politik, im Landtag und in der Landesregierung sollten die Verantwortlichen sehr genau analysieren, wie die Ausländerbehörde und möglicherweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf, mit dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen umgegangen sind. Ich möchte mahnen, dass ein solcher Umgang nicht zum Standard wird.
Ricarda Brandts, NRW-Gerichtspräsidentin
Nun sind solche Machtkämpfe im bürgerlichen Staatsapparat ein Indiz für Hegemonieprobleme der Bourgeoisie der Länder. Unterschiedliche herrschende Fraktionen ringen um Einfluss und Macht. Wenn sich dabei die bürgerlichen Staatsgewalten, Regierung, Parlament und Justiz zoffen, ist das ein Indiz, dass die Hegemonie brüchig ist.
Es knistert im Gebälk des Staatsapparates und Umgruppierungen kündigen sich an. In vielen osteuropäischen Staaten waren nach dem Ende des Nominalsozialismus diese Hegemonieprobleme sehr heftig und sind teilweise noch immer nicht abgeschlossen. Das ist auch der Grund des Dauerkonflikts zwischen Justiz und Politik in Ländern wie Polen und des Streits zwischen Präsident und Parlamentsmehrheit in Rumänien.
Dass solche Hegemoniekämpfe durchaus auch blutig ausgetragen werden können, zeigte sich 1993 in Russland, als Präsident Jelzin das Parlament, das sich im Weißen Haus in Moskau verschanzt hatte, erst belagern und dann beschießen ließ. Die Freunde der westlichen Werte in der EU standen auf Seiten von Jelzin und seiner Fraktion, weil deren Ziel, die Schwächung der russischen Staatlichkeit, von dieser Fraktion besser vorangetrieben wurde.
Das russische Parlament stand nun nicht etwa für Sozialismus, denn den gab es spätestens seit Ende der 1920er Jahre auch in der Sowjetunion nicht mehr. Es gab also für Linke wenig Grund, sich in den Auseinandersetzungen zwischen den Staatsapparaten auf einer Seite zu positionieren.
Das gilt auch für die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Geheimdiensten und dem Präsidentenamt in den USA. Auch hier handelt sich um Hegemoniekämpfe im Machtapparat, die unter Trump offener als unter seinen Vorgängern ausgetragen werden. Dabei geht es nicht um Freiheit und Demokratie, sondern um unterschiedliche Machtinteressen.
Die Floskel von der Justiz im Namen des Volkes
In der BRD wurden diese Machtkämpfe immer relativ geräuschlos ausgetragen, was ein Zeichen für eine starke Hegemonie des dominanten Kapitalblocks im Lande war. Umgekehrt sind die offenen Auseinandersetzungen eben auch Anzeichen für Risse und Friktionen in diesem Block.
Das Interessanteste dabei ist, dass in diesen Auseinandersetzungen Herrschaftspraktiken dekonstruiert wurden. So lernt der Bürger nun, dass er nicht gemeint ist, wenn Urteile im Namen des Volkes gesprochen wurden. Und so erntete NRW-Innenminister Reul (CDU) heftige Kritik, weil er benannte, was eigentlich offenkundig ist.
Im Namen des Volkes werden täglich die Sanktionierung von Erwerbslosen, die Kündigung von einkommensschwachen Menschen und viele anderen kapitalistischen Zumutungen tausendfach gerichtlich legitimiert.
Da sollte man endlich mal erkennen, dass da, wo der Begriff "Volk" ins Spiel kommt, für die meisten Menschen nur Nachteile entstehen. Das gilt nicht nur für die Justiz, sondern auch für die anderen Staatsgewalten. Die Floskel "im Namen des Volkes" gehört zur Ideologie des bürgerlichen Staates.
Schließlich hätten Urteile kaum Akzeptanz, wenn sie im Namen der realen kapitalistischen Nutznießer ausgesprochen werden. Nun ist es das Geheimnis der bürgerlichen Herrschaftstechnik, Entscheidungen, die der kapitalistischen Klasse zu gute kommen, als im Interesse der Allgemeinheit verkaufen zu können.
Da kommt dann der Volksbegriff in Stellung. Eine emanzipatorische Staatskritik würde deutlich machen, dass es eben keine Ausnahme, sondern das Wesen der bürgerlichen Justiz ist, Entscheidungen, die vielen Nachteilen bringen, im Namen des Volkes zu fällen.
Eine populistische und häufig offen rechte Justizkritik wendet sich gegen Urteile gegen Minderheiten. Dazu gehört Reuls Kritik, dass Urteile wie das von Sami A. "dem Rechtsempfinden des Volkes" widersprechen. So können Urteile, die vom Volksempfinden verfemte Minderheiten schützen, bekämpft werden.