Der Fall des Thatcher-Towers

Bild:The Jokers / Le Pacte

Ben Wheatleys High-Rise hämmert das Vermächtnis des Thatcherismus langsam in den Leib eines Wolkenkratzers

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A free enterprise system is a necessary but not a sufficient condition. There is only one economic system in the world, and that is capitalism. The difference lies in whether the capital is in the hands of the State or whether the greater part of it is in the hands of people outside of State control. Where there is State capitalism there will never be political freedom.

Margaret Thatcher

Wie sieht eine Dystopie aus, die Wirklichkeit wird? Beginnt die Degeneration einer Gesellschaft mit dem Guss ihres Fundaments? Diese Fragen, die James Graham Ballards Roman "High Rise" im Jahre 1975, noch vor dem Amtsantritt Margaret Thatchers, stellte, beantwortet Ben Wheatleys Verfilmung in Zeitlupe - pünktlich zum Brexit.

Wheatley adaptiert High-Rise als Katalog einer Thatcheristischen Endzeitvision. Das Hochhaus ist der Mikrokosmos dieser Vision: 40 Stockwerke grauen Glamours, gefüllt mir allen Annehmlichkeiten der Zivilisation.

Seine Bewohner sind Menschen, deren Existenz auf ihre Rolle im sozialen Gefüge begrenzt ist: der, schon dem Namen nach, animalische Dokumentarfilmer Wilder (Luke Evans); Anthony Royal (Jeremy Irons), Architekt und Bewohner seines Wolkenkratzer-Entwurfs und die promiskuitive Sekretärin Charlotte (Sienna Miller). Der neueste Mieter ist Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston). Sein Zuhause ist Zimmer 2505, in der 25. Etage. Über ihm ist die Squashhalle mit Wellnessbereich, unter ihm Supermarkt und Grundschule.

Bild: The Jokers / Le Pacte

Getarnt in den Wolken seines Deodorants, und dem Polyamid seiner glatten Anzüge, tritt der Physiologe seinen Nachbarn und seinen Medizinstudenten mit der gleichen kühlen Nonchalance entgegen. Ob er dabei ein Whiskeyglas in der Hand hält oder demonstriert, wie man das Gesicht von einem Schädel zieht, spielt dabei keine Rolle. Anpassungsfähig und bereit sein Umfeld in die eigene Leere zu verschlingen, ist Laing das perfekte Raubtier des neoliberalen Vertikal-Dschungels.

Wohnst du noch oder stirbst du schon?

Der Romanvorlage treu, entwickelt Wheatley seine Dystopie aus der Vergangenheit. Die sterilen, perfekt sortierten Szenenbilder stellen die elegante Leblosigkeit des Hochhauses aus. Sie strahlen den Zeitgeist ebenso ab, wie das bunte Kunststoff-Mobiliar aus den 1970ern in den unteren Stockwerken. Bei der Bourgeoisie in der Dachetage schließt der englische Garten, inklusive Schimmelpferd, direkt an eine Penthouse-Wohnung an, in der Goyas Hexensabbat neben dem Safe hängt.

Bild: DCM Filmdistribution

Die Spaltung und gleichzeitige Isolation der Gesellschaft ist schon in der Architektur angelegt: oben hüllen sich die Hedonisten in Gewänder und Perücken des französischen Adels aus dem 18. Jahrhundert, unten kommt weder Strom noch Sonnenlicht an. "Kinderkrankheiten", nennt Architekt Royal die fehlende Versorgung der unteren Etagenbewohner. Man überlässt sie den Kräften der Selbstregulierung. Eine Alternative zur sozialen Verrohung gibt es ohnehin nicht. Die Bilanz dieser Degeneration in der Zivilisationsimmobilie zeigt Wheatleys Film allzu genüßlich.

Mit gelösten Bremsen wird sukzessive der Untergang des Mikrokosmos in Exzess und Dekadenz eingeleitet. Partys werden zu Orgien, in denen sich Sex und Mord abwechseln. Der Supermarkt wird zum Jagdrevier, in dem die Mietparteien um die letzte Beute ihrer Zivilisation kämpfen. Ein Streit um die Benutzung des Swimmingpools eskaliert kurzerhand zum Krieg.

Der Fall des Thatcher-Towers (17 Bilder)

Bild: The Jokers / Le Pacte

Überleben kann nur, wer sich nahtlos in den Wolkenkratzerkapitalismus einfügt. Abbas "SOS" wird von einer treibenden Partyhymne zum schmerzvollen Hilferuf der Verlierer des Klassenkampfes. Sie werden in Müllsäcken entsorgt, oder zerschellen, nach einem 30 Stockwerke tiefen Fall, auf den Sportwagen in der ersten Reihe des Parkplatzes. Die Hochhausgesellschaft stürzt sich in die eigene Häuserschlucht.

We are all Thatcherites now

Das Kino zelebriert den gesellschaftlichen Wahnsinn gerne, indem es sich seiner zügellosen Beschleunigung bedient. Wheatley hingegen bereitet das Spektakel in der permanenten Entschleunigung auf. Wo Martin Scorsese sich den Exzessen Jordan Belforts in The Wolf of Wall Street hingab, David Cronenberg in Crash (seinerseits eine J.G.-Ballard-Adaption) die kapitalistische Beschleunigung als fetischistische Zerstörung des Fleisches durch das kalte Metall von Autokarosserien inszenierte, ergötzt sich Wheatley am ewigen Moment des Gesellschaftszerfalls.

Bild: DCM Filmdistribution

High-Rise hämmert die Klassenkampf-Party mit redundanten Zeitlupen und bunten Kaleidoskopsscherben auf die Leinwand. Die Feinheiten, mit denen Ballard seine schwere Metapher - mal lakonisch gebrochen, mal humorvoll unterlegt - dem Leser präsentiert, fallen dem Dauerfeuer von Wheatleys Bildern zum Opfer. Es bleibt der Blick von der Dachetage des grauen Monolithen auf die umliegenden Hochhäuser wirf. Der Blick aus der Isolation. Der Blick nach dem Brexit. Dystopie wird Realität - pünktlich zum Kinostart.