Der Identitätsgeber
Gespräch mit dem wirklichen Hans Esser, unter dessen Identität sich Günter Wallraff bei der BILD-Zeitung 1977 eingeschlichen hatte
1977 hatte Günter Wallraff unter dem Pseudonym "Hans Esser" vier Monate als Reporter in der Lokalredaktion der BILD-Zeitung in Hannover gearbeitet. Über das Buch, die BILD-Zeitung und vieles andere berichtet Günter Wallraff in einem Interview für Telepolis anlässlich seines 60. Geburtstages (Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt nicht weit rum). Hans Esser arbeitet heute als Lehrer in einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein und erzählt Torsten Eßer, wie es zur Identitätsausleihe kam.
Wie haben Sie sich damals kennen gelernt, Günter Wallraff und Sie?
Hans Esser: Eines Tages rief mich mein Bruder Paul an und bat mich, noch am selben Tag mit ihm nach Köln zu fahren, um Günter Wallraff zu treffen. Der würde eine neue Aktion in Hannover bei einem Presseunternehmen planen. Ich solle meine Papiere mitbringen und mein Auto. Am selben Abend saßen wir bei Günter in Köln und er weihte uns detailliert in seine Pläne ein, nämlich bei der BILD zu recherchieren.
Bereits am nächsten Tag musste er dort beginnen, alles hatte sich überstürzt und er benötigte schnell eine Identität. Ich schien der geeignete Identitätsgeber zu sein und wir tauschten unsere Fahrzeuge und unsere Papiere. So fuhr Günter nach Hannover und es dauerte nicht lange, da gingen auf meinem Konto die ersten Zeilenhonorare der BILD-Zeitung ein. Ich arbeitete als Lehrer an einer Abendschule und bin nie kontrolliert worden. Ich hatte noch meinen eigenen Pass und meinen Führerschein, die wurden nicht getauscht.
Wie war das im Detail? Sie sehen sich nicht so furchtbar ähnlich.
Hans Esser: Wir sind beide groß und schlank, heute wie damals. Sicher gibt es im Gesicht Unterschiede, aber wenn niemand exakt abgleicht, war es möglich, dass es nicht auffiel. Und es hat ja auch vier Monate lang geklappt. Soweit ich mich erinnere, musste Wallraff kaum Identitätsprüfungen überstehen, da er über einen Freund bei BILD eingeschleust wurde, dem man vertraute.
Hat jemand nach Erscheinen des Buches versucht, Sie zu kontaktieren?
Hans Esser: Es gab seinerzeit Anrufe, von denen ich vermute, dass sie entweder aus dem Bereich des Journalismus oder vom Verfassungsschutz kamen. Sie fragten, ob ich einen Herrn Wallraff kenne, was ich natürlich verneinte. Die Art des Fragens deutete daraufhin, dass es professionelle Frager waren.
Ist also nie herausgekommen, dass Sie der betreffende Hans Esser sind?
Hans Esser: Wir haben nie eine Reklame-Aktion daraus gemacht, aber es auch nicht verheimlicht. Viele Leute wissen es, weil ich auch interviewt worden bin, zum Beispiel während einer Lesung hier in der Nähe.
Welche Wirkung hatte und hat das Buch? Interessiert es heute noch jemanden?
Hans Esser: Ein kleiner Teil der jungen Generation, der sich mit der Geschichte ihrer Eltern, also der APO-Generation, beschäftigt, wird sich dafür interessieren. Vor allem dafür, wie Günter alle seine verschiedenen Rollen gespielt hat.
Die Aktivität als solche hatte damals einen entlarvenden, demaskierenden Effekt auf die Medienbranche insgesamt, denn nicht nur BILD arbeitete mit solchen Methoden, auch wenn sie dort besonders schlimm waren. Aber bis heute wird ja im Medienbereich so gearbeitet. Ich glaube sogar, dass heute noch stärker so gearbeitet wird, vor allem im Fernsehen.
Dass das Buch die Auflage von BILD beeinflusst hat, glaube ich nicht. Die Menschen die BILD lesen, wollen diese Zeitung lesen, sie kaufen sie freiwillig. Und es ist ein Bestandteil unserer Demokratie, dass auch diese Leserschaft bedient wird.