Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt nicht weit rum
Ein Gespräch mit Günter Wallraff zu seinem 60. Geburtstag
Entspannt sitzt Günter Wallraff, der bekannteste Enthüllungsjournalist Deutschlands, in seiner Küche und trinkt Espresso. Umgeben von seiner Steinsammlung und anderen künstlerischen Objekten, erzählt er über das 25jährige Jubiläum seines Buches "Der Aufmacher - der Mann, der bei BILD Hans Esser war", über dessen Wirkung, neue Projekte und davon, was er am 1.10., seinem 60. Geburtstag, macht. Torsten Eßer hat auch mit Hans Esser gesprochen, unter dessen Identität sich Günter Wallraff in die BILD-Redaktion eingeschlichen hat (Der Identitätsgeber). 1998 hat Telepolis übrigens schon einmal ein ausführliches Interview von Christiane Schulzki-Haddouti mit Wallraff veröffentlicht: Öffentlichkeit ist der Sauerstoff der Demokratie.
Du hast eine Buchhändlerlehre gemacht. Wie bist Du zum investigativen Journalismus gekommen?
Günter Wallraff: Prägend war vor allem die Zeit als Kriegsdienstverweigerer bei der Bundeswehr. Ich hatte seinerzeit einen Antrag auf Verweigerung gestellt, allerdings formal zu spät und bin deswegen eingezogen worden. So hatte ich Gelegenheit, diesen Apparat, damals noch von alten Nazioffizieren halbfaschistisch unterwandert, zehn Monate lang kennen zu lernen. Ich sollte gezwungen werden, ein Gewehr in die Hand zu nehmen, und habe mich mit Aktionen gewehrt. Wenn beispielsweise morgens alle zum Appell rasten, steckte in jedem Gewehrlauf eine Blume, lange vor dem Nelkensymbol der portugiesischen Revolution. Und so habe ich viele Aktionen gemacht...
Zu guter letzt wollte man sich meiner entledigen, indem man mich in die geschlossene Abteilung des Bundeswehrkrankenhauses in Koblenz einlieferte und mir einen Handel anbot: Entlassung mit der Auflage, Veröffentlichungen gegen die Bundeswehr zu unterlassen. Und da fing meine eigentliche Arbeit an, denn ich hielt es für illusorisch in den Buchhändlerberuf zurückzukehren.
1977 hast Du unter dem Pseudonym "Hans Esser" vier Monate als Reporter in der Lokalredaktion der BILD-Zeitung in Hannover gearbeitet. Das Buch "Der Aufmacher" wird jetzt 25. Glaubst Du, dass das Buch damals bei BILD etwas verändert hat?
Günter Wallraff: Wenn ich jetzt mal die eigentlichen Macher zitiere, dann sagen sie, es hätte sie beeindruckt, beeinflusst und sie gemildert. Da gibt es zum Beispiel das Zitat von Bartels, einem der Chefredakteure, der gesagt hat: "Es gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach Wallraff, er war ein heilsamer Schock für uns".
Aber so ganz kann man es ihnen nicht abnehmen. Dort, wo sie rückfällig werden, verjährt es nicht so schnell und man kann immer wieder erleben, dass sie nicht nur fahrlässig, sondern auch mit Absicht handeln, wenn es um Kampagnen geht oder darum, unbequeme Politiker abzuschießen. Siehe die Kampagne gegen die Grünen - das war schon eine konzertierte Aktion, nicht wie dann später gesagt wurde eine Panne.
Man muss wissen, dass BILD zu Wahlkampfzeiten immer die Interessen der Rechten bedient, selbst wenn sie zwischendurch scheinbar etwas ausgewogener sind. Dennoch würde ich sagen, und da habe ich auch über meinen Rechtshilfefonds einen Anteil daran - ich habe weit über 100 Menschen die besten Presseanwälte zur Verfügung gestellt, Gegendarstellungen, Widerrufe, aber auch Schmerzensgelder weit über 100.000 Mark durchgesetzt - sind sie teilweise etwas vorsichtiger geworden.
Wer sich alles gefallen lässt, hat im Leben etwas verpasst
Hat das Buch auch nach 25 Jahren noch Wirkung?
Günter Wallraff: Ich weiß, dass es teilweise in Schulen genutzt wird, um an Beispielfällen aufzuklären. Auch um ein wenig zu immunisieren, denn viele, die mit einem solchen Blatt zum ersten Mal zu tun haben, laufen arglos in die Falle. Dennoch gibt es genug Leute - die PISA-Studie zeigt vielleicht auch, woran es liegt, an einer gewissen Unbildung oder auch Verblödung -, die einem solchen Blatt regelmäßig aufsitzen. Es gibt aber auch andere, die aufgrund ihrer Ausbildung durchaus differenzieren könnten, aber meinen, man könnte BILD wie eine Art Witzblatt lesen, man spricht sogar von Kult. Wer sich darauf beruft, mit dem stimmt was nicht.
Hat sich denn das persönliche Leid (Prozesse, Telefonabhöraktionen, Belästigungen von Freunden etc.), dem Du nach der Arbeit bei BILD ausgesetzt warst, gelohnt?
Günter Wallraff: Vielleicht, bin ich da christlich geprägt, obwohl ich nicht gläubig und früh genug aus der katholischen Kirche ausgetreten bin. Ich finde, wer das nicht auf sich nimmt und sich alles gefallen lässt oder auch ein scheinbar übermächtiges Unrecht hinnimmt, der hat etwas verpasst im Leben, der lebt nicht authentisch.
Also nach dem Motto "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!"
Günter Wallraff: Das ist ein Spruch, den ich mir immer schon zu eigen gemacht habe, oder auch ein Spruch, den ich neu entwickelt habe. Aus "Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um" habe ich gemacht "Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt nicht weit rum" und erstickt letztlich an sich selbst.
Was hatte es mit den Vorwürfen auf sich, Du hättest nicht alles im "Aufmacher" selbst geschrieben?
Günter Wallraff: Das kam aufgrund eines entgangenen Geschäfts viele Jahre später. Für das Buch "Ganz unten" hatte ich von meinem ehemaligen Lektor ein Vertragswerk bekommen, in dem stand: "Wir übernehmen wie beim BILD-Buch die Endredaktion für das Buch 'Ganz unten'." Darauf habe ich mich nicht eingelassen und kurze Zeit später kam mit 15 Jahren Verspätung ein Vorwurf, der juristisch sehr geschickt formuliert war: Der Lektor sagte, er lüge nicht und ich sage die Wahrheit, nach dem Motto 'es ist alles über seinen Schreibtisch gegangen'.
Ich musste damals diese Hilfe in Anspruch nehmen, die auch entsprechend bezahlt wurde, weil es ein Wettlauf mit der Zeit war. BILD bereitete Prozesse vor, ich war ja vorzeitig enttarnt worden. Das Buch musste sehr schnell rausgekommen. Es wurde redigiert und zurückredigiert, es war nicht mehr als ein erweitertes Lektorat. Etwa 10 Prozent im "Aufmacher" stammen von ihm, das kann man auch stilistisch nachweisen, Einleitung und Schluss vor allem, davon lebt das Buch aber nicht.
Wie lief der Rollentausch mit Hans Esser? Wie bist Du auf ihn gekommen?
Günter Wallraff: Ich brauchte ja Papiere, eine andere Identität. Einen Freund, der mir aus meiner Zeit in Portugal bekannt war, hatte ich eingeweiht und der kam auf die Idee, mit seinem Bruder. Ich bekam seine Kontonummer, seinen Wagen und seine Adresse und bastelte mir seinen ungefähren Lebenslauf zusammen.
Wie wäre es weitergegangen, wenn Du nicht vorzeitig enttarnt worden wärst?
Günter Wallraff: Wenn ich es schaffe, in so einer Rolle deckungsgleich zu werden, und dann auch unerkannt das ganze ausbauen kann, dann habe ich den Ehrgeiz, wesentlich weiter zu gehen. Ich sollte nach Hamburg in die Zentrale kommen und dort weiter aufgebaut werden.
Hättest Du in Hamburg gewichtigere Sachen aufdecken können?
Günter Wallraff: Die politische Seite, also wie BILD mit bestimmten politischen Stellen und mit dem Nachrichtendienst zusammenarbeitet usw.
Ist das Buch heute unzensiert erhältlich?
Günter Wallraff: Ich habe in letzter Instanz Recht bekommen, nachdem ein Richter in Hamburg alles zensiert hatte, was BILD sich nicht gefallen lassen wollte. Ich habe gegen die mir wichtig erscheinenden Stellen Widerruf eingelegt, das andere waren nebensächliche Passagen, deren Verlust das Buch nicht geschmälert hat.
BILD ist ein klebriges, ekelhaftes Produkt
Thomas E. Schmidt sagt in einem Artikel der ZEIT über BILD: "Nicht das Fernsehen erfindet die Wirklichkeit, sondern BILD". Dein Kommentar?
Günter Wallraff: Da hat er wohl recht, obwohl der Artikel sonst ein wenig verharmlosend war, aber es ist wirklich eine tägliche Neuschöpfung, verächtlich, zynisch, und manches auch gegen die Menschenwürde. Man muss das so deutlich sagen. Das Erschreckendere ist allerdings, dass eine Vernetzung stattgefunden hat und sich kaum noch jemand deutlich gegen BILD wendet.
Die "Frankfurter Rundschau" hat den jetzigen Chefredakteur Dieckmann im Interview mit Glacé-Handschuhen angefasst. Insgesamt gab es in der Presse eine sehr milde Betrachtung des 50. Geburtstages von BILD. Bei allen Live-Interviews war ich der einzige, der BILD noch massiv zugesetzt hat, das andere waren mehr bestellte Gratulationen. Selbst Kardinal Meisner, sonst einer der Sittenwächter sondergleichen, spricht der BILD zum Geburtstag Komplimente aus und sagt, sie hätte eine so präzise und aufklärerische Berichterstattung, nur an Fotos würde er manchmal Anstoß nehmen. Oder unser Bundeskanzler, der sagt, BILD hätte einen wichtigen Alphabetisierungsauftrag wahrzunehmen. Man meint, das sei reine Satire, aber das war ernst gemeint.
Kai Dieckmann hat gesagt, die BILD-Zeitung wäre heute kein politischer Meinungsmacher mehr, so wie in den 60/70er Jahren. Wie beurteilst Du das?
Günter Wallraff: Sagen wir so, sie machen nicht mehr so direkt die Politik wie früher, da war BILD das Sprachrohr von Strauss. Sie haben jahrelang gegen Brandt Stimmung gemacht, gegen seine Ostpolitik. Heute geschieht so etwas nicht mehr so offensichtlich, aber sie bereiten das Umfeld: Stoiber wird als das weiß-blaue Kraftwerk gefeiert und rote Minister werden angeschossen. Vieles läuft auch über andere Kanäle: Man droht und wenn dann jemand vorher abtritt, hat es auch seinen Zweck erfüllt und man kann sich eine Veröffentlichung ersparen. Es ist ein Verbundsystem, mit dem große Politik gemacht wird, das sollte man nicht vergessen.
Wie kam es zu der Entwicklung, dass BILD auch gegen einige rechte Politiker geschrieben hat, zum Beispiel bei Kohl und der Steuerlüge?
Günter Wallraff: Das war eine Ausnahme. Das hat ja letztlich dem Tiedje auch den Garaus gemacht, das war ungehörig. Er hatte geglaubt, rüpelhaft wie er war, er könne aufgrund der Auflagensteigerung den Kohl aufs Kreuz legen, das hat ihn aber anschließend selbst aufs Kreuz gelegt.
Liest Du BILD noch?
Günter Wallraff: Ich tue es mir nicht mehr an. Es ist für mich eine Art Umweltverschmutzung, so wie ich mir auch keine Hamburger reinmampfe, um ein wenig gesund zu leben. BILD ist ein klebriges, ekelhaftes Produkt. Ich kriege sie aber immer wieder auf den Tisch, weil andere Sachen sammeln und mir zum Beispiel neue Rufmordfälle zuschicken. Im Moment bin ich gerade bei der "taz", um sie zu beraten, weil sie in einen Prozess mit Dieckmann verwickelt sind.
Ach ja, über seinen Penis...
Günter Wallraff: Herrlich oder? Da wundert sich jemand, der die Welt ständig in Schwanzlängen misst und andere sogar damit diskriminiert, wenn er so etwas mal von einer kleineren Zeitung in einer Satirespalte präsentiert bekommt. Scheinbar muss da wohl was dran sein, sonst würde er das ja nicht so persönlich nehmen. Er müsste eigentlich - so würde BILD es verlangen - ein ärztliches Gutachten vorlegen.
Hans Esser - dein Pseudonymgeber - früher auch ein kompromissloser Gegner der BILD, sagt heute, wenn der Leser BILD will, soll er sie haben. Außerdem hält er Axel Springer sein Pro-Israel-Engagement zugute. Was hältst Du davon?
Günter Wallraff: Das ist einer der wenigen Punkte, in denen auch ich Springer nicht angreife, weil ich da eine ähnliche Haltung habe. Ich war nicht zufällig während des Golfkrieges vom ersten bis zum letzten Tag - das erste Mal übrigens - in Israel und fühlte mich da aus einem persönlichen Solidaritätsimpuls heraus an der richtigen Stelle, weil Saddam Hussein immerhin mit deutschen Waffen aufgerüstet worden war und man damit mit rechnen musste, dass er chemische Waffen einsetzt. Am Tag zuvor war ich noch auf einer großen Anti-Kriegsdemonstration in Amsterdam. Aber Israel war an diesem Krieg absolut unschuldig und da muss ich sagen, es ist sehr anerkennenswert, dass Springer aktiv und mit viel Geld Hilfestellung geleistet hat, zum Beispiel als Mäzen der Bibliothek von Jerusalem.
Nur ist es ein bisschen scheinheilig, wenn er im eigenen Lager völkisches Denken vertritt und, obwohl er kein Nazibefürworter war, alte Nazis sich hat in seinem Konzern an führenden Stellungen austoben lassen. So bekommt man manchmal den Eindruck, dass sein Israel-Engagement eine Art Vertuschung ist und eine Entlastung darstellen soll.
Müssen unsere Kinder noch den 100. Geburtstag von BILD feiern? Oder besteht die Möglichkeit, dass es eines Tages BILD nicht mehr gibt?
Günter Wallraff: Das kommt auf die Entwicklung der Gesellschaft an. Wenn es bildungsmäßig und was die Arbeitslosigkeit betrifft - auch verursacht durch den Turbokapitalismus - weiter in die Richtung geht, wie zur Zeit, wird man sich mit dieser "Seuche" - wie Böll es genannt hat - noch lange herumschlagen müssen. Wenn es aber eine Mutation der Gesellschaft im Sinne von höheren Bildungschancen und gerechteren Verhältnissen geben sollte, dann wird sich so ein Blatt sicher irgendwann erübrigen.
Über das Engagement für Kurden, die Medienlandschaft und Afghanistan
Arbeitest Du an einem neuen größeren Projekt? Ist es wieder geheim oder kannst Du etwas dazu sagen?
Günter Wallraff: Ich will den Mund nicht zu voll nehmen, denn ich habe ein paar Mal etwas angekündigt und konnte es dann krankheitsbedingt nicht einhalten. Es wird dann kommen, wenn man es nicht erwartet. Aber ich bin ja nicht untätig. Ich arbeite in vielen Bereichen - in Menschenrechtsfragen zum Beispiel -, von denen die meisten nichts erfahren. Ich habe außerdem von Teilen meiner Honorare die Stiftung "Zusammenleben" ins Leben gerufen, durch die Wohnungen und ein Kulturzentrum geschaffen wurden sowie Nachhilfe für ausländische Jugendliche. Nebenbei versuche ich ein neue Rolle, die wenn sie gelingt, die Schwierigste sein wird.
Während Deines Engagements für Ausländer- und Menschenrechte hast Du Dich auch für Kurden eingesetzt. Es hat mich manchmal gewundert, wie sich das mit der Gewaltbereitschaft einiger Kurden vereinbart hat, da Du Gewalt sonst ablehnst?
Günter Wallraff: Genau da bin ich zwischen die Fronten geraten, allerdings erlebe ich immer wieder, dass ich mich zwischen die Stühle setze. Genauso in der kurdisch-türkischen Angelegenheit. In den nationalistischen türkischen Zeitungen werde ich als der Kurdenfreund bezeichnet, der ich sicher auch bin, weil ich mich immer für verfolgte Minderheiten einsetze. In PKK-Blättern wurde ich zur selben Zeit als der türkische Agent diffamiert. Das hing damit zusammen, dass ich mich für einen kurdischen Dissidenten, Selim, der elf Jahre in der Türkei im Gefängnis gesessen hatte, eingesetzt habe. Der musste, als er in die PKK-Zentrale zurückkehrte, erleben, dass es sich bei dem Chef der Organisation inzwischen um einen größenwahnsinnigen Killer handelte, der über 3.000 eigene Leute massakrieren ließ, weil sie abweichende Meinungen hatten oder demokratische Wege beschreiten wollten. Ich habe Selims Buch "PKK, die Diktatur des Abdullah Öczalan" herausgebracht und Öczalan damit persönlich konfrontiert. Das hatte der noch nicht erlebt.
Ich plane nun eine Reise in den Norden Iraks, um die verschiedenen kurdischen Gruppen zu besuchen und ihr Schicksal aus nächster Nähe zu erfahren. Wenn es zur Invasion der USA kommt, werden am Ende wieder die Kurden dran glauben müssen, denn die Türkei will keinen Kurdenstaat zulassen. Dabei wäre es die Chance, dass sie ein autonomes Gebiet bekämen.
Wie beurteilst Du die momentane Krise in der Presselandschaft, die zu einem weiteren Abbau von Stellen und zu mehr Einkauf von vorgefertigten Inhalten für die Medien führt, auch Stichwort Infotainment?
Günter Wallraff: Die Boulevardisierung der Medien nenne ich das. Das ist ein Trend, der sich verstärkt, und der meiner Meinung nach eine Differenzierung immer schwerer macht. Es gibt nur noch wenige Medien, die korrekt zwischen Nachricht und Kommentar trennen oder in denen nicht versteckte Werbung auftaucht. Ganze Redaktionen werden ausgelagert oder Korrespondenten geteilt. So kommt es zu einem Einheitsbrei der Meinungen.
Was hältst du vom Internet?
Günter Wallraff: Teil teils. Ich habe einen Mitarbeiter, der mir dort die Sachen raussucht, aber ich komme auch nicht daran vorbei. Es ist wie bei den Neandertalern und den Cro-Magnon. Letztere haben sich durchgesetzt, weil sie über die bessere Technik verfügten. Ich befinde mich noch bei den Neandertalern, aber sehe die Vorzüge größer als die negativen Seiten. Dass weltweit die Möglichkeit besteht, sich umfassend zu informieren, ist zum ersten Mal so. Die Verwirrung entsteht dadurch, dass sich auch jede Scheißhausparole dort findet und jemand verdammt helle sein muss, um seriöse Quellen und Scheißhausparolen zu unterscheiden. Ich werde auf jeden Fall lernen, es selbst zu nutzen.
Gibt es im Schwedischen tatsächlich das Verb "wallraffen"?
Günter Wallraff: Ja, das steht im schwedischen Standardwörterbuch. Ich kriege so alle paar Wochen Zeitungsausschnitte aus Schweden, in denen das Verb gebraucht wird. Auch "wallraffiade", was sehr positiv besetzt ist. Es heißt, "sich dieser verdeckten Arbeitsmethode" zu bedienen und "verborgene Sachverhalte aufzudecken".
Was wünschst Du Dir zum 60. Geburtstag?
Günter Wallraff: Ich habe kein Verhältnis zu solchen Tagen. Ich mache eine Reise nach Afghanistan und stifte eine Mädchenschule. Weil ich erlebt habe, als ich gerade das erste Mal mit meinem Freund Ruppert Neudeck dort war, dass da etwas Neues losgeht. Da ist eine Lernbegeisterung, eine Freude, eine Aufbruchsstimmung. Die Mädchen durften keine Schule besuchen und da sehe ich einen Sinn drin. Das ist kein Drill, Schüler und Lehrer ziehen am gleichen Strang. Und ich meine, dort sollte man ansetzen. Und dann vielleicht ihnen auch Unterrichtsmaterial oder Anregungen eines Lehrers aus dem Exil, einer Frau, zugänglich machen, die ihnen erzählt, was in anderen Kulturen los ist und wo man sich von befreien kann. Das Tragische ist ja, dass - anders als es in unseren Medien dargestellt wird - in 95 Prozent des Landes Frauen noch immer mit der Burka herumlaufen. Außerdem bin ich so weit genug weg, dort interessiert auch keinen mein Geburtstag. So habe ich das umschifft.