Der Impfpass als Türsteher des autoritären Kapitalismus

Seite 5: Demokratie – von einem progressiven in ein reaktionäres Instrument

Die Pflegekräfte sind nur mehr niedere Wesen, Arbeitsvieh, enthoben ihres rechtlichen Anspruchs auf körperliche Selbstbestimmung, und werden wie die Hunde vom Hof gejagt, wenn sie sich nicht impfen lassen. Die Demokratie, so könnte man sagen, wandelt sich in ihrem simulativen Zustand von einem progressiven in ein reaktionäres Instrument.

Im neuen demokratischen Raum befindet sich, wer gehorcht und wer Geld hat. Der gesellschaftliche Protest dagegen wird wiederum seit Längerem sehr geschickt und präventiv unter Verweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unterbunden. Ein ungerechtes System verbarrikadiert sich, was soll es sonst auch tun?

Die Unterbindung des Protestes wiederum produziert die Fäulnis des Systems, da der Protest notwendigerweise in die Systemkritik abwandern muss, einst intellektuelles Vorrecht der Linken, die heute in ihrer vulgären Ausformung die politische Rechte für sich okkupiert, und zwar überall in Europa. Corona ist auch hier nur die Fortschreibung einer Entwicklung, die schon länger zu beobachten ist.

Es war die politische Rechte, die gegen den Euro, die Flüchtlingspolitik, die Klimapolitik und jetzt gegen Corona wettert. Es kann hier en détail nicht diskutiert werden, wo die Rechte vielleicht sogar recht hat und welche von ihr vorgebrachte, legitime Kritik im politischen Prozess eventuell verarbeitet werden müsste. Sondern es geht um die Frage, wie sich die Spannung zwischen meritokratischer Konsens-Elite und ihrer Diskurs-Zementierung und denen, die gemeinhin als "Populus" bezeichnet werden oder sich selbst so bezeichnen ("Wir sind das Volk"), entladen soll.

Noch – die Betonung liegt auf noch – hat sich die Coronamaßnahmen-Politik nicht entladen in einem massiven Stimmenzuwachs von FPÖ, AfD oder dem Rassemblement National. Doch kann man sicher sein, dass das so bleiben wird, wenn die Käseglocke des Corona-Diskurses gelüftet wird und es zu stinken beginnt? Und sind wir so sicher in Europa, dass der Topos des Bürgerkrieges der Vergangenheit angehört?

Ein kurzer Blick quer durch Europa zeigt: Giorgia Meloni, die dem Begriff des Faschismus durchaus etwas abgewinnen kann, ist nach Draghi die beliebteste Politikerin in Italien. In Frankreich, wo in Paris zu Jahresbeginn eine Europafahne auf den Eiffelturm projiziert wurde, regte sich vehementer Protest von rechts, von Marine Le Pen oder auch Éric Zemmour, die Projektion sei eine Beleidigung des Vaterlandes, gar ein Attentat auf die République.

Das politische Europa ist also nicht mehr gesetzt als eine Errungenschaft des Kontinents, in dessen selbstverständlicher Friedenserzählung wir uns wiegen könnten. Die kleinen Staaten – vielleicht mit Ausnahme Luxemburgs – versinken in ihrem jeweils eigenen politischen Chaos, wie etwa Österreich, die Niederlande oder auch Belgien. Von Stabilität jedenfalls weit und breit keine Spur.

Von Schweden oder Dänemark, noch halbwegs stabil, dürfte ein europäischer Renouveau kaum ausgehen und von Portugal auch nicht. Polen und Ungarn sind populistisch unterspült, der Rechtsstaat ist dort seit Langem aufgekündigt und kein Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU hat dagegen etwas ausrichten können. Von den anderen osteuropäischen Staaten, die wahlweise in Korruption, im Populismus, der Entvölkerung, der Anbiederung an China oder der Armut versinken, ist sowieso nicht mehr die Rede.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der geostrategische Großkonflikt zwischen dem Westen beziehungsweise der EU und Russland auf osteuropäischem Territorium ausgefochten wird, derzeit an der ukrainisch-russischen Grenze. Kann man da sicher sein, dass es, wenn das Pandemiegeschehen überwunden ist und neben dem sozialen auch der politische Flurschaden sichtbar wird, nicht zu einer Entladung kommt, der mit Stigmatisierung und Ausgrenzung der Populisten nicht beizukommen ist?

Da bei Wahlen in vielen europäischen Ländern – etwa in Frankreich – eigentlich nur noch eine moderate Rechte gegen eine populistische Rechte steht, dürfte die Forderung, nicht mit Rechten zu reden, bald nicht mehr umsetzbar sein. Wenn es eine Verschwörung aufzuspüren gälte, dann vielleicht die, wie die CIA in den letzten Jahrzehnten ganz professionell in Europa die Linke abgeräumt hat, die letzte Bastion gegen den autoritären Kapitalismus.

Es wäre noch schön gewesen, wenn der europäische Aufbruch zu Beginn der Pandemie, die verkündete Solidarität und das European Rescue Package, eine große Debatte über die Finalität Europas in Gang gebracht hätte, wie Europa sie zu führen vor rund zwanzig Jahren anlässlich seiner Verfassungsdebatte noch in der Lage gewesen ist. So aber dümpelt eine Europäische Zukunftskonferenz, in der gerade ausgewählte europäischen Bürger:innen, aufwendig von den EU-Institutionen moderiert, direkt befragt werden, vor sich hin und niemand nimmt davon Notiz.

Für ein System aber, das zum Aufbruch nicht mehr fähig ist und das gegen den vehementen Protest von Pluralitäten Bestandssicherung machen muss, ist die politische Kontraktion vorgezeichnet: die politische Neutralisierung des Protestes, die Optimierung der Ausgrenzung, die Kontrolle der sozialen und politischen Rebellion – um die Entladung zu sublimieren.

Corona, der grüne Pass und die digitale Bewegungskontrolle sind ein perfektes Mittel, um einerseits persönliche Abhängigkeitssysteme zu schaffen, denen kaum einer entkommen kann; andererseits jede Form des öffentlichen Protestes zu delegitimieren und zu unterbinden. Im autoritären Kapitalismus kommt, frei nach Ignazio Silone, der nächste Faschismus im Anzug durch die Tür, in dem die meritokratische Elite ihre Diskurshoheit unter dem Imperativ des Notwendigen und Guten zementiert.

Im Gegensatz zum Mittelalter wissen wir heute, was jetzt kommt, denn es steht überall geschrieben. Wir können nicht einmal sagen, wir hätten nichts gewusst. Wir tun es nämlich gerade, die digitalen Überwachungssysteme für den autoritären Kapitalismus zu installieren. Wenn wir das nicht wollen, dann müssen wir jetzt sofort etwas anders machen. Und damit kommen wir zur Utopie.