Der Impfpass als Türsteher des autoritären Kapitalismus

Seite 3: Es braucht eine politische Theorie des technologischen Transhumanismus

Notwendig erscheint mir eher eine psychoanalytische Eruierung dessen, was in diesen Männern vorgeht, nämlich bestenfalls infantiler Gebärmutterneid. Zu hoffen bleibt, dass aus der "Augmentation", also aus der Erhöhung, keine Überhöhung wird. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall, und der wäre vom Mars aus gesehen, auf den Elon Musk seine Autos schießen will, ganz schön tief.

Dass Technik die Lösung ist, um zum Leben zu gelangen, ist eine contradictio in adjecto. Schon Claude Lévi-Strauss gab zu Protokoll, dass 90 Prozent aller Erfindungen nur dazu da seien, die Folgeschäden der vorausgehenden Erfindungen rückgängig zu machen. Also vielleicht doch vorher mal über das Wesen des Menschseins nachdenken, anstatt jedem technologischen Hype hinterherzuzulaufen?

Wenn das aber alles schon so kommen soll, dann bräuchte es wenigstens eine Politische Theorie des technologischen Transhumanismus, zumindest wenn es weiterhin demokratisch zugehen soll. Aber die ist noch nicht da.

Erfasst werden kann deswegen zunächst nur, was verloren geht: Würde, Selbstbestimmung und Eigentum, das hatten wir schon. Aber auch die Nation oder Identität und damit der Nationalstaat und die – bisher ach so geliebten – Grenzen. Dem Green Pass dürfte die nationale oder staatliche Zugehörigkeit egal sein, der nationale Pass, einst Symbol der Staatenwelt, wird zum Relikt vergangener Zeiten.

Sowie alle anderen Identitäten, über die in den letzten Jahren der Identitätspolitik so gestritten wurde: Nicht trivial für das zukünftige (un-)demokratische Geschehen ist also, dass der digitale Impfpass durch die Hintertür sämtliche Identitäts- und Zugehörigkeitskonzepte überlagert, die in den letzten Jahren en masse in den Demokratien des Westens diskutiert wurden: divers, jüdisch, migrantisch, homosexuell, transgender. Race, class, gender: Alles wieder egal!

Der gemeinsame Nenner ist der digitale grüne (Impf-)Pass, der damit eigentümlich identitätsstiftend ist in Gesellschaften, deren Homogenität in den letzten Jahren durch Individualisierung und Wokeness arg strapaziert wurde. Die Gesellschaft der Singularitäten (Andreas Reckwitz) wird zusammengeklammert durch 2G: Hauptsache geimpft, heute gegen CORONA, morgen gegen etwas anders. Man möchte die neue Einheit im fast universellen Sinn begrüßen, wenn die Substituierung der Ausgrenzung nicht so verblüffen würde: ausgegrenzt werden jetzt freie, gesunde Menschen, egal welcher Herkunft, die sich nicht impfen lassen und die nichts anderes tun, als auf ihrer Freiheit und ihrer körperlichen Selbstbestimmung zu bestehen – also auf Würde und Mündigkeit –, und die sich digitaler Bewegungskontrolle entziehen wollen.

Damit liegt das Paradoxon für die neue Demokratie in ihrer dystopischen Varianz schon auf dem Tisch: Frei ist nur noch, wer sich in die – körperliche und geistige – Unfreiheit begibt.

Dies ist die vielleicht fundamentalste Umkehrung des demokratischen Prozesses. Der demokratische Staat, einverleibt – und mithin abgeschafft – im grenzenlosen digital-biometrischen Komplex, ist nicht mehr dafür da, die Freiheit des Einzelnen zu garantieren, sondern den Einzelnen durch körperliche Vernetzung qua digitaler Ausweise (Impfpflicht!) zum Schutz des anderen – und mithin alle voreinander – zu schützen.

Foucaults These, wonach das, was heute auf dem Spiel steht, das Leben selbst ist und deswegen alle Politik Biopolitik wird – schlimmer noch: in dem die Politik nichts mehr zu sagen und der Staat nicht mehr das Gewaltmonopol hat –, trifft also zu. Der im Gewand der Wissenschaftlichkeit auftretende, biologische Lebensbegriff ist aber ein säkularisierter politischer Begriff, um nicht zu sagen, ein apolitischer Begriff und nur als solcher für den autoritären Kapitalismus interessant. Hegel hatte also recht, als er voraussah, dass der Kapitalismus sich den Staat einverleiben würde! Der autoritäre Kapitalismus tut genau das, in dem er sich jetzt die politischen Subjekte des Staates zu Untertanen macht. Keine Revolte, keine Revolution: Die staatliche Hülle bleibt bestehen oder auch nicht. Doch die Herauslösung des biologischen, des nackten Lebens aus den politischen Lebensformen ist eine fundamentale Attacke auf die Würde des Individuums und deswegen die Negation des Politischen schlechthin.

Wenn, im Sinne von Joseph Beuys, dem Menschen das Kreative genommen wird und individuelle Antworten nicht mehr möglich sind, dann erlischt seine schöpferische Transzendierungsfähigkeit und mithin auch der Raum des Interesses, also des Politischen. Und wenn Hannah Arendt sagte, Politik heißt Welt teilen, dann hatte sie sicherlich keine vernetzten BCIs im Sinne.

Die Kernfrage einer politischen Theorie und einer politischen Praxis im Zeitalter des digital-biometrischen Komplexes ist also die nach der schieren Möglichkeit des Politischen. Anders formuliert: Kann es überhaupt eine politische Lebensform geben, in der es in seinem Leben (nur) noch um das Leben selbst geht? Denn unsere Beziehung zur (Außen-)Welt wäre dann aufgekündigt.