Der Impfpass als Türsteher des autoritären Kapitalismus

Seite 4: Das Leben selbst zur politischen Lebensform machen

Die Verbindung der sichtbaren und unsichtbaren Welt aber ist die Schwelle, an der der Mensch stehen muss, jener Verbindung zwischen Himmel und Erde, die er sich nicht erklären kann. Wenn wir an dieser Schwelle nicht mehr stehen, ja, die Schwelle negieren, wird alle Politik notwendigerweise totalitär, denn dann ist sie auf das nackte Leben beschränkt, auf den Raum der realen Möglichkeit, auf das Sichtbare und das Pragmatische, also auf das Hier und Jetzt ohne Mysterium: ein Raum, in dem man sich aber nur im Kreis dreht.

Gute Politik ist darum immer Orientierung an der Unmöglichkeit, am Imperativ eines Denkens, dass die Dinge doch eigentlich ganz anders sein sollten. Genau das ist das Politische.

Es sollte darum klar sein, dass die Maxime, das Leben selbst zur politischen Lebensform zu machen, die gesamte politische Theorie abräumt. Neomarxistisch gesprochen hieße es: eine politische Daseinsform ohne (staatlichen) Überbau. Wer wo lebt, wählt oder Steuern zahlt, alles Bausteine des modernen Nationalstaates und seiner "No taxation without representation"-Formel, also die klassische Formel von Mitbestimmung gegen Steuern, ist dann auch egal.

Wo eine Demokratie, so es sie gäbe, dann ihre Verortung finden soll, ist völlig unklar, wenn der global normierte, digital-biometrische Pass, eingehüllt in das Parfüm transhumanistischer Freiheit, zum Türsteher des autoritären Kapitalismus wird.

In diesem technologisierten, aseptisch-sterilen Biedermeier oder Neopuritanismus, einem nicht-mehr-so-ganz freiheitlichen Dasein, und zugleich sauberen Leben, sind wir längst angekommen. In den letzten zwei Jahren galt es, sich gegen das Virus die Hände zu desinfizieren und sich gleichzeitig gegen rechte Diskurse zu wappnen, die eben diese Desinfektion infrage stellten.

Das Leben reichte während des Lockdowns nur bis zum eigenen Fenster und dem Blick auf die Straße (wenn man überhaupt einen hatte). Der Kontakt zur Außenwelt war rein virtuell und mithin letztlich fiktiv. Die Entkoppelung der kognitiven von der physischen Welt gelang schon nahezu perfekt. Per Zoom konnte man überall auf der Welt präsent sein, ohne die eigene Umgebung überhaupt wahrzunehmen.

Die neue Privatézza – ein Wohnen, Dämmern, Lügen – im Sinne von Botho Strauß, war der Versuch einer bindungs- und beziehungslosen Politik, die als Solidarität verkauft wurde, eigentlich aber Egoismus derjenigen war, die es sich leisten konnten, zu Hause zu bleiben – was nicht oft genug wiederholt werden kann. Das staatliche verordnete und auch noch moralisch legitimierte "Gardine zu!" ("stay home!") kann darum als größte Privatisierungsaktion des politischen Raums in der Geschichte bezeichnet werden, also als Entpolitisierung. Politik wurde von Gestaltung degradiert zur Verwaltung eines Notstands beziehungsweise zur Sicherung von Schutz und Versorgung.

Es war der Sargnagel für Hoffen, Träumen, Glauben, die Triebfedern des Politischen, wobei am entpolitisierten Sarg bereits lange zuvor gezimmert wurde. Jede Idee von Politik als gesellschaftlicher, nichttechnologischer Transformation wurde schon in den vorausgehenden Jahrzehnten aufgegeben.

Der Topos der simulativen Demokratie, respektive der Postdemokratie, ist darum schon lange Gegenstand der Politikwissenschaft, als Beschreibung des Erschöpfungszustandes der Demokratie und der Abwicklung ihres progressiven Charakters.

Die Postdemokratie nennt sich am liebsten "konsensuelle Demokratie". Die herrschende Idylle schützt davor, sich um politische Ziele zu streiten. Die simulative Demokratie ist hochgradig eventisiert ("Demokratie-Festivals"!), in ihr zählt Form mehr als Funktion. Der Streithandel des Volkes wurde abgeschafft, stattdessen wird auf "We-Move" geklickt.

Der "Konsens" bildet die meritokratische Mitte ab. Sozialer Fortschritt wird sublimiert durch vermeintliche Partizipation. Mitreden als demokratische Selbstinszenierung erscheint wichtiger als reale Ergebnisse im Sinne der Gerechtigkeit. Denn realiter beschleunigt Partizipation durch Konsens gut ausgebildeter Mittelschichten bei gleichzeitigem Rückzug der Modernisierungsverlierer aus der politischen Willensbildung die sozialen Spaltungsprozesse.

Die Coronamaßnahmen, stets abgesegnet von stabilen Zweidrittelmehrheiten, und zwar jenen, die ökonomisch gut durch die Krise gekommen sind, unter Inkaufnahme der sozialen Schädigung des unteren Quintels, sind ein Paradebeispiel für diesen Prozess. Die formale Demokratie ist der Schein, hinter dem die Macht der bürgerlichen Klasse ausgeübt wird, schreibt Rancière.

Wenn diese bürgerliche Mehrheit jetzt über asymmetrischen Machtzugang zum Beispiel eine Impfpflicht "nur" für Pflegepersonal durchsetzen sollte, weil die allgemeine Impfpflicht vielleicht doch noch blockiert wird, man aber politischen Tribut zahlen muss an die Agenda der Lebensrettung ("wenigstens das haben wir durchgesetzt"), dann könnte das exemplarisch stehen für das, was es ist: eine perfide Entdemokatisierung und Refeudalisierung zugleich.