"Der Islam sagt Ja zum Leben"

Seite 2: Der Prophet verglich den Sex mit einem Gottesdienst

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Was hat dann dazu geführt, dass heute in weiten Teilen der islamischen Welt dieses Thema tabuisiert wird?

Ali Ghandour: Das ist eine schwierige Frage und ein komplexes Thema. Die Forschung ist hier noch in ihren Anfängen. Ich glaube, wir haben noch nicht das Ausmaß der radikalen Transformation in der Denkweise der Muslime und vor allem im theologischen Denken der letzten 200 Jahre begriffen. Diese Transformation hat viele Ursachen, wie z. B. den Kolonialismus, das Aufkommen der Moderne mit all ihren Facetten, aber auch innermuslimische Diskurse.

Wissen Sie, die Moderne galt als eine Zeit der Eindeutigkeit und der klaren Kategorien. Als die Muslime von diesem Wahn betroffen wurden, kam es zu einer degoutanten Ideologisierung des Islams. Die Religion, die früher aus ihrer Vielfalt ihre Vitalität generierte, wurde dann allmählich zu einer Ideologie oder zu einem Gebilde, das man meint, endgültig verstanden zu haben. Diese Denkweise teilen sowohl die Reformdenker, zumindest jene des 20. Jahrhunderts, als auch radikale Ideologen. Und ja, auch viele Gelehrte, von denen man denkt, sie wären noch auf der Traditionslinie, haben sich in der Wahrheit längst von der vielfältigen Tradition abgeschieden.

Wie war der Umgang des Propheten Muhammad bei diesem Thema? Sie führen in Ihrem Buch einige Beispiele an. Können Sie uns ein paar nennen?

Ali Ghandour: Der Prophet lehrt uns, dass der Sex in seinen vom Islam vorgesehenen Rahmen sowie die Freude daran etwas Schönes ist. Der Sex in den prophetischen Lehren ist keine Tat, die den Menschen von Gott entfernt oder ablenkt, wie es bei manchen Religionen der Fall ist. Der Prophet ging sogar so weit und verglich den Sex mit einem Gottesdienst. Von ihm haben wir heute Überlieferungen, in denen z. B. alle Sexpositionen erlaubt werden. Das klingt für unsere postmodernen Ohren heute ganz banal, aber für die damalige Zeit und in vielen Kulturen war es nicht selbstverständlich, eine andere Position als die Missionarsstellung zu praktizieren.

Er lehrte auch, dass sowohl der Mann als auch die Frau das gleiche Recht am sexuellen Genuss haben und dass der Sex kein Akt der Befriedigung für den Mann allein ist. In meinem Buch habe ich auch eine Überlieferung einer Frau gebracht, die zum Propheten kam, um die Scheidung von ihrem neulich geheirateten Mann zu verlangen. Ihre Begründung war, ich zitiere: "O Gesandter Allahs, er hat einen Penis wie einen Saum" und dabei nahm sie einen Saum von ihrem Kleid. Der Gesandte Allahs hat daraufhin nur gelächelt und riet ihr erstmal, dem neuen Mann eine Chance zu geben und den Sex mit ihm zu probieren, dann kann sie sich scheiden lassen, wenn sie das noch will. Würde heute eine Frau zu einem Imam gehen und ihm sagen, dass ihr Mann sie nicht befriedigt, dann würde er ihr sicherlich nicht mit einem Lächeln begegnen.

Gab es verstörte Reaktionen seitens der Muslime, als Sie dieses Buch herausgebracht haben? Wurden Sie vielleicht sogar in Frage gestellt?

Ali Ghandour: Die meisten Reaktionen waren bis jetzt positiv. Besonders die junge Generation zeigt großes Interesse an der Thematik, was mich in meiner Arbeit bestätigt. Allerdings höre ich manchmal hier und da Kritiken, die aber nicht sachlich oder wissenschaftlich sind.

Die Infragestellung von bestimmten Denkweisen, die mir heute obsolet scheinen und nichts mit unserer eigenen Tradition zu tun haben, wird von manchen Kreisen als eine Infragestellung der eigenen Macht wahrgenommen. Sex, Religion und Politik waren immer rote Linien, die man nicht ohne Folgen überschreiten darf und kann. Diese aus der viktorianischen Zeit importierte Prüderie, die von vielen Muslimen als ein immer da gewesenes Verhaltensmuster imaginiert wird, ist u.a. ein Produkt der These, dass die Lust des Menschen der Ratio und der Wissenschaft im Weg steht. Aus diesem Grund wollen manche Muslime einen Islam für Roboter, aber nicht für Menschen, die Höhen und Tiefen haben. Allerdings bin ich eher an den bestehenden Problemen unserer Gesellschaft und an der Wissenschaft interessiert und nicht an der Verformung des Menschseins der Muslime.

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