"Der Kapitalismus ist ein hungriger Kannibale"
- "Der Kapitalismus ist ein hungriger Kannibale"
- Wer setzt sich gegen den Kapitalismus ein?
- Auf einer Seite lesen
Die US-Philosophin Nancy Fraser über multiple Unterdrückungen im allesfressenden Kapitalismus und den Stand der Dinge – was dagegen zu tun wäre.
Kannibalismus ist offensichtlich die Metapher der Stunde. Erst kam der linke, romantische Kannibalenfilm "Bones and All" des Italieners Luca Guadagnino ins Kino (Fressen und gefressen werden: Kannibalismus zu Reagans Zeiten) und dann veröffentlichte die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser ihre kritische Gesellschaftstheorie in ihrem neuen Buch "Cannibal Capitalism. How Our System Is Devouring Democracy, Care, and the Planet".
Auf Deutsch heißt es "Der Allesfresser: Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt" und wird im Frühjahr im Suhrkamp Verlag erscheinen.
Nur wenige Monate zuvor war Fraser bereits in Berlin, um bei der "Walter-Benjamin-Konferenz" 2022 drei Tage hintereinander im überfüllten HKW-Saal eine Vorpremiere ihrer Thesen zu geben.
In einer Welt, die gerade von einer Flut aus Kriegen, Krisen und Elend bedroht ist, argumentiert Fraser, dass es eine gemeinsame Quelle für all unsere Probleme gibt – den kannibalischen Kapitalismus, der, bevor er seine eigenen menschlichen und natürlichen Quellen verschlungen hat, bereits an den Nachtisch denkt.
Wer ist überhaupt Nancy Fraser?
Mit ihren 75 Jahren ist Nancy Fraser Henry A. and Louise Loeb Professor of Political and Social Science und Professorin für Philosophie an der New School in New York. Nach langer Karriere wurde sie 2003 breiter bekannt, nachdem Suhrkamp ein Gespräch zwischen ihr und Axel Honneth unter dem Titel "Umverteilung oder Anerkennung?" veröffentlichte.
Damals machte sie sich unter Feministinnen einen Namen, indem sie den vermeintlichen Gegensatz zwischen sozialen Kämpfen für eine egalitäre wirtschaftliche Umverteilung und identitätspolitische Forderungen nach Anerkennung geschlechtlicher und ethnischer Unterschiede auflöste.
Für Fraser verstärken sich diese Kämpfe gegenseitig (man bedenke etwa, dass der Druck der Covid-19-Krise auf die Familienwirtschaft die Frauen stärker traf als die Männer).
Nieder mit dem Silicon-Valley-Feminismus!
Mit der Zeit bemerkte Fraser, dass ein Teil des zeitgenössischen Feminismus seine Aufmerksamkeit nur noch allein auf das Thema Anerkennung lenkte, während der Klassenkampf in den Hintergrund rückte.
So veröffentlichte Fraser 2019 ein Manifest mit dem Titel "Feminismus für die 99 Prozent", in dem sie dazu aufrief, einen Feminismus zu schaffen, der sich mit der Realität der arbeitenden Frauen und nicht nur mit der Wirklichkeit der brandneuen CEOs der Megakonzerne befasst.
Und wenn die neuen Bosseninnen des Silicon Valley dann T-Shirts von H&M mit dem Slogan "The Future Is Female" tragen, so wurden sie höchstwahrscheinlich von ihren lateinamerikanischen Dienstmädchen gewaschen und gebügelt, die kaum mehr als den Mindestlohn verdienen.
Frasers Beziehung zur deutschen Intelligenz
Wer im Juni in Berlin war, konnte auf der Straße Plakate sehen, die Frasers Ankunft bei den "Benjamin Lectures" ankündigten, als wäre sie ein Rockstar.
Frasers Beziehung zur deutschen Intelligenz hat eine lange Geschichte: Ausgebildet inmitten des Civil Rights Movement, der Anti-Vietnamkriegsbewegung und der Suche nach einem neuen, zeitgemäßen Marxismus, trat Fraser in den Orbit der Frankfurter Schule ein, indem sie sich auf das ursprüngliche Projekt von Adorno und Horkheimer einließ - die Kritik des Kapitalismus über sein Verständnis als Produktionsweise hinaus zu vertiefen.
In den 1990er Jahren wurde sie als Gegnerin von Habermas dargestellt, nachdem sie eine Kritik von dessen "Strukturwandel der Öffentlichkeit" veröffentlichte. Fraser stellte Habermas' idealisiertes Bild der bürgerlichen Cafés infrage, aus denen sich die Öffentlichkeit entwickelt hatte. Habermas ignoriere, so Fraser, Zugang und Zulassungsrecht, das Frauen, Schwarze und Arme von der freien Debatte ausgeschlossen habe.
Obwohl es sich nach ihren eigenen Worten immer um eine "Immanente Kritik" im Stil Kants handelte, war es gerade das demokratische Potenzial der ursprünglichen Idee, das für Fraser die Notwendigkeit begründete, die Kritik an den Grenzen der "real existierenden" Demokratie zu vertiefen.
Mehr als 30 Jahre später trugen nun ihre Vorlesungen am HKW den Titel "Three faces of capitalist labor: Uncovering the hidden ties among gender, race and class", der weit über die feministische Perspektive hinausgeht. Ein überwiegend junges Publikum, eine Mischung aus "Berghain"-Bohème und "Fridays For Future"-Bürgerkindern, hörte ihr begeistert zu, als sie über Kapitalismus sprach, "aber nicht in dem Sinne, wie dein Großvater darüber redete".
In drei Vorlesungen entwickelte Fraser eine Neukonzeption der verschiedenen Formen von Arbeit – nicht mehr nur ausgebeutete Arbeit im marxistischen Sinne, sondern auch durch rassische (oder imperialistische) Herrschaft enteignete und durch männliche Herrschaft domestizierte Arbeit.
Der hungrige Kannibale Kapitalismus
Ein Teil dessen, was Fraser in ihrem neuen Buch sagt, ist klassisches Wissen: Der Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern er hat sich zu einer sozialen Ordnung entwickelt, die alle Lebensbereiche durchdringt. Besonders interessant ist das Bild des Kapitalismus als eines "hungrigen Kannibalen", der nicht nur die Arbeit, sondern auch das Leben und die Natur, die uns umgibt, verschlingt.
Die Wirtschaft hat inzwischen ein unheilvoll widersprüchliches Verhältnis zu ihren lebenswichtigen Quellen erlangt: zur Sorgearbeit, der Enteignung von rassifizierten Menschen, dem Reichtum, den öffentlichen Gütern, der Staatsmacht oder der Natur. Heute, inmitten der weltweiten Wirtschaftskrise, werden die Widersprüche in jedem von ihnen deutlich.
Die mehrfachen gleichzeitigen Krisen dürften zu einem Wachsen der Kapitalismuskritik führen. Einerseits glaubt niemand mehr an das Trickle-Down-Versprechen, dass, wenn es den Reichen gut geht, wir alle davon profitieren. Andererseits haben die Menschen genug von Multikulturalismus und Identitätspolitik.
Frasers Perspektive ist eine Antwort auf die weit verbreitete Fragmentierung, die ökologische, reproduktive, politische, rassistische und imperiale Themen unter dem Dach des Antikapitalismus vereint. Es geht nicht um "Intersektionalität", die die vorübergehende Romanze zwischen Kapitalismus und Patriarchat beschreibt, sondern das Buch erklärt mutig, wie der Kapitalismus die Grundlage für multiple und gleichzeitige Unterdrückungen ist.
Die Tatsache, dass der Kapitalismus einen besonderen Platz in ihrem analytischen Rahmen einnimmt, hat in der feministischen Intelligentsia viele Wellen geschlagen und Widerspruch provoziert. Selbst Judith Butler hat ihr vorgeworfen, Fragen der Geschlechtsidentität auf eine kulturelle Frage zu reduzieren.
Im Lichte von Covid-19 erscheint das Buch wie eine sich wiederholende Diagnose, aber interessant ist, dass es vor der Krise im Gesundheitswesen geschrieben wurde. Die Autorin fügte einen abschließenden Epilog zu diesem Thema hinzu, der eine praktische Demonstration der gesamten Theorie zu sein scheint.
Was die Fledermäuse mit diesem Vermittler in Kontakt gebracht hat und letztere mit uns, sind die kombinierten Auswirkungen der globalen Erwärmung und der Abholzung der tropischen Wälder. Beide Prozesse sind das Ergebnis des Kapitals, das von seinem unersättlichen Hunger nach Profit angetrieben wird.
Nancy Fraser
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.